Eine Sprache finden, ein deutsch/deutscher Dialog

 

WEIGONI: In deiner Vita lese ich, dass du zwischen 87 – 91 am Literaturinstitut Leipzig studiert hast, vor und nach der Maueröffnung, hat sich das auf das Studium ausgewirkt?
HOLGER BENKEL: das leipziger literaturinstitut wurde, in einer aufbruchsphase, die allerdings, infolge der wende, also einer erneut machtbestimmten politik, bald beendet war, erst demontiert und dann abgewickelt, wobei die betroffenen dozenten und studenten diesem prozess, trotz protestes, letzten endes machtlos ausgeliefert waren. einstweilen wurde das institut wiederbelebt, worauf zu fragen wäre, weshalb nicht gleich ein transformatorischer übergang versucht worden sei. viele frühere studenten, die damals bereits buchmanuskripte hatten, haben, soweit ich sehe, bis heute kein eigenes buch und nicht wenige ihr literarisches arbeiten sogar aufgegeben. was machen, wenn die kultur zur randgruppe gerät?
WEIGONI: Stilvoll scheitern?
BENKEL: bleiben wir zunächst beim osten. ich hörte einmal die ergebnisse der analyse einer umfrage unter schülern, wonach ddr-geborene kinder im durchschnitt gehorsamer, disziplinierter, bescheidener, zurückhaltender, grüblerischer, bedachter, konzentrierter, ausdauernder, geduldiger und integrationswilliger seien, eltern, lehrer oder dominante gleichaltrige leichter als autoritäten anerkennen, sich jedoch zugleich, da sie ein ausgeprägtes bedürfnis nach kollektiver harmonie, ganzheitlichem erleben und gerechtigkeit entwickeln, öfter solidarisch um schwächere kümmern, einen geringeren hang zur selbstdarstellung haben, andererseits mehr darauf achten, dass ihr handeln nicht bloss gebilligt, sondern verstanden wird und insgesamt intensiver verhaltensursachen ergründen, allerdings bisweilen auch zum übertriebenen rechtfertigen, rückversichern und beteuern neigen. westdeutsche kinder hingegen sollen danach viel rückhaltloser, offensiver, selbstgewisser, unbefangener, zweifelsfreier, gewandter und effektorientierter agieren, schneller ihre angst, etwa vor strafen, überwinden und weniger rücksicht nehmen. das sagt noch nichts über jeden einzelnen. doch ich denke, eine gesellschaft, die sich liberal nennt, sollte solche verhaltensunterschiede zumindest tolerieren und nicht einebnen wollen. immerhin könnten daraus, sofern beide seiten einander gleichberechtigt begegnen, wechselseitige impulse und innovative synthesen entstehen. und wir müssen gar nicht unbedingt dieselbe sprache finden. kontraste und verschiedenartige erfahrungen regen, wenigstens kulturell und geistig, an und fordern heraus. und notfalls verlangt toleranz auch distanz. die mediengelenkte kolportage der vorurteile verbindet jedenfalls nicht oder höchstens negativ.
WEIGONI: Ist die so genannte Wiedervereinigung nun das Ende der deutschen Literatur und der Beginn einer offenen deutschsprachigen Literatur, bei der der Zungenschlag unterschiedlicher autarker Regionen neugierig macht?
BENKEL: mich interessieren solche landschaften erst nach ihrem untergang. aber das liegt wohl an meinem depressiven naturell, das mich nach innen, unten, hinten und links drängt, die linke hand ist die magische, im gegensatz zur mechanischen rechten, hin zum eindringen und ausgraben. ich halte wenig vom aktuellen kulturregionalismus, der allzu leicht zu erstarrten kreisen und damit einer kultur der tausend mauern führt, wo jeder einzig noch seine eignen partikel hochhält. ich beobachte, wie die regionalisierung und verklüngelung der kultur, von familienähnlichen strukturen