Das Happening

 

Eiskalter Herbstabend. Beschlagene Fensterscheiben markieren nicht nur eine überheizte Wohnung. Rough’n’Roll aus den Lautsprechern lässt die Scheiben wackeln. Ein Pulk lärmender Gäste, teilweise in ein tanzendes Knäuel verstrickt. Abseits davon wortfetzige Gespräche über Kino, Kunst, vor allem über die laufende Qualifikation zur Fussballmeisterschaft und die bevorstehende Pokalrunde. Gehetzte Superlative. Erbauliche Wiederholungen des hübsch Gesicherten, Bestätigten, Wohlvertrauten. Es gibt unter dieser Sippschaft mehr Kulturheuchler als wirklich kulturelle Menschen, anscheinend ist Kulturheuchelei aber zur Aufrechterhaltung von Kultur unerlässlich, weil die bereits organisierte Kulturaneignung der hypermodernen Menschen nicht für diese Leistung ausreichen würde. Die Richterskala ist nach oben hin offen. Ernies 30. Geburtstag, eine grosse Party mit fast allen bisherigen Wegbegleitern. Geleerte Gläser. Gefüllte Bäuche. Schweiss und Zigarettenqualm. Der Kohlenmonoxidgehalt in der Luft zeigt Alarmstufe rot im Smog–Bereich an. Angelina öffnet das Fenster. Saugt die kalte Luft bis tief in die Lungenspitzen ein.

»You got the news / I have got the foolish blues…«, singt der Fremde mit dem ganzen Körper. Schnippt mit Mittelfinger und Daumen den Takt dazu. Er flaniert durch die Nordstadtstrassen und die Lockenwicklerwitwe hinter der leicht zurückgezogenen Gardine weiss genau: „Dieser Gangster passt nicht hierhin. Schon gar nicht in diesen Stadtteil. Aber, zum Teufel, was macht er hier?“

Angelina ist frei, schwerelos, fühlt sich, als würde sie in der Luft schwimmen. Sie kommt ihm, ganz gedankenverlorene Schlafwandlerin, auf der anderen Strassenseite entgegen. Als sie die vom Frost aufgerissene Strasse überqueren will, sich nach dem amoklaufenden Verkehr umsieht, bemerkt sie die Augen der alten Frau zwischen den Eisblumen an der Fensterscheibe. Die ertappte Voyeurin blickt sie erschrocken an. Nestelt mit den Fingerspitzen am Gitter. Lässt den Vorhang abrupt zurück gleiten.

Beim näher kommen geht es um die spurentechnische Problematik handgenähter Schuhe und die textile Semantik von gut sitzenden Anzügen. Der Atem gefriert in der Luft. Es ist keine Waschküche des Nebels, die an der Hausecke mit dem Neonlicht ihr kaltes Spiel mit dem sich auflösenden Ozon treibt. Es ist der Zigarettenqualm, der sich aus einer Eckkneipe, die ein paar Treppen tiefer ihren gierigen Hals aufsperrt, in den Novemberabend verflüchtigt. Angelina vermutet, dass der Fremde, wenn er überhaupt real ist, in das Souterrain hinab gestiegen ist. Als sie sich dem Schauplatz auf Schrittweite angenähert hat und das kalte Licht den Nebel seziert, sieht sie ihn an den Laternenpfahl gelehnt.

Pixel purzeln. Angelina nimmt an einem Bild teil, das einer gerasterten Fotografie gleicht. Ein schwarz/weiss–Bildnis, überlagert von Grautönen und einer Staubschicht. Zwei faltige Hände, die geschickt ein Häufchen Tabak in ein längliches Stück Papier einrollen. Eine Zunge befeuchtet die Gummierung. Eine Drehbewegung. Eine weitere Handbewegung. Das Klopfen der linken auf die rechte Hand. Ein Moment der Schwerelosigkeit. Die Löte klemmt im rechten Mundwinkel. Angelina sieht in zwei braune Augen, die vorher durch die Hutkrempe abgeschirmt wurden. Eine Stimme reisst sie aus ihrer Gedankenwelt.

