Kurze Begegnungen

1

Sie trafen sich am Beethoven vor der Alten Post. Die junge Frau im blauen Rock war ganz aufgeregt vor ihrem ersten Rendezvous. Fast pünktlich erschien ein Herr, der zur Beschreibung passte – ein Kopf größer als sie selbst, so gut wie schlank, schwarze kurze Haare, Brille. Er sieht ungefähr so aus wie Bert Brecht, das ist er, dachte sie. Er wartete auch, das merkte sie bald. Aber er schaute sich nicht nach ihr um. Schließlich fasste sie sich ein Herz und fragte ihn: „Warten Sie vielleicht auf mich?“ „Nein“, sagte er, „ganz bestimmt nicht, tut mir leid, ich warte auf eine rothaarige Dame.“ „Ach so“, sagte sie. „Warten wir zusammen“, schlug er lächelnd vor, „das ist halb so schwer.“ Er meint geteiltes Leid, dachte sie. Er fing an, ihr zu gefallen. Sie unterhielten sich über das Wetter, dann über Beethoven, die Stadt und die Menschen in den Straßen, die neuesten Moden und die Sprache der jungen Leute, schließlich über die Liebe –  und sie verstanden sich gut und immer besser. Es regnete auch nicht. Die Minuten vergingen immer schneller. Sie hoffte schon auf das kleine Wunder. Da erschien die Rote. Er verabschiedete sich von der jungen Frau im blauen Rock, indem er ihr ziemlich tief in die Augen schaute. Sie senkte ihren Kopf. „Ich will meine Zusage einhalten“, sagte er noch. Die blaue Dame schaute zur roten, die rote zur blauen, die nun wieder wartete. Umsonst. Der Herr, den sie erwartete, erschien nicht.

2

Er – Informatiker, Geschäftsmann, so ähnlich hatte sie es im Kopf behalten. Er holte sie vom Bahnhof mit dem Auto ab und fuhr ins Villenviertel. Er parkte unter Platanen. Sie stieg aus und stand vor dem Haus, das er bewohnte. Es war heiß, auch hier im Schatten. Jugendstil, sagte er, 1898. Im Kamin, vor dem zwei riesige Sessel standen, leuchteten und knisterten Holzscheite hinter Glas. In den Regalen standen nur Bücher mit Goldschnitt. Im japanischen Garten zeigte er ihr seine Modelleisenbahn, Spur Null. Mitten in der zwischen Beeten eingebetteten Gleisanlage, zu der ein Steg über ein Gebirge führte, stand der Kaffeetisch. Er fuhr auf einem Güterzug den Kaffee heran, Milch und Zucker, Plätzchen und Kuchen. Er sprach von seiner letzten Geliebten, Vorzüge und Nachteile abwägend. Sie hörte zu und sagte nur Ja und Ach oder So und Wie … Schließlich steuerte er einen Personenzug heran. Im leeren Kohlenwagen der Dampflokomotive lagen zwei Diamantringe. „Das sind unsere Freundschaftsringe“, sagte er. – „Oh.“ – „Die tragen wir, solange wir zusammen sind.“ – „Oh“, sagte sie noch einmal.

3

Ein Clochard hat keine Wohnung, aber ein Kunsthistoriker, dachte sie, ist etwas ganz Feines. Wenn der Mann auch noch richtig im Leben steht, habe ich das große Los gezogen. Und wenn er mir Jonathan Meese oder Neo Rauch erklärt, vielleicht verliebe ich mich dann in ihn… Sie trafen sich am Eisernen Steg. Er zeigte auf den hohen Kirchturm, sie gingen über den Römer zum Dom. Er erklärte ihr alles, die Gotik von außen, die Gotik von innen, sie hing an seinen Lippen und ließ sich von ihm in einen nahegelegenen Weinkeller ziehen. Sie setzten sich an einen Tisch im Gewölbe. Am Nebentisch umarmte ein junger Mann seine Geliebte, die sich an ihn schmiegte. Vielleicht liebt er mich bald wie der junge Mann, dachte sie. Sie bestellten Wein und Käse. Sie sprachen über die Kunst und das Leben. Er bestellte wieder und wieder Wein. Und wieder und wieder sprach er über das Leben und die Kunst und die Kunst des Lebens. „Die Liebe“, sagte er, „braucht nicht viel, im Idealfall gar nichts.“ Sie verschluckte sich. „Die Liebenden“, sagte er nach dem dritten Glas Wein, „erschaffen sich überall, in ihren Gedanken oder unter den Brücken am Fluss einer großen Stadt…“ Sie schaute auf die brennende Kerze auf ihrem Tisch. Aber die Zeit wollte nicht vergehen. Sie nippte an ihrem Merlot, spießte ein Käsestückchen nach dem andern auf, und als ihr Begleiter das nächste Glas Wein bestellte, schaute sie wieder hinüber zum Nebentisch, wo der junge Mann sein Mädchen fragte: „Gehen wir zu dir oder zu mir…?“ Da nahm sie ihre Tasche, stand auf, sagte: „Ich muss mal…!“ und stieg die Stufen hinauf zum Ausgang in die freie Nacht.