getragen, regressive und infantile verhaltensweisen hervorruft und konserviert, während kultur doch das gegenteil davon fördern und entwickeln sollte. und dafür taugen multikulturelle, kosmopolitische, grenzüberschreitende prozesse viel besser. vielfalt gewinnt ihre substanz oft erst, wenn ihre teile einander begegnen und sich verbinden. und kunst, die der alchemie und nicht der chemie, der zahlenmagie und nicht der mathematik, der metaphysik und nicht der physik nahesteht, folgt ohnehin nicht den vereindeutigenden, also berechnenden, bereinigenden und trennenden rastern der rationalität, sondern dem vermischenden prinzip der magie.
WEIGONI: In deinen Gedichten tauchen häufig Beschreibungen urzeitlicher Landschaften auf, ist damit auch das Urzeitliche im Menschen gemeint?
BENKEL: wenn ich archaisches und modernes vermische und verbinde, so entspricht dies der erkenntnis, das älteste sei oft dem modernsten verwandt, das sich spiralförmig und fächerartig bewegt und entwickelt und oftmals gerade im entscheidenden moment auf ursprünge zurückgreift. die landschaften und körperbilder meiner texte beschreiben häufig vorgänge und zustände des seelischen, animalischen, meist unbewussten untergrunds, das aussen erhellt dann das innen. mein verhältnis zum körperhaften insgesamt bleibt dabei ambivalent. einerseits komme ich, manchmal regelrecht zwanghaft, stets erneut darauf zurück, zugleich jedoch gibts einen permanenten antrieb, der körperregungen sublimieren, also vergeistigen, verseelen, psychologisieren will, was dir ebenfalls nicht unvertraut sein dürfte. zudem verbindet uns wohl, dass wir nahezu jedes bild, jeden gedanken sofort nach ihrem erscheinen schon oder wieder zerbrechen, spiegeln und montieren.
WEIGONI: Solange es genügend Spielmaterial gibt… ich misstraue den Worten, obschon ich versuche alles wortwörtlich zu nehmen. Doch die Sprache ist eine Hure, jeder kann sie in den Mund nehmen, darauf herumkauen bis sie Biss bekommt, jeder kann sie auskotzen und zu Papier bringen. Viele bringen ihre Sprachlosigkeit zum Ausdruck. Ist unserem Scheitern noch lyrisch beizukommen?
BENKEL: vielleicht kann man zuletzt allein noch jenen worten vertrauen, die scheinbar keinen sinn ergeben. während der logik der geschichte die paradoxie der begriffe entspricht, werden wir erst in der absurdität der bilder einsichtig. die eigentliche geschichte besteht im ungelebten. und erst die niedergeschlagenen werden zum sediment. kann man lebensreal daher gar nicht hoffnungslos genug sein, damit wieder authentische hoffnung entsteht? oder sollten wir, restlos enttäuscht, bereits jetzt mit den schäbigen überresten künftiger kulturepochen spielen? wenn die menschheit tatsächlich auf einen abgrund zuläuft, wäre ein hufeisen am fuss eine gute sache. die profane realität folgt meist nur zwecken, die ideelle dagegen analogien und paradoxien. wo letztere indes zum zweck geraten, hört die kunst auf, fängt der mythos an. die kunst könnte dem aschegeruch aber auch vorausgehen, entweder sehend, und mitunter sogar mahnend, oder ohne augen für die brände, ausgenommen jenen in der eignen brust. jedes kind, das seine, heutzutage technokratische, puppenstube verlässt und mit dem gerümpel eines dachbodens spielt, hat eine ahnung davon, worin kultur wohnt. was von der mahlzeit übrigbleibt, wird kunst, indem es, zerbrochen und verwest, aufersteht.
WEIGONI: Man müsste ein Ohr-rakel befragen… mit verhaltenem Optimismus denke ich, dass sich Literatur im Getöse der Medien als Ort der Kontemplation behauptet. Den Pessimismus deines Gedichts „resümee“ kann ich nicht teilen.
