Die Textgattung wird zum Klangerlebnis

Sprache geronnen zu einem Konzentrat. Nirgendwo drückt sich die Sprache im nachbabylonischen Zeitalter direkter aus, als in Gedichten, dieser heikelsten Gattung im Biotop der literarischen Infrastruktur. Während die Lyrik die Zeit verlangsamt und die Aufmerksamkeit auf die Erscheinungen in seinen Grenzen lenkt, suchen Gedichte zugleich auch die Gegenwart des umgebenden Kontextes. Dieses Zusammenspiel zwischen Offenheit und Geschlossenheit ist essenziell für die Phänomenologie der Poesie. Den schätzungsweise 50.000 ernsthaft um eigene Lyrik bemühten AutorInnen stehen circa 500 LeserInnen gegenüber, die einen Lyrikband käuflich auch tatsächlich erwerben, und zwar auch nur den besten eines betreffenden Jahrgangs. Hier ist eine Gesamtausgabe im Schuber anzuzeigen, der eine exklusive Auflage von 100 Exemplaren hat und jedes Cover ist versehen mit einem Holzschnitt von Haimo Hieronymus.

Diese Werkausgabe in der sämtliche Gedichte von A.J. Weigoni enthalten sind, ist eine schlüssige Zusammenstellung. Lyrik bedeutet für diesen VerDichter nicht nur bei dem in diesem Schuber erhältlichen Band Wiederbeatmung: ersetzen, tauschen, überschreiben, eskamotieren, reduzieren, übersetzen, selbst vom Deutschen zurück ins Deutsche. Wir finden in dieser Gesamtausgabe eine unablässige Durchdringung von Sprachspiel und Gedankengang vor; eine ganz eigene Sprache, die nichts abbilden will, sich aber ständig mit unserer Alltagssprache verknüpft und für Neubildungen offen bleibt. Das erweitert die Ausdrucksmöglichkeiten der deutschen Sprache, Umgangssprachliches mischt sich mit traditionell lyrischem Sprechen, subversiver Witz mit Albernheiten, Latinismen mit Anglizismen, Technizismen mit sakraler Sprache und antikem Mythos. Jede neue Strophe dient dem Deichbau zur Regulierung anflutender authentischer Stoffmassen. Die Zerbrechlichkeit der Sprache thematisiert Weigoni bei dieser Werkausgabe in immer neuen Anläufen, sie ist in Gefahr zu verstummen, sich des Sinnes zu entledigen, doch sie füllt sich beim Sprechen und beim Hören. Weigonis poetische Wirklichkeitswahrnehmung ist immer eine subversive Wahrnehmung, seine Kritik an vorgefundener Sprache beinhaltet immer auch die Kritik an gesellschaftlichen Verwerfungen und damit ein erster Schritt zur Veränderung.

Zieht man das beigefügte – und auf vier CDs erweiterte – Hörbuch Gedichte zu Rate, so nehmen wir das Sezieren oder Tranchieren von Wörtern wahr. Wetzte Weigoni bereits bei der Lettermusik die Silben und Konsonanten so scharf, dass Schere unweigerlich Papier schneidet, so läuft er bei Dichterloh zur Höchstform auf. Seine Lyrik ist auf der Höhe der Zeit, der poethologischen Kern wird in diesem Kompositum offenbar: das Abwesende beschreibbar zu machen, indem es als semiotisch umschlossene Leere erscheint, die das Anwesende imaginiert. Weigoni nutzt die sprachlichen Konventionen zu, um sie gleichsam zu desavouieren und dem individuellen Sprechakt anzuvertrauen. Er gestaltet dieses Kompositum in vier Akten zu einem ‚Ohr-Ratorium’ und beweißt bei Dichterloh ein feines Gespür für Timing und die richtige Tonlage. Auf alle melodischen Reize von außen antworten er mit der persönlichen Melodie, aktive Aufnahme. Hier wird aus Klang und Inhalt eine Kombination gewoben. Gedichte sind eindrückliche Beiträge zur memorialen Funktion von Literatur, als aufbewahrendes Gedächtnis.