»Have you got a match?«

Angelina kramt in der Manteltasche. Reicht ihm eine Streichholzschachtel. Der Fremde entzündet ein Streichholz. Hält es geschickt hinter seiner Hand verborgen, damit der Wind die Flamme nicht ausblasen kann. Für einen Moment sieht sie das Gesicht des Fremden, das auf diese Weise eigentümlich beleuchtet wird. Falten zerfurchen die Stirn. Grinsende Krähenfüsse unter den Augen. Er ist tough, gefühlvoll und idealistisch, die Inkarnation von Coolness, und er besitzt die Fähigkeit, sich richtig zu verhalten und dabei seine Identität zu bewahren. Sein kühl–ironischer Bezug zur Welt und seine puritanische Moral ihn aus. Angelina klaut so, dass alles ihr gehört. Sputnik umkreist weitere Möglichkeitsformen. Eine Erinnerung regt sich in ihren Gedankenschichten, ohne ganz in ihr Bewusstsein zu dringen. Reproduktionen sind tonerabhänig. Mit einer lässigen Bewegung entledigt er sich des Streichholzes. Glühwürmchengleich leuchtet seine Zigarette.

»Wann’a drink?«, wieder eine gepeitschte Frage. Eine Handlungsanweisung in einen kurzen Satz gekleidet. Es ist, wie einer der magischen Augenblicke in Kinofilmen, in denen sich in einem Blick die Seele eines Menschen offenbart.

Wortloser Weg um den Block. Am Elfenfeld, sein Wagen. Geparkt unter dem schummerigen Licht einer Gaslaterne. Fiktionsräume einer gegenwärtigen Zukunft. Ein amerikanischer Strassenkreuzer aus den 1950–ern mit symbolischen Raketenleitwerken am Kofferraumdeckel. Die Oberfläche erinnert sie an glatt schimmernde Haut und erzeugt haptische Lust, die Rundungen lassen sich als weich interpretieren. Diese Ambivalenz macht das Auto anpassungsfähig und geschmeidig, ohne eindeutige sexuelle Konnotation bewahrt die Form ihre Unschuld. Sie determiniert nichts und signalisiert: Alles steht noch bevor und lässt sich noch entscheiden. Es ist das Paradox einer wieder erkennbaren visuellen Sprache, bei der sich Angelina fragt, was sich denn, ausser der eigenen Kunstfertigkeit, einzig in ihr und nicht auch anders ausdrücken lässt. Wenn Pop–Art ein Widerschein der Waren– und Medienwelt war, ist dieser Minimalismus eine Antwort auf die Formensprache des Alltags – weg von der Stromlinienform, hin zur seriellen Klötzchenbauweise in Architektur und Gestaltung.

Türen schnacken zu. Sicherheitsgurte fehlen. Der Fremde fährt routiniert die engen Strassen entlang. Verfranst sich nicht im stadtplanerischen Labyrinth der Einbahnstrassen. „Wenn du hier über‘n Berg bist, kommste raus, sonst musste immer im Tal bleiben!“, erinnert sie sich an das Axiom eines Bekannten. Der Fahrer fingert mit der rechten ein Zigarettenetui aus dem Handschuhfach. Die Bewegung, mit der er es aufklappt, ist präzise auf den Effekt berechnet. Er steckt eine ovale Zigarette in Flammen. Stellt im Radio einen englischen Soldatensender an. Scheibenwischer kratzen Schmutz von der Windschutzscheibe. Der Nachrichtensprecher endet mit dem Wetterbericht. Ein relaxter Dee Jay begrüsst die Hörer und spielt Sinatras Version von Raindrops keep falling on my head.

Synchronizität der laufenden Ereignisse bei mysteriösen Reisenden. Der Wirtschaftszweig des Sounddesigns arbeitet an der Tonspur ihres Daseins. Lässig lenkt der Fahrer das Raumschiff auf die Hauptstrasse, legt einen Gang zu. Nach einer Zigarettenlänge biegen sie von dem nach einem idealistischen Fabrikanten benannten Boulevard in ein Gründerzeitviertel ein. Protzige Villen erzählen Geschichten aus einer Zeit, als sich Handwerker für aufwändige Arbeiten ohne Tarifvertrag honorieren liessen. Elektrische Zäune erzählen Geschichten aus einer Gegenwart, in der man sich Bodyguards leisten muss.

Nach einer scharfen S–Kurve biegen sie in ein Privatgrundstück ab. Angelina wohnt schon eine geraume Zeit in der Stadt im Tal, hier ist sie nie zuvor gewesen.

