Flaschenpost aus einer untergegangenen Zeit

Noch nie gab es etwas Unerträglicheres für den Menschen als die Freiheit.

Fjodor Dostojewski

Sondermarke 1969, abgestempelt am 9. November 1989

Die uns bekannte Deutsch / Deutsche Geschichte ist ein Erinnerungsraum zwischen Wirklichkeit, Möglichkeit und realer Irrealität – und genau das ist ein Leitthema des Schriftstellers A.J. Weigoni. Seine engagierte Literatur zeichnet sich durch einen ihr eigenen, ästhetischen Wert aus. Ihre sekundäre Wirkung trennt sie dabei vom aktiven Handeln, etwa eines Politikers. Er schaut zurück: Am 13. August unterbrachen die Bauarbeiter ihre Arbeit am Wohnungsbau und arbeiteten andere Statikpläne aus. Der SED-Parteichef wollte stets das Beste: Für die Partei, die Genossen, für die Kinder und vor allem – selbstverständlich uneingestanden – für sich. Aufstieg, Ansehen, Erfolg, Wohlstand, Liebe; in dieser Reihenfolge. Und es ging fehl. Folgt man dem Zeithistoriker Dietrich Staritz, so ist dieser 13. August die Realisierung einer Perspektivmaßnahme: „der heimliche Gründungstag der DDR“ .

Hegel bemerkte, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen sich zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.

Sollte der Protagonist der Arbeiterbewegung, Karl Marx, mit seinem lumpigen Dialektik am Ende doch noch Recht haben, so stellt A. J. Weigoni in seinem ersten Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet die Welt auf die Vergänglichkeitsprobe. Zur Rezeption dieses Romanciers gehört es seit seinen Zombies, daß man seinen Humor meist nur in der Form der Ironie erkennt, die meist etwas Distanzierendes, etwas Überlegenes hat. Sieht man genauer hin, so hat Weigoni zu seinen Figuren kaum Distanz. Und er macht sich nie über sie lustig. Wenn es dennoch bei ihm immer wieder hochkomische Situationen gibt, so ist das, wie bei seinen Novellen Cyberspasz, als Groteske angelegt. Die Absurdität ergibt sich nicht daraus, wie Weigoni erzählt, vielmehr rührt aus den Situationen selbst, in die die Menschen meist unfreiwillig geraten oder sich schlimmstenfalls sogar freiwillig begeben. Wir lesen in seinem ersten Roman Poesie als Kreuzungspunkt von Politik und Literatur. Dies garstig Lied setzt sich dem Zwiespalt aus, ob Dichtung ein angemessenes Medium für Politik ist, und Politik ein angemessener Inhalt für die Dichtung. Die Antithese deutet auf das Problem der Literatur hin, das sich engagierte Literatur notwendigerweise von der Realität abgesetzt, die Differenz von dieser jedoch durchstreicht.

Geschichte entsteht dort, wo die Unvollkommenheit der Erinnerung auf die Unzulänglichkeit der Dokumentation trifft.

Patrick Lagrange

Quod erat demonstrandum: Zwischen November 1989 und März 1990 wird die deutsche Geschichte vom Druck der Ereignisse komprimiert. Er verfolgt ein Konzept von littérature engagée, das kritisch-loyal an das Land und seinen gesellschaftlichen Entwurf gebunden ist. Weigoni unterscheidet sich merklich von dem literarischen Engagement, das sich nach 1945 in Westdeutschland entwickelte, sondern auch von demjenigen in den übrigen Ostblockstaaten. Weigoni erzählt eine Desillusionierungsgeschichte der dahindämmernden Bundesrepublik, die es gleichfalls durch die Wiedervereinigung nicht mehr gibt. Als meisterlicher Seismograf existenzieller Erschütterungen erzählt er diese Liebes- und Untergangsgeschichte mit leichter Hand, sprachspielerisch, ironisch und doch kunstvoll. Und nicht einmal das, was an der deutschen Geschichte so bleischwer ist, kommt an keiner Stelle in diesem Roman so daher.

Geschichte, nicht nur Literaturgeschichte, verschwindet unter anhaltend Gegenwärtigem.

Jan Kuhlbrodt

Poesie und Politik, das sind die Pole, zwischen denen  dieser Roman oszilliert. Dieser Romancier verdichtet Realitätsfragmente zu Poesie. Seine Methode ist nicht die des Schocks, das Heraufbeschwören eines proletarisch-revolutionären Ideals oder der Provokation; er sucht nach der Evidenz poetischer Bilder, wenn er den Finger auf die Wunden seiner Figuren legt. Dieser Roman demonstriert, wie Weigonis Erzählen funktioniert. Wenn er einerseits eine ganze individuelle Erfahrung und Empfindung wiedergibt, steht er doch zugleich für das Übergreifende.

Geschichte ist die Summe der Lügen der Sieger.

Julian Barnes

Dieser Romancier artikuliert ein nichtpropagandistisches Sprechen, eine Erinnerungs- und Beschreibungssprache, die sich angenehm abhebt von dem, was man über die sogenannte Wiedervereinigung lesen mußte. In Abgeschlossenes Sammelgebiet durchdringt er die Realität vom ersten bis zum letzten Kapitel, zeigt Widersprüche auf, und weist poetisch aus, wie sich Individuen im geschichtlichen Umbruch verhalten. Freiheit und Toleranz liegen nicht allein in klassisch westlichen Vorstellungen, sie können sich gerade untergründig in einem bewußten Umgang mit Traditionen offenbaren. Der sogenannte Antifaschistische Schutzwall erscheint als Metapher für den Kollektivwahn, der am 9. November 1989 zum Ausbruch kommt.

 

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Lesen Sie auch den gerade erschienenen zweiten Roman: Lokalhelden, von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2018 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover.

Coverphoto: Jo Lurk

Weiterführend →

Lesen Sie auch das Nachwort von Peter Meilchen sowie eine bundesdeutsche Sondierung von Enrik Lauer. Ein Lektoratsgutachten von Holger Benkel und ein Blick in das Pre-Master von Betty Davis. Die Brauereifachfrau Martina Haimerl mit Hintergrundmaterial. Ein Kollegengespräch mit Ulrich Bergmann, bei dem Weigoni sein Recherchematerial ausbreitet. Denis Ullrich mit einem Rezensionsessay.