Getz‘ geht’s looooos

 

Die Menschen in Wanne–Nord erwachten am letzten Tag der Kirmes schneller. Während die Dämmerung über dem Rummelplatz lag, waren die ersten schon wieder unterwegs. Schlurften zur Maloche, blass im Gesicht, dunkeläugig, mit Schlaf in den Augen. Grau und geduckt waren die Häuser dieser Stadt, grau und verkrümmt die Strassen. Stimmungsvolle Verlassenheit. Die Wirklichkeit war hier ein Virus, der das Leben ansteckend machte.

Petra Kauss brühte den Frühstückskaffee und schmierte die Kniften. Reiner, ihr Mann, vergrub sein mürrisches Gesicht hinter der Zeitung. Petra war froh, dass ihre drei Kinder den Trubel gut verkraftet hatten. Sie liebte die Kirmes. Wenn Reiner von der Arbeit nach Hause kam, ging er mit seiner Familie über die Cranger Kirmes. Sie testeten türkische, französische und asiatische Spezialitäten. Ihre Küche blieb sauber. Kein Fettspritzer an den Kacheln. Kein lästiges Ofensäubern. Keine Plärrerei, wem sein Lieblingsessen zustand. Grossmutter hatte für ihre drei Enkel ein saftiges Taschengeld springen lassen, das kaum Wünsche offenliess. Petra seufzte. „Wie sollten die Kinder lernen zu wirtschaften?“ Die Maschine sprotzte die letzten Tropfen des heißen Kaffees heraus. Petra stellte die erste Tasse für ihren Ehemann auf dem Tisch ab.

»Die Clique ist nach der Kirmes beim Italiener. Deine Mutter hat versprochen, uns die Kinder dann abzunehmen. Gehen wir hin?«

Ihr Mann hörte zu, war aber nicht ansprechbar. Er studierte den Sportteil der Zeitung, schlürfte und brummte zustimmend.

»Okay, ich freue mich.«

Sie küsste ihren Mann zärtlich zum Abschied. „Ja gut…“, ging es ihr durch den Kopf, „…wir werden es nie weit bringen, aber wir haben uns, ich werde ihn noch lieben, wenn eine Klimakatastrophe kommt, wenn seine Haare weiß werden und sein Gang alt, und zittrig seine Hände.“ Petra goss sich Kaffee ein. Als ihr Mann aus dem Haus war, las sie die WAZ. Wenn an manchen Tagen nichts Wesentliches in der Zeitung stand, auf eins war Verlass: Comics von Charles M. Schulz. Wahrscheinlich würden Comics als einzige kulturelle Leistung des 20. Jahrhunderts im Menschheitsgedächtnis haften bleiben.

Morgenstille. Die ersten Sonnenstrahlen fielen in die gemütliche Küche und tauchten die hellen Möbel in wohlige Freundlichkeit. Der kleine Robin brach an diesem Morgen alle Rekorde. Er patschte mit nackten Füßen durch den Flur, lehnte sich an den Rahmen der Küchentür und rieb sich die Augen.

»Ist die Kirmes noch da!«, erkundigte er sich mit seinem besorgten Gesichtsausdruck.

»Willst du wohl wieder ins Bett gehen?« Petra schreckte hinter der Zeitung zusammen.

»Ich kann nicht mehr schlafen. Ich will wissen, ob die Kirmes noch da ist? Gehen wir nachher wieder Eis essen und Karussell fahren und Pizza essen und alles…?«

Auch wenn sie sich das Lachen nicht verkneifen konnte, nahm Petra ihren Jüngsten auf den Arm und sah ihn streng an.

»Sicher doch!«, sagte sie mit einer Gewissheit, die nur Mütter haben können, und brachte ihren Filius zurück ins Bett. Robin schloss zufrieden seine Augen. Petra konnte sich wieder ihrer Lektüre zuwenden. Für sie waren diese Minuten die schönste Zeit des Tages. Sie würde sich ihren Frieden nicht durch Maulereien zerstören lassen. Bald würde im Kinderzimmer der Wecker anschlagen und das Gerangel um den ersten Platz im Badezimmer beginnen. Sie schlürfte ihren Kaffee. Knabberte am erkalteten Toast. Die Zeit konnte zu dieser Zeit einfach nur vergehen, ohne dass sie sich über das Vorübergehen auch nur einen überflüssigen Gedanken machen musste.

»Ist die Kirmes wirklich immer noch da?«

Petra schob die Zeitung erstaunt an die Seite, als sie ihre Töchter sah. Zeichen und Wunder, sie waren freiwillig aufgestanden.

»Wo bleibt der Kakao? Oder wird der noch aus Asien eingeflogen werden?«, maulte Patricia.

»Dumme Ziege! In Asien gibt es gar keinen Kakao. Nur Reis«, schlaumeierte Saskia und knallte ihrer Schwester die Badezimmertür vor der Nase zu.

»Muss ich mir das freiwillig antun?«, lederte Petra los, klatschte die Zeitung auf den Tisch.

»Getz‘ geht’s looooos!«, freute sich Robin und meinte nicht die Deutschstunde in der Schule.

 

 

Fortsetzung folgt.

***

Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

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In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.

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