»Big party tonight«, nuschelt der Fremde in einem langgezogenen West–Coast–Akzent. Seine behaarte Hand deutet auf die Villa im Jugendstil. Das Haus erinnert von weitem an die Bauten von Gaudi in Barcelona. Momentaufnahme, 18 Frames. Bei nachgezogener Tiefenschärfe an Xanadu. Doch hier ist mehr als ein Fenster beleuchtet. Reifen malen Kieselsteine breit. Laub pflastert den Weg. Unsichere Schritte auf modrigem Untergrund. Die Eingangstür besteht aus massivem Eichenholz. Deutsche Wertarbeit. In Brusthöhe ist ein Türknopf angebracht, der einen kunstvoll geschmiedeten Löwenkopf darstellt, mit tiefliegenden Augen, die smaragdgleich leuchten. Der Fremde schlägt mit dem Ring auf das gusseiserne Löwenmaul. Metallisches Mautzen. Der Löwe brüllt durch den Flur. Nach einer Weile öffnet sich die Tür mit einem leichten Brummgeräusch. Sie treten ein. Der erste Blick von Angelina bleibt an einem kolossalen Kronleuchter hängen, dessen Gehänge schimmernde Muster auf die Grastapete werfen. Ihr Begleiter gibt dem Butler seinen Hut und fragt ihn in akzentfreiem Deutsch beiläufig:

»Sind bereits Gäste da, James?«

»Nein, Mr. Bogart. Sie sind überpünktlich!«

Angelina schwindelt. Möchte raus aus diesem Traum, als sie realisiert, dass es Humphry Bogart ist, der sie auf einer Nordstadtstrasse aufgegabelt hat. Den Butler stellt niemand anders dar, als der Schauspieler James Dean. Das ist zuviel für Angelina, sie kreischt hysterisch:

»Wollt ihr mich verarschen, wenn ich mir einen Film ansehen will, gehe ich…«

»Aber bitte, Miss Angelina, sie wecken am Ende Mrs. West auf. Sie hat einen schmetterlingsleichten Schlaf!«

»Wen?«, der Butler runzelt die Stirn. Zieht die weissen Handschuhe glatt. Dreht sich, weist auf den Türrahmen am Ende des Flurs, in dem Mae West, das Sexidol der 1930–er steht. Sie sieht aus wie in ihrer besten Zeit und führt ein Abendkleid mit einem atemberaubenden Ausschnitt spazieren. Mae West ist eine wirkungsbewusste, zugleich auch wirkungsmächtige Frau. Ihre ungeheure Attraktivität beruht nicht auf Hexenkünsten, sondern auf der Definitionsmacht der Männer, die sie sich immer zunutze macht. Stars achten nicht nur auf sich, sie achten auch darauf, was die Menschen in ihnen sehen. Genau das ist die Last, die sie erdrückt. Elegant stöckelt sie auf den High Heels heran. Schwenkt lasziv ihre Zigarettenspitze. Öffnet ihr Privatleben, mit einem gezielten Sud aus Halb–Informationen, Fast–Wahrheiten und nach Bedeutung klingenden Sätzen. Mae könnte auch ein Telefonbuch vorlesen, es würde ihrer Ausstrahlung keinen Abbruch tun. Die Diva schenkt Angelina ein Lächeln und haucht herüber:

»Aber Schätzchen, beruhige dich doch. Komm, lass uns einen Cocktail trinken und über die neuen italienischen Modetrends plauschen«, lässt sie mit einer herrlich verruchten Selbstverständlichkeit fallen, bei der jedes Wort scharf wie eine Rasierklinge in Öl fällt. Glamour statt Gram. Lametta sticht Larmoyanz. Es nimmt sie keiner ernst, weil sie sich selbst nicht ernst nimmt. Liebe als Skandal und nicht als schmerzlich–süsse Vision heisst ihr Thema.

Mae West ist von einer bizarren Entourage umgeben. Angelina starrt auf ihre Perlen–Ohrringe, während James Dean ihr den Duffelcoat von den Schultern bugsiert. Humphry hakt sich bei Mae und Angelina ein.

