Nachtfahrt

Im Rauschen unablässig fallenden Regens löste sich das Zuggeratter auf, ein Innengeräusch, das auf der Wahrnehmungsfolie rasender Vorwärtsbewegung drinnen und draußen miteinander vernähte. In durchnässter Kleidung ließ ich mich in den noch angewärmten Sitz am Fenster fallen, während einige Abteile weiter eine Schiebetür heftig geschlossen wurde. Die Metaphysik, in welche ich das Schicksal habe, verliebt zu sein…mit leiblichen Augen, darin ich mich selbst beschaue…: Wie viele Dinge gab es noch, die ich nicht einsah? Und wieviele Dinge gab es d o c h!, die ich alle nicht brauchte! Meine Hände tasteten sich an den Polstern entlang zu den unbequemen Kopfstützen, den offen gelassenen stinkigen Aschenbechern, den e periculoso-Haltegriffen, fettig, Menschenfett! Das Schwitzwasser an der nachtdunklen Scheibe, ein rauchstinkender Extrakt, er schmierte. Eine Coladose, platt getreten, schepperte durch das Abteil und erzeugte eine nervöse Rhythmik ohne ersichtlichen Antrieb. Ja, mich umgab tatsächlich das Schattenbild der Einsicht, eine undisziplinierte Tapete der Wirklichkeit, wie man sie aus den ganz großen Denkhäusern kurz vor einem aufwendig angekündigten Empfang kennt. Vertrauen auf die eigene Kraft lässt das Denken selbständige Bahnen einschlagen, – allein, ich bildete mir nicht einmal mehr ein, jene Art von Erscheinungen wahrzunehmen, die man täglich bei völligem Wachsein registriert, damit man nicht vergisst, dass zwei Dinge zugleich nicht denselben Raum einnehmen können. Ganz angefüllt mit den Geräuschbotschaften meines Unterwegsseins im fremdgerichteten Bewegtwerden hatte ich nicht bemerkt, dass der Schaffner eingetreten war. Seine wie für Prüfzwecke geborene Hand hatte sich Zutritt verschafft. Es knisterte. In  seiner bauschigen trockenen Regenhaut über der Uniform ähnelte er entfernt einem Engel, und auch seine Stimme besaß einen überwiegend gütigen Klang. Betrachtete er nicht das  nass gewellte Stück Papier, das ich ihm mit großartiger Geste in die für nur wenige Gesten und Gebärden präparierte Hand gelegt hatte, – unter Aufbietung aller ihm zur Verfügung und im Gedächtnis haftenden Imaginationskraft,- so wie Gary Grace mit den Augen verschlingt, als sie ihm verspricht, seinen Doppelgänger zu überführen, und zwar so, dass für immer ein innerer Unterschied übrig bleibt, der  sich dadurch verrät, dass die Oberfläche, die den Falschen, den Verkleideten umschließt, dem Original unmöglich angehören konnte?

Eine ungewöhnliche…

Fahrt, ja, Fahrt, oder?

Fahrt hin, Fahrt her, Sie sind doch dunkel!

Diese Worte hatte es gegeben, jedes Wort für sich genommen belanglos, im fast betonungslosen Aussprechen flüchtig wie der Bildwechsel in einem Werbefilm.

Schweigen, Geratter, Krise, Blüten treibende Krise. Die Tapete fremdgewollten Sprechens schwoll merklich zu einem Relief an, das ich aus fernen Tagen wiedererkannte: Ein leichtgläubiger Pilzsammler mit transparentem Körperinnerem stirbt langsam bei vollem Bewusstsein am Fundort seines einmaligen Exemplars, das er ungekocht gekostet haben musste. Die Symptome seiner allerletzten Aufregung und des übereilten Pilzgenusses im Rohzustand sind dieselben. Der makellos gewachsene, ein wenig angebissene Pilz im Moosbett und der sichtbar in der Magengegend plötzlich unterbrochene Blutkreislauf des Finders markieren die plastischen Elemente des Bildes. Grauen, schläfriges Versinken beim Anblick gutgemeinter Bildmuster darin, Spekulationen im Halbdämmer; hinter dem leicht windbewegten Blumenvorhang spitzt verzückt der Engel die Lippen.