4

Samstagvormittagspublikum auf dem Münsterplatz. Töpfer- und Glasmarkt. Eine Dame mittleren Alters nimmt aus einem Regal ein Trinkglas, das in einem anderen steckt. Das zweite Glas hängt am ersten, die Dame erschrickt, sie stellt die Gläser zurück und stößt dabei so heftig mit dem Arm gegen das Regal, dass es umkippt und alle Gläser zu Boden fallen und in Scherben gehen. „In solchen Momenten lernt man, jedenfalls im Kinofilm, den Mann seines Lebens kennen“, bemerkte eine Frau, die das Geschehen beobachtete, lächelnd. „So einen Mann gibt es eben nicht“, sagte die Dame, „aber Scherben bringen Glück!“

5

Der Psychologe, den sie in der Abendstunde traf, hatte eine erwachsene Tochter, die in ihrem Schlafzimmer Chinchillas hielt. Er erwähnte, kaum hatte sie sich im Café gesetzt, er vergleiche alle Frauen gern mit Autos. Der Kaffee war noch nicht bestellt. „Meine Ex-Frau zum Beispiel“, sagte er, „war ein italienischer Sportwagen.“ „Aha“, sagte sie, „können Sie das präzisieren?“ „Ja“, meinte er, „Alfa Romeo Spider, in rot.“ – „Und wie schätzen Sie mich ein?“ „Das wird sich zeigen“, meinte er. „Ich will wissen, was Sie jetzt sehen.“ „Soweit ich sehe, guter Mittelklassewagen…“ „Steigen Sie bitte aus, gehen Sie zu Fuß weiter“, erwiderte sie, stand auf und verließ das Café. Sie hat keinen Humor, dachte er und blieb sitzen. So ein ungehobelter Klotz, dachte sie, von Frauen keine Ahnung, von Autos schon gar nicht.

6

„Ich bin Schriftsteller“, sagte der Herr mit der Baskenmütze. Sie nahm die Espressotasse vom Mund und stellte sie ganz langsam auf den Tisch. „Und worüber schreiben Sie?“, fragte sie. „Über kurze Begegnungen“, antwortete er. „Na dann…“ „Nein, machen Sie sich keine Gedanken, ich schreibe nur über scheiternde Begegnungen.“ „Scheiternde…“, wiederholte sie. „Ich fasse den Begriff sehr weit.“ „Aha.“ „Wenn man genau darüber nachdenkt, sind wir alle zum Scheitern verurteilt“, sagte er. „Schreiben Sie, was Sie erleben, oder erleben Sie, was Sie schreiben?“ „Schwer zu sagen“, sagte er, „Sie schreiben ja quasi mit.“ „Das kann auch ein langer Roman werden“, sagte sie und schmunzelte. „Ach was“, sagte er, „kommen wir zum Thema.“ „Wie Sie wollen“, sagte sie, „ich mach’s kurz: Wir scheitern!“ „Aber dann…“ „Ja“, sagte sie, „dann haben Sie mehr davon“, stand auf und ging.