Sprachästhetisch abgerundet wird diese Werkausgabe durch die Schmachspuren. Weigonis Verfahren darin ist sprachlich autonom. Diese Gedichte leben aus der Überzeugung, dass man allein mit dem Welt- und Sachgehalt, den Wörter und ihre Verbindungen von sich aus haben, Poesie machen kann. Er versucht sich auf ihre Weise der Frage zu nähern, wie Denken und Sprechen, wie Dichtung und Musik im Lichte von neuronalen Aktivitäten zu begreifen wären. Geist und Körper sind kein Antagonismus, vielmehr führt die Reflexion zum Fleisch. Indem Weigoni die zum Objekt des eigenen Nachdenkens macht, nimmt er das Selbstbewusstsein die Komplexität, die Ambiguität, die Widersprüche, die Unsicherheiten, Schönheiten und Schrecken der Existenz wahr. Wer diese Gedichte hört, sollte sie vorher lesen. Und sich dann beim Hören Zeit nehmen. Viel Zeit. Dabei wird sich das eine Paradoxon doch nicht lösen lassen, dass wir stets nur entweder den einzelnen Knoten betrachten können oder versuchen das gesamte Netz in den Blick zu nehmen, das sich da zunächst zwischen den Gedichten und weiter zu den vielen anderen Texten spannt. Diese Lyrik verleiht nicht nur dem Denken eine Stimme, sondern auch den Gefühlen und den Phantasien. Die fragmentierte Welt erscheint für einen Moment begreifbar.

Die Gesamtausgabe lädt dazu ein, die gedruckte Fassung und die Umsetzung als Lesung und Hörspiel medienübergreifend zu betrachten. Man kann das Hörbuch Gedichte aber auch als fernes Echo auf Niklas Luhmanns Liebe als Passion hören, als ein Kompositum, das zwischen phonetischen, pictografischen und onomapoetischen Formen oszilliert. Ob in phonetischen Gedichten, in Hörspielen oder in Prosastücken, stets hat Weigoni in Wörtern andere Wörter gesehen oder gehört und eine kombinatorische Fantasie der ästhetischen Gestaltung in Schrift und Ton entfesselt, die gerade vor dem Hintergrund ihrer Regelpoetik eines nie wird: langweilig.

Dieser „VerDichter“ reflektiert die lyrische Arbeit und die Materialität der Sprache, es ist nicht die Dissonanz, die seine Gedichte auszeichnet, sondern die Kraft, mit der er diese Dissonanz erzeugt. Er ist nicht nur ein Virtuose der Sprache, er ist ein Meister in der Kunst ständiger Metamorphosen – und blieb sich gleichwohl treu ein Leben lang. Dieser Rezitator verlebendigt und gestaltet Gedichte, verschafft den Zeilen mit seiner Stimmgewandtheit einen Auftritt; bringt sie zum Klingen, zum Schwingen und zur Sprache, und zwar so, dass man sie, so schwierig auch sein mögen, verstehen, mitdenken und vergegenwärtigen kann. Es ist einer Feier der Sprache, der Interpunktion und Intonation, der Überraschung des Doppelpunkts, das Atemholen des Gedankenstrichs; und der Genuss eines Semikolons.