Sie flanieren durch eine Bibliothek mit alexandrinischen Ausmassen. Eine erquickliche Ansammlung von geistigen Konserven in einem Zeichenwald mit unbegrenztem Frischhaltedatum. Sämtliche Szenarien um die zukünftige Rolle der Kultur haben ihren Ausgangspunkt in der Trägheit des Bewusstseinsapparats und den begrenzten Ressourcen an Zeit. Die Menschheitsgeschichte oberflächlich streifend betreten sie durch den Notausgang einen Ballsaal von ungewöhnlicher Grösse. Der Boden besteht aus dezentem Mahagoni. Die Wände sind bespannt mit einer chinesischen Seidentapete. An der Glaskuppel, die den Blick auf den Vollmond freigibt, hängt ein Kronleuchter, der den in der Eingangshalle bei weitem an Schönheit übertrifft. Ein dekadent skulpturales Ereignis. Klunkeriges Licht mischt sich unter die seidenen Lichtfäden der Mondin. Ein in seiner provozierenden Schlichtheit an ein Museum der Moderne erinnernder multifunktionaler Raum. Spielfläche für gedankliche Möglichkeiten.

Einige Gegenstände passen nicht zum Interieur: Ein Podest mit einem Marshall–Verstärker, flankiert von Fender–Gitarren und dem einem Pearl–Schlagzeug + einer P.A., davor ein 48–Kanal–Mischpult. Die Gegenstände sind so arrangiert, als wolle man Musik auf offener Bühne zersägen und neu verlöten. Vor der Bühne ein Tisch mit einer Leselampe, die fluoreszierendes Licht wirft. Dahinter, als Sitzgelegenheit, ein weinrotes Plüschsofa, das den Eindruck vermittelt, als hätte noch nie jemand darauf gesessen.

Das Trio steuert auf das kalte Buffet zu, das gegenüber dem Mischpult gedeckt wird. Dazwischen stehen Tische, die zum Inventar eines Pariser Strassencafés gehört haben könnten. Stilsichere Stilbrüche. Mae schnippt mit den Fingern. Im nächsten Moment erscheinen zwei devote Kellner. Angelina fragt sich, ob „Menschenwürde einen würdelosen Nichtmenschen impliziert“. Als Kellner hat die Gastgeberin den Glasperlenspieler Hermann Hesse und den Doktrinär des epischen Theaters und Katheder–Sozialisten, Eugen „Bert“ Brecht, engagiert. Es bleibt den bürgerlichen Bestsellern nurmehr die Wahl zwischen unfreiwilliger Komik und freiwilliger Parodie. Dienstbeflissen eilen sie herbei.

»Seid ihr aber heruntergekommen. Der Verleger hat euch wohl um eure Tantiemen beschissen!?«, strahlt Angelina in frappierender Aufrichtigkeit.

Humphry kann sich sein Wolfslächeln nicht verkneifen. Er zieht eine Benson & Hedges aus dem Etui. Reicht sie Mae, die etwas entrüstet scheint. Sie fächert sich Luft zu. Wenn die Männer auf diese Frau hereinfallen, fallen sie in Wahrheit auf sich selbst herein. Wenn hier überhaupt jemand leidet an der Liebesunordnung der Welt, dann ist sie es. Sie wirft die Zigarettenspitze achtlos weg. Steckt sich selber eine Filterlose in den rechten Mundwinkel und reisst mit einer typischen Handbewegung ein Streichholz an. Sie rauchen. Warten. Angelina ist von weissen Flecken in Seelenlandschaften magisch angezogen, sie trinkt den zweiten Martini, knabbert an der Olive und fragt sich ob J.C. auch auftauchen wird.

Als nächster Gast betritt den Raum ein langmähniger Typ mit Vollbart, bekleidet mit einer Pumphose und einem verwaschenen T–Shirt. Seine braungebrannten Füsse stecken in abgewetzten Latschen. Der Oldfarth stellt seine Jutetasche ab. Greift sich daraus eine Packung Zigaretten. Zündet sich eine Bastos an. Er raucht wie jemand, der einen schweren Arbeitstag hinter sich hat. Setzt sich an das Mischpult. Überprüft die Fantomspannung. Zieht die Regler hoch. Angelina spült ihr neuerliches Erstaunen mit einem weiteren Cocktail herunter.