7

„Einmal lief ich in der Nacht ganz vorsichtig nach Hause“, erzählte Toussaint, „vorsichtig wegen dem Glatteis, das unter der dünnen Schneedecke lag. Da hörte ich hinter mir Schritte, die immer näher kamen, und eine Stimme sagte: ‚Kann ich Ihnen helfen?’ Die Worte kratzten in der eisigen Luft. Ein kristalliner Tenor. So sprechen Schauspieler, dachte ich. Die im Netz der Kälte eingefrorene Stimme kam mir bekannt vor. Ich wagte nicht, mich umzudrehen, obwohl ich sehr neugierig war zu erfahren, wer mir behilflich sein wollte. Ich hatte Angst zu fallen, mit jedem Schritt spürte ich die Drohung der Gravitation. Ich erblickte schon die an mir vorbei stoßende Wölkung des im Laternenlicht glitzernden Atems, als eine Hand meinen Arm ergriff und mich hielt, dann schob sich ein lächelnder Kopf vor – es war Tom, mein Nachbar! Kaum erkennt er, wem er da so liebenswürdig hilft, zieht er ruckartig seine Hand wieder zurück, seine Augen vereisen, das Gesicht verzerrt sich … und, den Mund aufstülpend, schubst er mich auf dem Glatteis von sich weg und rennt an mir vorbei auf und davon.“ Toussaint starrte mich an, öffnete die Arme und schwieg kopfschüttelnd. „Und dann?“, fragte ich. „Ich weiß es nicht“, sagte Toussaint leise, „ich glaube, er war so überrascht, mich zu treffen, dass er seine Enttäuschung nur dadurch überwand, dass er im Moment des Erkennens für immer mit mir brach.“ Toussaint schaute mich an, als erwartete er meine Zustimmung. „Das kann ich nicht glauben“, sagte ich. „Ich habe keine bessere Erklärung“, sagte er und schaute mit halb geschlossenen Augen ins Leere, „anders kann ich ihn nicht retten.“ „Muss das sein?“, fragte ich. „Ja“, sagte Toussaint, „es geht ja auch um mich.“

8

Les fleurs du galant

Nach vielen Jahren traf ich eine alte Freundin auf dem Blumenmarkt in der Stadt meiner Jugend. Wir standen neben den Vasen mit den Margeriten. Ich war neugierig zu hören, was sie in ihrem Leben erfahren hatte, wie es ihr geht, aber ihr lief das Herz im Mund über: „Stell dir vor, eben wurde ich auf meine alten Tage von einem Mann angesprochen. Das ist mir lange nicht mehr passiert. Als ich eine junge Frau war, vielleicht gerade noch ein Mädchen, lief mir ein Bildhauer mitten in der Stadt in den Weg, sah mich an und sagte: Ich male Sie und schlage Sie in Stein! Ich war perplex, er fasste mich an der Hand und zog mich in sein Atelier, nicht weit von der Stelle, wo mich eben der Mann ansprach, ein seriöser Herr ungefähr in meinem Alter, sehr gut aussehend. Er starrte mich schon von weitem an, und als ich unter die Arkaden der Kaufhalle abbog, folgte er mir und holte mich bald ein: Sie haben eine Ausstrahlung!, sagte er, Sie besitzen ein umwerfendes – Appeal! Der Bildhauer sagte: Sie sind nicht nur schön, sondern es geht weit darüber hinaus, Sie haben einen nie dagewesenen Kopf … Den wolle er unbedingt haben, sagte er noch. Der Mann, den ich so sehr verzaubert hatte, fragte mich, ob ich mir meines Charismas überhaupt bewusst sei? Er ergriff meine Hand und schlug vor, mit ihm einen Kaffee trinken zu gehen. Ich fühlte mich überrollt. Ich wand mich aus der Hand und sagte: Nein. Ich weiß nicht, warum ich wieder an den Bildhauer denken musste, der meinen Kopf in wenigen Minuten mehrmals zeichnete und mir eine der Skizzen schenkte, als wir uns verabschiedeten. Der Mann, den ich heute so verhexte, stellte sich mir als Kunsthistoriker vor. Nicht schlecht, dachte ich, aber als er dann vermutete, ich sei gewiss eine Künstlerin, fröstelte mich diese Suche nach Übereinstimmung, oder war es Angst, ich weiß es nicht, eigentlich freute ich mich über die Avancen des Kavaliers, zumal mein Mann immer wieder betont, wie alt wir doch schon seien, sozusagen grabfertig. Vielleicht verstärkten diese Gedanken, die mir durch den Kopf schossen, die Intensität meiner Ausstrahlung, meinem Kavalier stand die Sehnsucht ins Gesicht geschrieben … Wie dem auch sei, ich gab ihm den Laufpass. Mich erinnert diese Begegnung an ein Gedicht von Baudelaire …“

