Butzenscheiben

 

Giancarlo versuchte die Zerrissenheit der Geschichte im Abgrund des eigenen Leibes auszutragen. Litt an Fernweh nach vertrauten Verhältnissen. Betrachtete die Umgebung mit dem gnadenlosen Blick eines Ethnologen. Die Welt war politisch korrekt geworden. Niemand niemand wagte es, den Mund aufzumachen. Hier mochte man Menschen nicht, die gelitten haben, man bedauerte sie. Man mochte auch die Verrückten nicht, man bedauerte sie. Man wollte keine Irrenanstalt in der Nachbarschaft haben. Alle hatten Angst vor allen, sie kuschelten sich aneinander und redeten über Sex, als wäre es ein seltsamer Extremsport für ein paar Durchgeknallte. Litten unter einer gewaltigen Repression, hassten diesen Zustand, aber sie hatten zu viel Angst, ihn zu verändern. Lebten in einer heimlichen Diktatur, waren Opfer einer massenpsychologischen Verschwörung. Durften das Unsagbare nicht mehr sagen. Giancarlo schlenderte an den Bauernhäusern in Alt–Crange vorbei und begriff endlich, warum die Deutschen sich nach einem Heiligen Römischen Reich sehnten und glaubten mit rekonstruierten Butzenscheiben Einblicke in ihre mittelalterliche Seele geben zu müssen.

 

 

Fortsetzung folgt.

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Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

Weiterführend →

In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.