Erinnerung an Friedrich Heer

 

Jeder Intellektuelle kannte schon in den Sechzigerjahren den Friedrich Heer, den Provokateur, diesen ungewöhnlichen Menschen. Ich erinnere mich an das erste Zusammentreffen mit ihm bei einer Veranstaltung zum Thema Holocaust im Hörsaal 1 des Neuen Institutsgebäudes der Universität Wien in der Liebiggasse. Unter den Rednern und Diskutanten am Podium waren Hermann Langbein, Viktor Frankl und Friedrich Heer. Nach der Podiumsdiskussion konnte man sich auch aus dem Publikum zu Wort melden. Ich tat das mit der kritischen Bemerkung, daß sich dieses Österreich noch immer nur als Opfer der Nazidiktatur sehe und sein Beteiligtsein auf der Täterseite verleugne und verdränge und seine eigene Geschichte nicht aufarbeite, ja dazu auch gar nicht bereit sei; vor allem was das Offizielle Österreich beträfe. Friedrich Herr griff meine Bemerkung auf und stimmte mir zu. Nach der Veranstaltung sprach er mich an und fragte mich nach meinem Namen. Ob ich der Bruder des Philosophen Wiplinger sei, fragte er mich hierauf. Ich bejahte dies. Friedrich Heer kannte meinen Bruder noch von der Katholischen Hochschuljugend in der Ebendorferstraße, gleich um die Ecke des Institutsgebäudes. Dort hatten sie sich in den Fünfzigerjahren mit anderen kritischen Geistern regelmäßig beim Studentenseelsorger Dr. Strobl getroffen. Beim Ersten Österreichischen Schriftstellerkongreß im Wiener Rathaus 1981 trafen wir wieder aufeinander. Auf meine Höflichkeits-Frage wie es ihm gehe, antwortete er auf seinen etwas aufgeschwollenen Bauch zeigend: „Wie soll es mir schon gehen? Da sitzt der Krebs im Bauch und arbeitet!“ Friedrich Heer hatte mir schon 1980 ein paar handschriftliche Zeilen zur Charakteristik meiner Haltung und meiner Gedichte geschrieben, die er aus dem 1978 in New York erschienenen Gedichtband „Broders/Grenzen“ kannte. Ich habe sie als Zitat auf die Rückseite meines Fotogedichtbandes „Farbenlehre – Gedichte 1967-1987“ gegeben. Und sie lauten: “ Peter Paul Wiplinger ist ein österreichischer Dichter, der sich dem Ganzen stellt; dem täglich möglichen Fortschritt von der Endlösung der Judenfrage zu einer Endlösung der Menschenfrage. Das Ganze ist: der Mensch, eine offene, nie heilende Wunde. Das Ganze ist: das Sterben, im täglichen Sterben wachsen. Das Ganze ist: auch die Liebe. Früher nannte man das Gott.“ Für eine solche Erkenntnis meiner Gedichte und meiner Intention bin ich zutiefst dankbar.

 

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Schriftstellerbegegnungen 1960-2010 von Peter Paul Wiplinger, Kitab-Verlag, Klagenfurt, 2010

Wiplinger Peter Paul 2013, Photo: Margit Hahn

Weiterführend → KUNO schätzt dieses Geflecht aus Perspektiven und Eindrücken. Weitere Auskünfte gibt der Autor im Epilog zu den Schriftstellerbegegnungen.
Die Kulturnotizen (KUNO) setzen die Reihe Kollegengespräche in loser Folge ab 2011 fort. So z.B. mit dem vertiefenden Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier. Druck und Papier, manche Traditionen gehen eben nicht verloren.