Eine Erinnerung an Valery Popov

 

Ein herrlich sonniger Oktobertag 1994 in dieser wunderschönen Stadt St. Petersburg. Vorher angekündigt traf ich mit der Tochter unseres PEN-Mitgliedes Dr. Peter Marginter zu einem kurzen Besuch, wie ausgemacht war, bei Familie Popov ein. Es ging um PEN-Angelegenheiten. Aus dem kurzen Besuch wurde ein langer von 16 Uhr bis um Mitternacht, als wir uns auf mein Drängen endlich verabschiedeten. Und das war kein bloßer Höflichkeitsbesuch bei einer Tasse Kaffee, sondern ein Erlebnis russischer Gastfreundschaft mit einem Festessen und mit viel Wodka, den man – immer einander zuprostend – aus halbvollen Wassergläsern trank. Der Tisch war mehr als reich gedeckt mit allem, was man an anzubieten hatte. Natürlich gab es Trinksprüche auf die Freundschaft, auf die zwischen uns als physischen Personen, aber auch auf die zwischen allen Völkern der Welt. Ich kannte diese Ostblockliturgie als einen fixen Bestandteil solcher Begegnungen noch vor der „Wende“. Flasche um Flasche wurde geleert, ich hielt mich sehr zurück, was aber nicht viel nützte, denn bei einer solchen Festivität über so viele Stunden kommt doch einiges zusammen. Als wir von diesem reichlichen Buffet in der Zeit von zwei bis drei Stunden ausgiebig gegessen hatten, wollte ich aufstehen, mich bedanken und mit meiner Begleiterin gehen. Aber Frau Dr. Marginter, die perfekt Russisch spricht, damals in St. Petersburg an der Universität als Lektorin arbeitete und zusammen mit Dr. Stanislav Samsonov als Dolmetscher fungierte, bedeutete mir, daß noch nicht Schluß sei mit dem Essen und dem Abend. „Nein, jetzt kommt das Abendessen!“ sagte Valery. Fassungslos sah ich ihn und seine zarte Frau, eine frühere Ballerina, an. Und schon öffnete sie das Backrohr und ein riesiger Lachs wurde in einer großen Pfanne herausgezogen. Dann geschah etwas ganz Seltsames und mir Unbegreifliches: Die Hausfrau filetierte diesen wunderbaren Fisch keineswegs, sondern stach mit einer Art Gabel und einem großen Messer auf den Fisch ein und portionierte ihn wie einen Strudel. Man konnte das Krachen vom Zerbrechen der Gräten hören. Jeder bekam ein großes Stück, das natürlich jetzt voller Grätenreste war. Mühsam und gefahrvoll war dann das Essen dieses Fisches. Ich fragte mich noch lange, warum diese Fisch-zerstörerische Prozedur so war, wie sie nun einmal war – und kam dann zu der Vermutung, daß die Familie Popov für uns Gäste diesen wahrscheinlich sehr teuren Fisch, diesen Luxusfisch extra gekauft und selbst noch nie einen solchen zubereitet und gegessen hatte. Russische Gastfreundschaft! Für seine Freunde und Gäste gibt man alles! Um Mitternacht endlich brachen wir auf. Dr. Samsonov, Repräsentant einer großen deutschen Firma in St. Petersburg, der sicher eine ganze Menge Wodka getrunken hatte, auf jeden Fall viel zu viel, um noch Autofahren zu dürfen, wollte mich unbedingt mit seinem Sportwagen nach Hause bringen. Auf Drängen stimmte ich dann doch endlich zu. Samsonov fuhr wie der Teufel durch das nächtliche St. Petersburg. Aber nicht gleich zu meinem Hotel! „Vorher müssen wir noch unbedingt ein paar Freunde besuchen“, sagte er, „sie machen eine Abschiedsparty, es sind russisch-jüdische Künstler, die nach Israel auswandern.“ Meine Einwände wurden wie verschütteter Wodka weggewischt. Also besuchten wir die Freunde. Und wir – auch ich – wurden so begrüßt und behandelt, als wären wir schon seit ewigen Zeiten engstens befreundet. Mit einer Polaroidkamera wurde viel fotografiert, jeder wollte mit dem Dichter aus Österreich fotografiert werden. Irgendwann gegen drei Uhr brachte mich Samsonov dann endlich mit seinem Auto zum Hotel und ich fiel todmüde und betrunken ins Bett. Um sieben Uhr Früh konnte ich kaum aufstehen, aber ich mußte, weil um neun Uhr mein Flieger (Aeroflot) nach Moskau abflog. Ein kleines quadratisches Polaroid, auf dem ich mit allen „Freunden“ abgebildet bin, ist mir als Relikt von diesem denkwürdigen russischen Abend zum Andenken geblieben. Doch der Aufenthalt überhaupt in St. Petersburg bleibt mir unvergeßlich. An einem Abend, als ich auf einem meiner vielen Spaziergänge allein über eine der vielen Brücken ging, waren der Himmel und alles rundum erleuchtet von einem wunderbaren Abendrot, das die Stadt in ein magisches Licht tauchte.

 

***

Schriftstellerbegegnungen 1960-2010 von Peter Paul Wiplinger, Kitab-Verlag, Klagenfurt, 2010

Wiplinger Peter Paul 2013, Photo: Margit Hahn

Weiterführend → KUNO schätzt dieses Geflecht aus Perspektiven und Eindrücken. Weitere Auskünfte gibt der Autor im Epilog zu den Schriftstellerbegegnungen.
Die Kulturnotizen (KUNO) setzen die Reihe Kollegengespräche in loser Folge ab 2011 fort. So z.B. mit dem vertiefenden Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier. Druck und Papier, manche Traditionen gehen eben n