Meine Freundin erzählte das alles so, als hätten wir uns gestern noch gesehen und über alle Dinge des Alltags gesprochen, und mir ging es genauso. „Vor wenigen Jahren“, entgegnete ich, „hat mich nach einem Vortrag, den ich in Ludwigsburg hielt, eine Frau, ungefähr in der Mitte ihres Lebens, angesprochen, im Beisein anderer Gäste: Ihre Worte haben mich ergriffen, sie schmeicheln meinem Verstand, Sie sind ein Mann des Geistes, der den Körper kennt und die Gesetze der Natur!, und gab mir ihre Visitenkarte. Besuchen Sie mich, wann Sie wollen!, und fügte hinzu, es sei ihr heute Abend keinesfalls zu spät. Was tun? Sie rühmt meinen Geist, und meint doch auch andere Kräfte … Ich sah verzückt in ihren Augen die Süße, die verlockt, die Lust die mich zersetzen sollte …“ Die letzten Worte sagte ich mit einem geheimnisvoll verschwörerischen Lächeln zur Freundin, der ich so intensiv wiederbegegnet war. „Ich steckte ihre Visitenkarte ein und sagte mit einem abfedernden Lächeln: Ich fühle mich sehr geehrt von Ihren Worten, Madame. Ich ließ offen, was nun geschah.“ – „Deine charmante Bittstellerin muss gedacht haben: Ein Blitz – nun geht er in das Dunkel hin …“, sagte meine wiedergefundene Freundin. – „Ja“, sagte ich, „wir wissen voneinander nicht, wohin wir gehen.“ – „Du hättest die Gelegenheit beim Schopfe packen sollen“, sagte sie. – „Vorbei“, sagte ich, „vorbei. Komm, gehen wir Kaffee trinken …“

9

Wiedergefunden.

In unserer Zeit, in der das Wünschen selten hilft, musst du deine Welt selber erschaffen. Wie lange sie hält, was du dir versprichst, ist eine andere Frage. Aber in Bayern, wo die Sonne auf grüne Auen und Berge scheint, die kühle Schatten aufs Land werfen, ist die Welt noch so natürlich, dass keiner staunt, wenn alle Sorgen wie Morgentau vergehen; falls man sich zu helfen weiß. Denn der liebe Gott wohnt nicht im Himmel, wo er sich langweilt, sondern in den Menschen. Manchmal passiert auch ein Wunder, das bei Licht besehen gar kein Wunder ist…

Die Geschichte, die sich wirklich ereignete, begann vor guten fünfundzwanzig Jahren, als ein junger Architekt seine Braut küsste und zu ihr sagte: „Bald blüht unsere Liebe noch stärker auf. Wir heiraten und bauen uns ein eigenes Haus.“ „Und Friede und Liebe soll darin wohnen,“ sagte die schöne Braut liebevoll lächelnd, „du bist mein Ein und Alles, ohne dich möchte ich lieber…“  „Schsch …“, unterbrach er sie. Und ein Frosch aus Samt mit gläsernen Augen war ihr heimlicher Trauzeuge. Zum Zeichen seiner Liebesfeigheit hatte sie ihm den Frosch geschenkt: „Quak quak, ich bin der Wasserpatscher!“ Da hatte er laut lachen müssen, sie in seine Arme genommen und endlich geküsst …

Er lernte sie lieben und teilte seine Kräfte – denn zuviel ist auch zuwenig – immer besser ein. So gingen die Jahre dahin, sie bauten ein Haus in der Stadt, sie gebar einen Sohn und eine Tochter, und sie hatten viel Liebe und Frieden.

Als die Kinder aus dem Haus waren, fragten sich die Liebenden, was sie zu ihrem Glück noch brauchten. Und weil nichts fehlte, meldete sich die Kälte, und zwischen ihnen öffnete sich das Nichts. Er schlug sein Bett – der Frosch blieb auf dem Regal über ihrem Bett – im Arbeitszimmer auf. „Du schnarchst zu laut“, sagte er. Er klopfte zwar noch einmal an ihrer Tür und sagte ihr guten Abend, aber bald keinen guten Morgen mehr.

