ERZÄHLUNGEN

 

ich höre erzählen vom tanzen der wandrer

ums auge zwischen göttern und dingen

die welt stand still solange sie tanzten

sie riefen die götter in magischen ringen

die antwort kam aus dem mund der schlange

die lebte der erde wange an wange

 

ich höre erzählen vom frührot auf inseln

grauscharen sahn es jenseits der schluchten

von starken bergen sind sie gestiegen

mit ihrer habe in tangreiche buchten

sie bauten häuser verstopften den winden

die ohren verstopften die wände mit rinden

 

ich höre erzählen von königinnen

auf reicher insel stiere bezwingend

mann ohne schild und stadt ohne mauern

satte schiffe im hafenwind singend

großmütig ist die getränkte erde

fett und fest die wollige herde

 

ich höre erzählen vom reich des gerechten

weiße stadt mit karyatiden*

der herrscher geht auf dem markt als bettler

lädt dann zu gast wer unzufrieden

geldleiher waffenschmiede soldaten

die ärmsten sind zum festmahl geladen

 

ich höre erzählen von klugen gelehrten

die fanden die erd um die sonne kreisen

das volk fand es selbst durch die rohre bewiesen

verwies es den pfaffen und wählte die weisen

für sieben jahre als volksberater

sie gründeten eine Alma Mater

 

ich höre erzählen von wassergräben

die einmal schützengräben waren

im wasser rosten jetzt helme und waffen

ums banner von gräsern und totenhaaren

junge triebe schießen aus splittern

libellen lassen das wasser erzittern

 

 

ich höre erzählen vom feierabend

niemand schließt die fabrik nach ihnen

arbeiter besprechen das weitre

mit angestellten bei den maschinen

der eigentümer ist müde vom hammer

und haut sich aufs ohr in der besenkammer

 

ich höre erzählen wie sie tanzen

zu banyos und flöten am rand der städte

die spiegel der hochhäuer sind zerbrochen

unter den highways gemüsebeete

in jagdfliegerkanzeln lieben sich zweie

der flügel richtet die bohnenreihe

 

ich höre erzählen die mutter erzählt es

als markthallen dienen verwaltungsämter

knäste sind jugendherbergen geworden

gerichte sind umgebaut als remter*

großmutter weiß noch wie als sie kind war

der schwarze pfaffe ihr übel gesinnt war

 

 

 

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Rohlieder I – X von HEL, KUNO 2018

HEL ist bekannt geworden als Publizist gesellschaftskritischer Lyrik sowie Essays. Nach dem Zyklus Zeitgefährten, die zwischen 1977 – 2008 entstanden sind, veröffentlicht KUNO die Reihe Rohlieder I – X, die dank Caroline Hartge neu ediert worden sind. Diese Gedichte legen eine Stimmung frei, die zwischen Melancholie und Unbeschwertheit, Wehmut und Klarheit wechselt.

Weiterführend →

Eine Würdigung von HEL findet sich hier. Eine faszinierend langer Briefwechsel zwischen Ulrich Bergmann und HEL findet sich hier. Eine Hörprobe des Autors findet sich auf MetaPhon.

 

Anmerkungen:

 

geringfügig überarbeitet

karyatide = Schmuckelement der (neo-) klassizistischen Architektur: eine Statue, oft nur aus Kopf, Rumpf und Armen bestehend,  die einen Balkon, Erker o.ä. ‚stützt‘

remter = „klosterspeisesaal“