Carnevale in Venezia

 

Schweißgebadet wachte der völlig überarbeitete Giancarlo an seinem Schreibtisch aus einem wirren Traum auf. „Carnevale in Venezia. Lorettas Lachen. Ob sie da schon einen Liebhaber gehabt hatte?“ Sinnlose Fragen frickelten sich um die Sekunde, als sie einander für immer verloren, zerronnene Zeit… Er war auf der Hauptstraße noch nicht weit gekommen. Hatte es nicht eilig. Genüsslich kippte er das erste Pils an einer freien Theke. Eigentlich war er Weintrinker, doch wo sollte man hier guten Rotwein herbekommen? Volksdroge Nummer Eins war in dieser Region blond. Wenn er die Finger vom Weizen ließ, konnte nicht viel schieflaufen.

»Hier habe ich einen geflochtenen Benjamin. Typ Heidi«, die schmeichelnde Stimme des Blumenversteigerers Karl Bauer riss Giancarlo aus seinen Gedanken.

»Dazu gebe ich ihnen noch eine Palme, dazu noch eine Yucca, ein Alpenveilchen, eine Selena, die Königin der Nacht. Sie dürfen das Veilchen nur am Fuß der Alpen gießen. Selena dagegen von oben. Alle Blumen für 20 Euro.«

Niemand trat nach vorne. Sie waren gebannt. Alle wollten diese Stimme hören. Der Stimmen– und Stimmungsimitator hätte auch das Telefonbuch von Herne vorlesen können, sie hätten ihm alle gerne dabei zugehört.

»Das ist fast geschenkt!« Karl Bauer schwenkte die Pracht in seinen Armen hin und her, studierte die Gesichter im Publikum, wusste aus langjähriger Erfahrung, dass er noch nachlegen musste und griff nach einer weiteren Pflanze.

»Niemand will diese herrlichen Blumen kaufen? Dann lege ich noch einen drauf! Diese Pflanze habe ich aus der inneren Mongolei mitgebracht. Auch Pusch–el–Wusch genannt. Damit brauchst du keinen Teddybär.«

Eine Frau schwenkte die Geldbörse über ihrem Kopf. Näherte sich dem Ansager. Unter dem fluoreszierenden Licht des Blumenwagens wirkte die ältere Dame mit ihre weißen Haaren kaiserlich. Karl Bauer überreichte ihr die Pflanzen so, als wolle er sie krönen.

 

 

Fortsetzung folgt.

***

Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

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In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.