BENKEL: ich könnte mich da nur übertreffen. manchmal finde ich eine erde ohne menschen wunderbar depressiv. die modernste partikularität dürfte zuletzt zur ältesten inzucht führen. gewiss ist’s hoffnungsvoller, sich in der unendlichkeit eines traums zu verlieren als in der der unendlichkeit eines verlangens. was erweckt, das tötet auch. wer den tod nicht will, darf sich nicht erwecken lassen. utopien sind ein ewiger kreuzzug… der kinder. auf der reise zum ort ohne grund, hinter den wind oder unter die wellen müssen wir uns sowieso von uns selbst ernähren. und am ende wirkt jedes tiefere einfühlen kannibalisch. wiederum muss der künstler, um barrieren zu übersteigen, die seine kreativität hemmen, immer erneut grenzgängerisch aus der kultur, die ihn umgibt, heraustreten, was mit der tatsache korrespondiert, dass das wahre selbst etwas ausserhalb des ich ist und nur substanz bilden kann, wessen seele wandert oder wer mehrere seelen hat. die völlige einheit, im sinne der deckungsgleichheit, von kultur und kunst, ich und selbst, wissen und ahnen, aussenwelt und innenraum, wäre jedenfalls die komplette erstarrung und der mensch, der sie erreichte, für die geschichte verloren. andererseits würde die totale synthese raum und zeit aufheben, und das gäbe wieder hoffnung, indem der mangel an aussicht einsicht schaffen könnte.
WEIGONI: Frei nach dem Zeitalter der genialen Dilettanten, dass der depressive Charakter in Wirklichkeit heiter sei? Aber auch dies scheint mir nur das Postulat eines neuen Evangeliums, der Poet als neuzeitlicher Prophet?
BENKEL: der moderne künstler, und wenn ich kunst und künstler sage, meine ich die künstlerische literatur immer mit, nachfahre der magier und mystiker, muss nicht notwendig prophet sein. das wäre nur eine seiner möglichkeiten. ich biete ja gerade die völlige desillusionierung als ausgangspunkt der utopie an. auf die frage, welche aufgaben literatur haben könnte, sagte ich einmal, am besten sie hätte welche und niemand würde es merken. manches darf man beinahe nicht wollen, damit’s gelingt. und ich denke insgesamt, die künste sollten weder bloss abbild sein, so blieben sie leicht an der oberfläche und man könnte in der realität selbst finden, was sie beschreiben, noch allein autonom, denn derart verflachen sie schnell zu ornament, dekor und arabeske und man bräuchte zuletzt ebenfalls keine kunst mehr. für mich eröffnet kunst das nicht seiende und ist daher das vollkommen andere gegenüber der utilitären realität, antiwelt und alternative geschichte, und solcherart verwandt mit magie, mythen, mystik, alchemie, märchen, träumen, wahngebilden und einem postvitalen dasein.
WEIGONI: Der Kurzprosa-Band »reise im flug« ist „träume und begebenheiten“ untertitelt ist, die Flucht in Gegenwelten als poetisches Programm?
BENKEL: da ich kaum über das geld verfüge, um äussere reisen zu unternehmen, bin ich auf innere angewiesen. ausserdem lebt jede kunst von gegenwelten. was bliebe ihr denn ohne das phantastische, imaginäre, geheimnisvolle, rätselhafte?
WEIGONI: Das sehen wir derzeit: den glatten Schein polierter Oberflächen.