Ein Highlight des Hörbuchs ist sicherlich die Umsetzung der Langgedichte als Hörspiel. Im lyrischen Monodram Señora Nada beschreibt Weigoni eine Melancholikerin. In dieser Hörspielfassung paart sich ein trügerischer Naturalismus, listig mit einem Wiedererkennungs– und Verfremdungseffekt. Zuerst erschein dieses Langgedicht in der bibliophilen Aufmachung bei der Landpresse. Diese bibliophile Ausgabe ist leider vergriffen, umso erfreulicher ist es, dass dieses Monodram sowohl im Band Parlandos, als auch in einer Hörspiel-Version auf dem Hörbuch Gedichte erhältlich ist. Der Poesiebegriff mutiert von der Textgattung zum Klangerlebnis. Dies verdeutlicht auch die Hörspiel-Inszenierung der Regisseurin Ioona Rauschan, ihre Deutung ist texttreu, eine Texttreue, die bis zwischen die Zeilen geht. Diese Inszenierung ist so intensiv, man hat den Eindruck, als könnten Worte Wellen schlagen. Wesentlich dazu trägt die Schauspielerin Marina Rother in der Rolle der Señora Nada bei. Sie interpretiert ihre Rolle so leise, klar und eindringlich, dass der Text einerseits zum Bild wird, anderseits zu Sprachmusik von schmeichlerischer Sinnlichkeit. Ihre Stimme ist ein sonderbar unfestes Element in ihrem Spiel. Hören wir eben noch den silbern, fast singenden Ton, so ist er im nächsten Augenblick um ein jähes Intervall abgesenkt zu einem kehligen, zuweilen ordinären Schall. Die schnell wechselnde Stimmlage ist keine Koloraturgeste, sie gehört zum Repertoire der dialogischen Bindungsstärke, die diese Sprecherin vor so vielen anderen auszeichnet. Ihre bruchstückartigen Bekenntnisfragmente laden zu einer intellektuellen und geistigen Nähe ein. Die lyrische Rede vollzieht sie als eine Form von Rollenrede.

Diese Lyrik feiert die Musikalität der Sprache. Wir finden in diesem Schuber alles, was mnemotechnisch war, also Rhythmus und Klanglinien, das sind Erinnerungsstrukturen, was eigentlich nicht mehr nötig ist, weil man es auch als Buch gedruckt vor sich hat. Trotzdem ist es nicht aufgegeben worden, und wir haben die Situation, dass, wenn man einen Lyrikband hat, man eigentlich so etwas hat wie die Partitur eines Musikstücks. Und dazu braucht es ein Instrument, im Fall der Lyrik die menschliche Stimme, die das wunderbar transportieren kann, und schon geht es vom Körper ins Ohr. Wenn Weigoni hinter ein Mikrophon tritt, schafft er sofort Platz für die Sprache. Sie bekommt von ihm Körper, Gestalt, Wucht, Melodie, Tragik, Sehnsucht, Sturmgebraus und Dunkelruhe. Dokumentiert wird in diesem Schuber ist ein Werk von luzider Strenge und ludistischer Scharfsinnigkeit, das nie die Realität aus den Sinnen verloren hat. Nicht nur wegen der Originaldrucke auf dem Cover ist diese Werkausgabe eine Zierde für jedes Bücherregal.

 

 

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Der Schuber, Werkausgabe der sämtlichen Gedichte von A.J. Weigoni. Edition Das Labor, Mülheim 2017

Die fünf Gedichtbände erscheinen in einer limitierten und handsignierten Ausgabe von 100 Exemplaren. Mit dem Holzschnitt präsentiert Haimo Hieronymus eine handwerkliche Drucktechnik, er hat sie auf die jeweiligen Cover der Gedichtbände von A.J. Weigoni gestanzt hat. Bei dieser künstlerischen Gestaltung sind „Gebrauchsspuren“ geradezu Voraussetzung. Man kann den Auftrag der Farbe auf dem jeweiligen Cover direkt nachvollziehen, der Schuber selber ist genietet. Und es gibt keinen Grund diese Handarbeit zu verstecken.

Alle Exemplare sind zusammen mit dem auf vier CDs erweiterten Hörbuch in einem hochwertigen Schuber aus schwarzer Kofferhartpappe erhältlich.

Weiterführend → Mehr zur handwerklichen Verfertigung auf vordenker. Eine Würdigung des Lyrik-Schubers von A.J. Weigoni durch Margeratha Schnarhelt findet sich auf fixpoetry. Lesen Sie auch Jens Pacholskys Interview: Hörbücher sind die herausgestreckte Zunge des Medienzeitalters. Einen Artikel über das akutische Œuvre,  mit den Hörspielbearbeitungen der Monodramen durch den Komponisten Tom Täger – last but not least: VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni in dem er dichtungstheoretisch die poetologischen Grundsätze seines Schaffens beschreibt.

Hörbproben → Probehören kann man Auszüge der Schmauchspuren, von An der Neige und des Monodrams Señora Nada in der Reihe MetaPhon.