Der Mann in der Regenhaut war mein Feind, er war mit Schafsgesicht aufgetaucht, dem sein Wolfshunger den Blick trübte. Ein Kenner der Alltagsmagie weiß die Sympathie, die Wünschelrute, die ungefilterten Ahnungen, die Wirkung fremder Einbildungskraft auf unwissendlich geschwängerte Frauen, die Einflüsse der Mondwechsel auf den gesamten irdischen Organismus sehr wohl einzuschätzen. Nur so konnte ich es mir erklären, dass der Schaffner sich in einen Kellner verwandelte, der mir für Bruchteile von Sekunden ein ungenießbares Gericht vor die Nase hielt. Und sofort darauf schlüpfte in den Kellner die zwielichtige Erscheinung des (bei seinem größten und letzten Coup ertappten) Juwelendiebes von Nizza, und einen Augenblick später ging darin vollkommen die selbstgefällige Gestalt des zu Ansehen gelangten spanischen Piraten auf, der im bewegten Wellengang auf Deck seines Beuteschiffes Haltung zu bewahren sucht angesichts einer fatamorganischen Erscheinung Ihrer Majestät. Und was für den Schaffner mein zweifelhaftes Papier, für den Kellner das obszöne Gericht, für den Juwelendieb das attrappierte Geschmeide, für den Piraten der Königinnenkuss bedeutet hatte, das muss sich jetzt, für einen erfahrenen Leser dieser Zeilen, als Verwandlungsbild einer geschnitzten Negermaske aus dem achtzehnten Jahrhundert bewähren, und es muss auf Endgültigkeit beharren. Die Oberfläche einer Attrappe kann die seines Vorbildes, des Originals, durchaus, nein, unbedingt mit einschließen. Ja, Vertrauen auf die eigene Kraft lässt es sein: das Denken.

Meine Kleidung lud sich warm auf und dampfte, seine unter dem Transparent geschützte Uniform galt in diesem Nebel nichts mehr. Aber wie viele Dinge gab es noch, die ich brauchte? Und wie viele Dinge gab es doch, die ich einsah! Die Luft, die unseren Abstand füllte, war vergiftet. Die Fahrt sollte zu den schwimmenden Inseln gehen, auf denen das Leben eine sekundäre Rolle spielte, sofern es der Zukunft angehört, deren Machenschaften längst durchschaut sind, zu den schwimmenden Inseln, auf denen sich die Vergangenheit in improvisierten Kapiteln völlig unspektakulär wiederholen, spiegeln, verdoppeln, vermehren, vervielfältigen, zersplittern, zerfasern darf,- und, wenn es dort überall zu eng wird: steigern muss.

Wie unkontrolliert war doch die Faust, als sie – nicht zuschlug sondern – etwas Wichtiges umklammerte! Ich wollte ihm nichts weiß machen, –  im Licht der schwachen Leseleuchte, die ich eingeschaltet hatte, war nichts zu beschönigen. Er stand versteinert im faden Licht, Fadlicht, feingepixelt mit dem Geruch nassen  Stoffes, er schwankte ein wenig, ohne von der Fläche, die seine großen Dienstfüße bedeckten, auch nur einen Zentimeter freizugeben, worüber grübelte er ? Meine anfängliche Neigung für ihn war schließlich, ich betone: einer  wiederum anonymisierten Ahnung gewichen – immer will der Wunsch hoch hinaus, selten verkriecht sich das Ideal! Ich ahnte: dass es mit uns weiterging, dass mit uns der Waggon auf die Grenze zu und durch ein von Schlafenszeit zerrüttetes Land schaukelte. Später würde er verschwinden, und alle, die das Wort Erscheinung aussprechen können, werden einer Krise das Wort reden, wenn es weiter so regnet. Eine widerspenstige Tapete kann Räume füllen, ohne, dass heute jemand verwirrt wegschauen muss. Aber du wirst vom Geiste weggeführt, ohne das Gleis verlassen zu müssen, in Häuser anderwärtig und auf Gefahrenstellen, wirst die massige Dunkelheit der Wälder und vereinzelt eine menschliche Regung wahrnehmen müssen aus den hier und da übernächtigten Fenstern ihrer Behausungen, jetzt ist die Zeit für ein Comeback der Gemütlichkeit angebrochen.

Jemand hat sich schon einmal, beim lustvollen Anblick einer künstlichen Torte, ohne mit der Wimper zu zucken, auf die Zunge gebissen.

Böse Bilder rächen sich auch später nicht aber spätestens.

 

 

Angelika Janz

Weiterführend → 

Lesen Sie auch das Kollegengespräch, das A.J. Weigoni mit Angelika Janz über den Zyklus fern, fern geführt hat. Vertiefend ein Porträt über ihre interdisziplinäre Tätigkeit, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ebenfalls im KUNO-Archiv: Jan Kuhlbrodt mit einer Annäherung an die visuellen Arbeiten von Angelika Janz. Und nicht zuletzt, Michael Gratz über Angelika Janz‘ tEXt bILd