Diener öffnen die Türen und machen Zugänge frei. Verlotterte Damen tragen Kleider, die sich wie Blütenblätter um ihre Hälse und Hüften schliessen. Sinistre Herren flanieren in eitler Selbstgewissheit über das Parkett. Jeder ein Widergänger des anderen. Diese Party gibt ihnen den Ort in der Realität. Angelina mortifiziert, sie schaut auf Lebendes, als wäre es tot. Glaubt Anwesende wiederzuerkennen. Bleibt von Erstaunen gepeinigt stehen. Mit ihren Blicken folgt sie den leblosen Gestalten. Zombies, die kein Menschenfleisch mehr essen müssen, weil sie sich vom Bewusstsein der Lebenden ernähren. Sie nimmt dies nicht mit gellendem Triumph zur Kenntnis, sondern mit dem leise traurigen Amüsement des Täters, der weiss, dass er mit seinen Opfern mehr gemein hat, als diese ahnen. Angelina fragt sich, warum Zombies etwas Negatives sind. Sie empfindet die eine oder andere Frau an der Supermarktkasse als lumineszierenden Zombie. „Funktioniert nicht das ganze System überhaupt nur, wenn wir genügend Zombies haben, die sich aber wohl fühlen, zufrieden sind, Urlaub haben, krankenversichert sind und ansonsten den ganzen Laden am Laufen halten?“

Furien der Veränderung. Übung in angewandter Seelenphysik: der Schwerpunkt liegt ständig zu hoch, die Basis zu schmal; deshalb muss das Gleichgewicht labil sein. Angelina verliert die Untoten im Strudel der vielfältigen Menge aus dem Auge. Das Licht des Kronleuchters erlischt stufenweise.

Ein schlacksiger Typ kommt von Backstage auf die Bühne. Sein Irrwitz ist hell genug für beide Welten. Mit malmenden Kiefern und langen Schritten betritt er den Raum. Er trägt ein blütenweisses Hemd, schwarze Lederhosen und bewegt sich aufreizend lässig auf das Sofa zu. Setzt sich. Schlägt die Beine übereinander. Er ist James Douglas Morrison, der sich lasziv auf dem Plüschsofa räkelt und die Spannung ausdehnt. Eine andachtvolle Stille erfüllt den Raum. Kult und Religion, eine unheilige Allianz, radikal antirealistisch und ungeheuer modern.

»Kennt ihr den irrlichternden Fortschritt unter den Sternen / wisst ihr, dass wir existieren?«, sind die ersten Worte, die er von sich stösst. Danach liest er aus The lords and the new creatures. Üppige Bilder, funkelnder Sprachwitz und herbe Melancholie. Berauschte Worte eines trunkenen Dichters. Eine Überdosis Rimbaud in den Adern. Er versucht fortwährend, in einem vorgelagerten Zeitkontinuum ein anderer zu sein. Muss sich jedoch mit der schnöden Gegenwart begnügen. Urquell narzisstischer Poesie. Das Gewicht seiner Performance hängt mehr von der ständig zunehmenden Handlungsintensität als von seinem rhetorisch–rhythmischem Sprach–Glanz ab. Innen und Aussen kommen in seinen Gedichten zur Deckung im ekstatischen Augenblick, nicht im Ergebnis einer gestalteten Interaktion.

Morrisons Rezitation schliesst mit der Überleitung zu der Band, die bereits im Hintergrund die Bühne betreten hat. Soundscratching mit inszenatorischer Energie. Das erste Stück, das sie spielen, ist eine mit punkiger Attitüde schnoddrig dahingerotzte Cover–Version von Imagine. Die Kapelle spielt in folgender Besetzung:

James Marshall Hendrix – Solo Guit

Eddie Cokran – Rhyth’m Guit

Sid Vicious – Bass

Keith Moon – Drums

Ian Curtis – Voc

Abgemischt von Lee Sratch Perry schütteln sie ein tumultuöses Cluster aus dem Handgelenk, das als gequälter Aufschrei nachhallt. Schmirgelpapierene Lust auf elektrischen Saiten und pulsierend pumpende Grooves. Für die 1960–er Generation wurde die Stromgitarre zum Maschinengewehr. Sie zerlegen den Rock’n’Roll bis an die Schmerzgrenze, aber nie, um ihn zu denunzieren, sondern immer nur, um diese Musik als das erscheinen zu lassen was sie sein könnte, wäre sie nicht, was sie ist. Diese Rock’n’Roll–Bande verzehrt sich im Feuer der Kreativität und bedient sich gekonnt aus dem Fundus der Historie, ohne mit den Insignien der Hochkultur zu kokettieren. Neben brutalen Riffs frönen sie ausgiebig ihrem Hang zu Atonalität und Off–Beats, überzeugen aber gleichermassen mit unter die Haut gehenden Balladen von beklemmendem Reiz. Ein Powerpack mit ätzenden Kontrapunkten, poetischen Todesfugen und gellenden Rückkopplungen. Kunstvolle Naturbelassenheit, roh und intensiv. Ein Schock für die artifiziell durchgeistigte Avantgarde. Am Ende des Konzerts folgt ruhiger, von kurzen Ovationen und keinem Buh unterbrochener Beifall.

Als Erfrischung servieren Kellner neben einem leichten Wein Artischocken, Paprikaschoten, eingelegte Schalotten und einen französischen Käse, der auf der Zunge prickelt. Der Wirt spitzt die Lippen, verdreht die Augen, reibt Daumen, Zeige– und Mittelfinger vor dem Mund, hellauf begeistert von der Thymianwürze. Derart gestärkt, goutiert man als letzten Programmpunkt:

„Digitales Daumenkino“ widmet sich der mündlichen Überlieferung von Filmen. Kein Wort darf verschwendet werden, was auf die Nerven geht. Auf die Bühne kommen „Bild–zu–Worte“–Wandelnde, die über den dünnen Faden der Handlung balancierend, ständig vom Absturz ins Detail bedroht sind, und immer verstrickt in Parallelhandlungen. Manchmal geht den Erzählern dabei ihr Gegenstand verloren, wenn sie ihn allzu sehr auf Augenhöhe mit ihren Zuschauern bringen wollen. Dieses durchgängig unachtsame Interesse an ihrem Sujet macht die Betrachtung zu einer Abfolge der ausgeschlagenen Herausforderungen. Die Erzähler versuchen, den gesehenen Film in gesprochene Sprache zu konvertieren. Wie viel Ähnlichkeiten dieser Film mit dem Original aufweist, hängt von vielen Faktoren ab. Widersprüchlichkeiten, Unverständnis, alternierende Vorlieben und Abneigungen erzeugen ein Spektakel der Subjektivität, in welcher der ursprüngliche Film an Bedeutung verliert.

»Nur solide Unschuldslämmer glauben so felsenfest ans Gute, dass sie gar nicht auf die Idee kommen, an irgend etwas zu leiden«, frotzelt Friedrich von Hardenberg. Wie andere Affacinados vermisst er an diesem Abend echte Tragik und bewundert die Sinnlichkeit des Vorgetragenen. Angelinas Traum war es, Stars zu treffen, wohl wissend, dass die Magie in der Illusion liegt. Friedrich von Hardenberg erscheint als Psycho–Wrack, in dessen ausgebranntem Gesicht auch das präpotenteste Macho–Grinsen zur verzerrten Grimasse gerinnt. Ein Ritter der traurig gebückten Gestalt, Frauen und seine Todfreunde nimmt er ebenso mit, ohne sich jemals ernsthaft für sie zu interessieren.

Transzendentale Perfektion. Augenblickswirkungen tragen den Schleier der subjektiven Wahrnehmung. Idyllen sind in Auflösung begriffen. In dieser Zauberhöhle werden Tote wieder zum Leben gebracht, wenn die Seiten ihrer Lebensbücher geöffnet werden. Angelina trifft auf eine Intelligenzija, die fetzt und flirtet, sich bedauert und betrügt, sich sehnt und streitet.

Nach dem offiziellen Programm löst sich die Abendgesellschaft langsam auf. Als wären die Figuren aus den grossen Bilderrahmen an der Wand herausgetreten, stehen hier und da kleine Gruppen, um über das Nichts, die Unendlichkeit und andere Belanglosigkeiten zu diskutieren. Eine Verfallsgeschichte, aus philosophischen Träumern wurden Salonrevolutionäre. Sie plaudern intelligent, zuweilen ostentativ brillant. Die Typen auf dieser Party sind tot lebendiger als alle lebenden Mainstream–Erzähler zusammen. Zu ihrer Art von Authentizität zählt ein Kometenschweif verloren gegangener Selbstverständlichkeiten.