BENKEL: offenbar trieb die vernunft gerade aufgrund ihres inszenierten gegensatzes zur nicht-vernunft ins anmassende, das wir heute technokratie nennen. und man müsste zunächst einmal die dimension der nicht-vernunft produktiv zurückgewinnen. andernfalls würden die vom technokratischen zeitgeist absorbierten irrationalen energien irgendwann unbeherrscht ausbrechen. kein zirkushund tanzt ewig. auch utopien, die nicht rational erhalten bleiben, leben im irrationalen weiter. und was sich nicht verwirklichen lässt, entwirklicht. die fixierung aufs gegebene und vorgefundene ruft jedenfalls genauso dogmen hervor wie ein falsch verstandener, weil intoleranter, idealismus. ich habe den vorteil, dass ich die westliche welt sozusagen ethnologisch, wie eine fremde kultur, erkunden kann, wodurch immerhin einige betriebsblindheiten entfallen, die durch jahrelang ungebrochen eingefleischte konventionen entstehen, die emotionale bindungen schaffen, die suggerieren, das selbst erfahrene und erprobte sei das absolut notwendige und normale, derweil der fremde sich darüber nur verwundern kann. der aussenbetrachter sieht prinzipielles, hierarchien, strukturen, mechanismen, doktrinen, klarer, der innenbetrachter stärker nuancen subjektiven erlebens, die er allerdings oft überbewertet, während ersterer sie leicht unterschätzt. manchmal denke ich, der ideale analytiker gesellschaftlicher verhältnisse müsste ein grenzüberschreitender landstreicher sein, der seinen kopf freihat, indem er seinen sozialen tod lebt.
WEIGONI: In der DDR gab es eine Materialbücher-Tradition, das scheint sich nach der Wende fortzusetzen, wie bei deinem Verlag Blaue Äpfel. Ein Trend aus Tradition, um dem Verwertungsbetrieb etwas entgegenzusetzen?
BENKEL: oder reste des anspruchs, man sollte sich selbst verwirklichen und zugleich etwas bewirken bei leuten, die gar nicht anders können, weil sie so gewachsen sind und mit ihrer identität überleben wollen. sicher kann man das bibliophile als teil der subkultur betrachten. denn das subkulturelle muss nicht zwangsläufig antiästhetisch auftreten. gewiss, kultiviertheit verhindert kultur oft eher. doch kunst besteht nun einmal auch durch ihre ästhetische substanz. oder hab ich da die restbestände meines kulturidealismus noch nicht genügend überwunden? nach unserem tod werden unsere bücher ohnehin alle verschwinden oder bibliophil.
WEIGONI: Hat Literatur, haben Schriftsteller neben diesen bibliophilen Publikationsformen, egal ob Ost oder West, überhaupt noch eine Zukunft?
BENKEL: wenn die magier verschwunden sind, warum sollten ihre nachfahren, die künstler, nicht gleichfalls aussterben können? eines der erstaunlichsten und dabei gefährlichsten merkmale der westlichen moderne, oder gar einer ihrer raffiniertesten tricks, ists, dass sie die entfremdung kultiviert, ja zur kultur selbst gemacht hat. es soll weltweit annähernd eine million neo-druiden geben, die druidenkultur jedoch ist tot. ähnliches könnte den künstlern widerfahren. das mag kulturpessimistisch klingen. doch genau genommen sind sogar, oder gerade, meine apokalyptischen gedanken bloss umgekehrte utopien. und ich bleibe dabei, gegenwelten formieren und die realität verändern wollen, das gehört zusammen. der eigentliche fatalismus besteht darin, das vorhandene für unveränderbar zu halten. wenn wir schon nicht raumlos ganz raum werden können, so lasst uns wenigstens zeitlos einzeln die zeit vertilgen.

 

 

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Dieser Band war als bibliophile Vorzugsausgabe erhältlich über den Ventil-Verlag, Mainz.

Aus Recherchegründen hat der vordenker die Kollegengespräche  ins Netz gestellt. Sie können hier abgerufen werden. Die Kulturnotizen (KUNO) haben diese Reihe in loser Folge ab 2011 fortgesetzt.

Einen Essay zu dieser Reihe finden Sie hier.

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