Schwarz und weiß

 

Der See hätte auseinanderbrechen müssen wie damals dem Moses und seinem Volk das Rote Meer, um eines Menschen Gedanken da hindurchführen zu können. Da, in der Mitte, der Länge nach, war nicht einmal Überschwang, nur RISS, das Allerentfernteste,  das ein Ich v o r  sich entblößen kann. Das befand sich dort: im, über dem, unter dem Wasser. Natürlich war überhaupt nichts zu sehen. Das war 1986.

Wir verplauderten uns an Novalis: “Das Sichtbare haftet am Unsichtbaren…- und – vielleicht, das Denkbare am Undenkbaren.“

Wir sehen, aber was wir sehen ist falsch.

Das Wasser hörte hier auf, einfach nur das Wasser eines Sees zu sein. Innerhalb des friedlich vom Westwind gekräuselten Sees, über den Mandarinenten hinwegglitten wie luftige Lampignons, gab es etwas, das dem Nachdenken gewöhnlicher Erfahrung widersagte,-  ja, widersagte wie einem bösen Dämon.

Dieser See dort, über den wir e s besser wussten, war eine Analogie  – und dieses „e s“ war jene Tatsache, die weder Tat noch „Sache“ zusammenzuführen imstande war.  Beides schien unumkehrbar voneinander getrennt zu sein.

Zum ersten mal waren wir mit etwas Sichtbarem, Erfahrbarem, mit Natur schlechthin konfrontiert, inniger als jemals bisher, jawohl, mit einer Idylle konfrontiert, die nichts mehr galt als ein flüchtig hin gekritzeltes Wort, Singsang A-na-lo-gie – wussten wir etwas über die Bedeutung des Wortes? Nichts Trügerisches  verbarg sich hinter der so gewollten Zusammenschau von Buchstaben.

Bewegst du dich auffällig, so bedroht dich das Wort.

Wie kann man sich in dieser Idylle auffällig bewegen? Nun, warum sollten wir uns auch bewegen? Die Sonne erwärmte unsere geschlossenen Lider, wir lagen auf dem hölzernen Bootssteg, redeten leise. Wir hätten mit dem Wald, der das gegenüberliegende Ufer säumte und hinter dem einige grob verputzte  Fassaden ahnbar waren, Ähnliches in Gedanken anstellen mögen, auch ihn schloss die Analogie mit ein. Nein, lieber malten wir uns ein Deutschland aus, das ohne den Heimatbegriff nichts weiter, als eine Fläche Erde gewesen wäre, auf dem Häuser in der Landschaft standen und darin Menschen waren, die schliefen und aufwachten, wie es ihre Natur vorschreibt.

Wir ritzten Umrisse in die poröse Ebene des Vorstellungsgeländes, und was außerhalb dieser Umrisse lag, das war gemeint. Die Flächen, die draußen lagen und die sich nicht zu einer geschlossenen Form  entschließen konnten, entschließen durften, weil ihnen jede entschiedene Linie, die zu sich selbst zurückführen konnte (die bewusste Wendung), die landläufig begriffene Vollendung von Gestalt abnehmen würde.

Wir schwimmen. Das uns umgebende Wasser macht unsere Bewegungen und unser Dasein darin möglich. Wir setzen uns über diese Bagatelle hinweg, über die wir uns zunächst so begeistert einig gewesen sind, als hätten wir die Welt neu in den Griff gezwungen.

Was ist wichtig? Immer sind die Ebenen und Räume wichtig, an denen, in denen sich etwas fest machen lässt. Das Sichtbare haftet am Unsichtbaren. Wir möchten damit nichts anfangen. Wir füttern die Enten mit Mohnkuchen. Für sie ist das Sichtbare, das am Sichtbaren haftet, allein gültig. Sie schwimmen oben aufgrund ihrer Befähigung, den selbstproduzierten Körpertalg mit dem Schnabel über ihr Gefieder zu verteilen, und wir können sie s e h e n, von dem Talg wissen wir nur.  Wir können auf den See schauen, aber von seiner Eigenschaft, kein See mehr zu sein wie man Seen  aus den Ferien, der Literatur und von den innerländlichen Landkarten kennt, können wir nicht wissen. Da wir aber behaupten, es doch zu wissen,  uns aber den Beweis schenken, indem wir uns nicht auffällig bewegen, geraten wir gewissermaßen vor uns selbst in den Verdacht der Unglaubwürdigkeit. Wir setzen der Natur einen gefährlichen Stoff zu, der uns die Erinnerung vergiften wird.

