Spinderella

 

Jacqueline ließ sich durch die Menge treiben. Eine Spinderella, die sich um sich selbst drehte. Massen von schwitzenden Leibern drängten an ihr vorbei, um sich zu amüsieren, stürzten haltlos auf Begehrlichkeiten zu. Jacqueline atmete eine Mischung aus dampfendem Schweiß, billigem Parfum, verbranntem Gummi und angebrannten Mandeln ein. Trank die letzte Dose aus dem Six–Pack. Ein Faktotum mit eingebautem Airbag über den Shorts trat ihr über die Zehen.

»Widerliches Ekelpaket!«, rief sie ihm nach und passierte das Cranger Tor. Diese Stahlkonstruktion war eine Arbeit des Erbauers Constantin Costaras; der Treffpunkt, falls man einander verlor. Die erste Nacht gehörte Schaustellern und Wanner Bürgern. Es war nicht selten, dass die Artisten über die Jahre Freundschaften mit Einheimischen begründet hatten und die Wanner ein Zimmer frei machten, um den Besuchern Gastrecht zu gewähren. An Schlaf war jedoch zu dieser Zeit kaum zu denken. Es zog jedermann unwiderstehlich in die Budengassen. Die Augusthitze hatte Jacqueline frühzeitig aus dem Haus getrieben. Sie hatte sich im Friseursalon Albrink die Haare nachdunkeln und die Spitzen schneiden lassen. Der Salon am Cranger Tor war in der dritten Generation für das Kirmesvolk der Haus–und–Hof–Friseur. Mit vielen Schaustellern verband Theo Albrink, der den Laden von Theo Senior übernommen hatte, ein herzliches Verhältnis. Die ansässigen Geschäftsleute waren in Crange mit der Kirmes groß geworden. Früher waren sie zu dieser Zeit oft in den sechs Wochen der Ferien hier und hatten mit den Kindern der Schausteller gespielt, auch Jacquelines Bande wuchs zur Kirmeszeit um zehn Mädchen an. Die Kinder hatten nach einer Weile die Geschäfte übernommen, deshalb sah Jacqueline jedes Jahr nach, was aus wem geworden war.

 

 

Fortsetzung folgt.

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Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

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In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.