Kirmesboxer

 

Der Gong ertönte. Jacqueline und ihr Gegner begrüßten sich in der Mitte durch ein Abtasten mit den Handschuhen. Sie sah ein freundliches Zwinkern in seinen Augen. Antwortete mit einer Rechts–Links–Kombination. Er wusste, dass er sich nicht zurückzunehmen brauchte, und konnte endlich mal aufdrehen.

Der Boxer visierte sie über seine Fäuste hinweg an. Die ersten Treffer waren ein Hammer. Ihr blieb die Luft weg. Endlich mal ein ebenbürtiger Gegner. Jacqueline wusste, sie konnte nicht gewinnen, aber sie hoffte, die Schläge würden den Kopf für die kommende Nacht wieder klar machen. Vielleicht würde ihr der Boxer allen Hass aus dem Leib prügeln. Vielleicht konnte sie dann das weiße Kaninchen liebevoll streicheln. Ganz liebevoll. So, wie sie es noch nie getan hatte, zärtlich.

Der Boxer stierte sie mit dem Tunnelblick an. Auch er wollte seinen Spaß haben. Griff ihr mit den Boxhandschuhen unter die Theke. Hob sie leicht an. Das Publikum johlte. „Er nimmt mich nicht ernst…“, schoss es ihr durch den Kopf. „Der Wixer spielt mit mir.“ Sie hatte im Lauf ihres Lebens keine andere Möglichkeit entwickelt, ihre Demütigungen zu verarbeiten, es ging mit ihr durch: „Jetzt bist du reif, Scheiß Kirmesboxer! Heumacher!! Schlappschwanz!!!“, bohrte sich der Hass durch ihre Schädeldecke. Abscheu war ihre Energiequelle. „Wie kann man sonst auch auf einem mit Kot vollgeschissenen Planeten leben?“ Die Watte wich aus dem Kopf.

In der ersten Sekunde war er über Jacquelines neuerliche Attacke erstaunt, aber dann verzog sich sein Gesicht zu einem wissenden Grinsen. Zog die Doppeldeckung hoch, hing in den Seilen und kassierte die Schläge unter dem Johlen des Publikums. Wand sich um die Fäuste herum. The show must go on.

Jacqueline verpasste ihm ein paar Schläge auf die Rippen und erwischte dabei die Nieren. Ein Schlag, den der Ringrichter leider übersah. Es schmerzte den Boxer. Er ging aus sich heraus, verpasste Jacqueline ein paar gezielte Schläge an den Kopf. „Gut, wenn du es auf die harte Tour willst, dann sollst du es haben.“ Er jagte sie durch den Ring, seine Gegnerin keuchte, aber sie blieb auf den Beinen.

Adrenalin stieg aus der Nebennierenrinde auf. In ihrem Schädel pulsierte das Blut. Nur der maßlose Zores auf den Boxer hielt sie aufrecht. Sie sah in seine Augen, als er seine Attacken auf sie bremste. „So leicht kriegst du mich nicht da hin, wo hin du mich haben willst!“, dachte Jacqueline, und ein höhnisches Grinsen fräste sich in ihr Gesicht. Dennoch krampfte sich ihr Magen unabsichtlich zusammen, als sie wie in Zeitlupe sah, dass der Boxer sie leichtfüssig umtänzelte. „Ich habe dem Kaninchen zu fressen gegeben“, dachte sie. Der Boxer machte noch einen Schritt auf sie zu. „Ich kann auch ein guter Mensch sein.“ Sie standen sich Auge in Auge gegenüber. Vom letzten Kampf waren in seinen Augen die Äderchen geplatzt. Er zog seinen Mundschutz fester. Spuckte aus. Jacqueline hing in den Seilen. Das Publikum applaudierte. Der Ringrichter nahm ihr die Handschuhe ab.

»Gut gekämpft«, merkte er an, verneigte sich und hielt die Seile hoch, damit die nächsten Kämpfer den Ring betreten konnten. Jacqueline stellte sich wie zufällig neben das Gothic–Girl und den postpubertären Punk. Kaum war sie unten, wurden die nächsten Fighter vorgestellt.

 

 

Fortsetzung folgt.

***

Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

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In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.