Egon–Erwin Kisch interviewt Ian Curtis, der sich gewohnt zickig gibt und meistens next question oder ask my agent nölt. Hendrix streitet sich mit Arnold Schönberg über die Soli von Miles Davis. Alfred Hitchcock und Orson Welles erörtern Cyberspass und die Möglichkeiten in der virtuellen Realität. Humphry Bogart und Greta Garbo lästern über Charlie Chaplin, der versucht, ein Drehbuch von Heinrich von Kleist an David Warner zu verkaufen. Morrison ist es wieder einmal gelungen ist, sich zwischen alle Stühle zu setzen. Seine Kunst besteht weniger im Neu–Erfinden als in der Fähigkeit, das bereits vorliegende Material anzuordnen, im Stegreifspiel in neue Handlungsgefüge einzubauen. Er sitzt immer noch auf dem Sofa. Neben ihm haben Friedrich Nietzsche, ein Dandy namens Oscar Wilde und eine Flasche Absynth seinen Platz eingenommen. Sie streiten über vorsokratische Philosophie, verheddern sich in ihren Spekulationen über die Preisgabe der kontextuellen Funktion und die des Wesens des Wortes. Walter Serner duelliert sich mit Tristan Tzara. Ihre Sekundanten sind Andy Warhol und Hugo Ball. Arthur Rimbaud beschwert sich tuntig bei Picasso, dass Morrison alles bei ihm abgekupfert hat. Pablo ist unkonzentriert, hört kaum zu, weil er scharf auf Virginia Woolf ist, die aber mit der mondänen Sylvia Plath und der flirrend intelligenten Ingeborg Bachmann über das Ende der Gutenberg–Galaxis und neue Formen in der Literatur debattiert. Gottfried Benn verarztet Tzara. Hugo Ball setzt sich zu Wolferl ans Klavier und lässt sich von seiner Musik vor Glück betäuben. Mit lässiger Arroganz legt der Meister eine Serenade hin, die ein Wunder an Präzision und formaler Könnerschaft ist. Mae flirtet derweil mit dem diabolisch schillernden Cary Grant, worauf Marilyn Monroe eifersüchtig ist, zumal sie bei Jean Paul Sartre abgeblitzt ist, der bereits betrunken in der Ecke liegt. Die blitzgescheite, nervös–brillante und immer humane, fast immer taktvolle und meist zum Lachen aufgelegte Janis Joplin schafft eben den stärksten Mann. Daneben stehen Hans Henny Jahnn und Robert Musil, die über Thomas Mann herziehen, der einem muskulösen Bühnenarbeiter fasziniert beim Abbau der Anlage zusieht. Friedrich von Hardenberg und die völlig betrunkene Angelina poetisieren über das Erzählen von Geschichten als Selbstbefriedigung.

»Selbstbefriedigung ist die Rückholung versunkener Menschen und Momente, eine vor allem geistige Leistung, die Zeit und Tod aufhebt«, denkt Novalis nicht über Pointen nach, die das Leben leichter machen, sondern über die eine Pointe, die das Leben aufhebt. Es ist ihm ein Vergnügen, sie im Morgengrauen mit seinem himmelblauen Karman–Ghia nach Hause zu fahren. Ernst Willem steht im Badezimmer. Putzt sich die Zähne. Betrachtet mit blutunterlaufenen Augen seine Grimasse im Spiegel. Sieht Angelina, die verkatert ins Badezimmer kommt und sich auf die Toilette setzt.

»Ernie, koch‘ nich‘ mehr so fett, ich träum‘ danach immer so seltsam.«

 

 

 

 

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Monster, Short-Stories von A.J. Weigoni. Krash-Verlag 1990

Weiterführend →

In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Dieser angeschmutzte Realismus entzieht sich der Rezeption in einer öffentlichen Institution. Daher sei sei Enno Stahls fulminantes Zeitdokument Deutscher Trash ebenso eindrücklich empfohlen wie Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten.

Die Monster Short-Stories waren die Vorstufe zu Zombies, Erzählungen von A.J. Weigoni, Edition Das Labor 2010

KUNO übernimmt zu Zombies einen Artikel von Kultura-extra aus Neue Rheinische Zeitung und fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur. Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.