Wir sehen fern. Wir selbst sahen uns in diesem Apparat liegen in der Sonne, wir sahen, wie wir gesehen wurden, wir sahen uns nicht allein dort liegen.

Novalis bäumte die Bäume und verwässerte das Wasser, als er schrieb:“…und vielleicht haftet das Denkbare am Undenkbaren.“ Hatte er sich vermessen dabei? Wir konnten das Denken mit einer Grenze nicht ausweisen. Vielleicht ist es das Un-Mögliche, an das sich unser Denken heftet. Das Unmögliche glaubten wir sichtbar machen zu können, indem wir eine geschlossene Form in eine vage Gegend ohne Himmel und Erde, ohne Maß und Tiefe hineingestikulierten.

Die Einfalt ist nun tatsächlich nicht mehr auszugrenzen. Jenseits von ihr verschwendet sich nicht etwa das Unmögliche, – ein angeblich beseeltes Wesen aus Fleisch und Blut. Es ergeht sich in der Analogie statt im Grunewald.  Es schwimmt durch die Analogie statt durch den Glienicker See.  Auf der Mitte des See will es  e s wissen: Schwimme ich in der Mitte eines Sees  oder sehe ich mich nur fern in einem Apparat, der seltsam gleichschaltet das Sehen und Wiedersehen?

Novalis hätte uns für jenen Moment unserer Erinnerung an Gelesenes schweigen sollen. Das Schweigen zwischen seinen Gedanken und die Idylle hier waren vollkommen. Zu jeder Idylle schließlich gehört eine Portion vorgedachter Angst. Hätte Novalis geschwiegen, wäre der See vielleicht selbst sein Schweigen gewesen, und der Glienicker See, der brackig war für keine 10 Zentimeter Durchsicht und mit seinen braven Enten aus Asien auf den Kräuselwellen das Unsichtbare, woran ein Sichtbares, sein Schweigen, haftete. Nach der Angst hätten wir uns gesehnt, vielleicht, weil wir immer etwas gegen uns haben müssen, das unseren sicheren Tod bedroht.  Das Ende, wo sich Stoff nicht mehr gegen Stoff auflehnt und zerstäuben muss in dauerhaft begrenzter Reibung.

Im Ende muss das Ungestaltete das Ungeschlachte einfach verschlingen.  Für das Böse haben wir immer mehr Worte gewusst als für das Gute. Bevor in die deutsche Sprache der Begriff des Schulgefühls seine zerstörerische Einkehr hielt, der bis heute sein karnevalistisches mea culpa nicht bei sich behalten kann, haben wir „nur“ die Scham gekannt. Wer setzte die gefühlsmäßige Sicherung dagegen, das Denken schon für Existenz zu halten, um sich mit seinen nach außen gewendeten Vereinbarkeiten beschwichtigt ins eigene Fleisch zurückziehen zu können?

Wir waren bedient von der Analogie und machten uns auf den Weg nach Steinstücken, passierten die schmalste Einfassung der Landesgrenze, die Bernhard-Beyer-Straße in sengender Hitze. Es war Mittag, wir waren die Einzigen in dieser Strasse. Über das öde Niemandsland hinweg drang aus den hoch aufgeschossenen Kontrolltürmen anzügliches Lachen gutgelaunter VoPos zu uns herüber. Ihre Scherzlaute galten uns, sie hatten uns im Visier welcher Apparate? Sicherlich hätten sie über Hautunreinheiten in unseren Gesichtern mehr aussagen können, als wir über die Unreinheiten von Spekulation jenseits der Scham, auf der Seite des Überdrusses, wissen konnten.

 

 

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Weiterführend → 

Lesen Sie auch das Kollegengespräch, das A.J. Weigoni mit Angelika Janz über den Zyklus fern, fern geführt hat. Vertiefend ein Porträt über ihre interdisziplinäre Tätigkeit, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ebenfalls im KUNO-Archiv: Jan Kuhlbrodt mit einer Annäherung an die visuellen Arbeiten von Angelika Janz. Und nicht zuletzt, Michael Gratz über Angelika Janz‘ tEXt bILd