Inzwischen war die Dresdner Frauenkirche wiederaufgebaut worden; und die erste Frau wurde Kanzlerin in Deutschland; Papst Woytyla starb, ihm folgte der Kardinalpräfekt der Heiligen Kongregation des Heiligen Offizium; deutsche Truppen kämpften in Afghanistan gegen den Terrorismus; in Amerika wurde ein Schwarzer zum Präsidenten gewählt; die Schweinegrippe ging um in Europa; ein fürchterlicher Tsunami zerstörte Städte an der japanischen Ostküste und brachte die Atomreaktoren von Fukushima zur Kernschmelze; Osama Bin Laden wurde gejagt und in seinem Versteck erschossen; die arabische Revolution brach aus und die Diktatoren stürzten; und der Freiherr von und zu Guttenberg fälschte seine Doktorarbeit; das Ozonloch wird größer und größer, und die Türen im Hause gehen auf und zu, die Frau schnarcht, und der Architekt trägt seine Gedanken immer wie Kleider.

Einmal, in tiefer Nacht, stoßen sie im Flur aufeinander, als er ins Bad will. Er hat die Klinke noch nicht berührt, da öffnet sich die Tür, und keiner sagt ein Wort zum andern. Ihm fällt einfach nichts ein. Sie schaut ihn mit kalten Augen an. Schweigend gehen sie wieder zu Bett, jeder in sein Zimmer. Er kann nicht wieder einschlafen und weint, bis die Sonne durchs Fenster scheint. So will ich nicht enden, sagt er sich, ich will noch einmal die Liebe spüren. Am nächsten Tag geht er im Internet auf die Suche nach einer Frau. Er staunt, wie sich ihm die Herzen der Frauen öffnen; er gefällt sich in ihren Worten und wählt die liebsten aus. Ich will meine Liebe teilen, mehr will ich nicht, guter Mann, und willst du mehr, so will ich dich satt machen. Er vereinbart ein Treffen auf dem Markt. Morgen um sieben bin ich am Obelisken, schreibt er, du erkennst mich an dem Frosch, den ich in der Hand halte … Schon von weitem sieht er sie am Obelisken stehen, die Beschreibung passt genau, der blaue Mantel, das schwarzrote Halstuch, aber als er näher kommt, erschrickt er – es ist seine eigene Frau. Schnell steckt er den Frosch in die Manteltasche zurück, geht in das Lampengeschäft, und durchs Schaufenster beobachtet er sie. Aber es kommt kein Mann, auch nicht als die Rathausuhr sieben Mal schlägt. Und es kommt auch keine andere Frau. Er fasst sich ein Herz, geht zum Obelisken und fragt sie, auf wen sie warte. Auf ihre Freundin, antwortet sie, aber sie komme wohl nicht mehr. Es ist wie in der Nacht, als sie sich stumm begegneten, nur noch schlimmer.

Das gibt ihm zu denken, und er sagt sich, ich habe meine Frau zwei Mal ausgesucht. Warum nicht ein drittes Mal. Er nimmt den Frosch, setzt sich zu ihr aufs Sofa und lässt ihn sagen, wie jugendlich sie da stand, angelehnt ans Eisengeländer des Obelisken. „Du hast bestimmt auf deinen Geliebten gewartet?“, quakt er. Da muss die Frau lachen, nimmt ihm den Frosch aus der Hand, quakt zurück: „Das stimmt vielleicht, aber mein Geliebter traute sich nicht“, und muss wieder lachen. Der Frosch antwortet: „Wenn du mich lieb haben willst, so will ich unser Glück wieder herauf holen.“ „Was will der Frosch von mir?“ „Schieb mir dein goldenes Tellerlein näher, damit wir zusammen essen“, sagt er. Und eine Weile später: „Ich habe mich satt gegessen und bin müde, mach dein seiden Bettlein zurecht, da wollen wir uns schlafen legen.“ Sie streichelt ihn sanft mit zwei Fingern und sagt ihm in seine schönen und freundlichen Augen: „Du hast dich verwandelt, so verwandle ich mich auch.“ Niemand hätte ihn erlösen können als sie allein. Dann schlafen sie ein, und am andern Morgen, als die Sonne sie aufweckt, sind sie wieder in Liebe zusammen; doch über ihr Geheimnis am Obelisken verraten sie kein Wort.

Aber es geschieht noch etwas. Eines Tages – sie nehmen den Frosch auf jede Reise mit – besteigen sie einen hohen Berg in den Alpen. Oben auf dem Gipfel holen sie den Frosch aus dem Rucksack, stellen ihn auf einen Stein und wollen den zweifachen Zeugen ihrer Liebe fotografieren. Da erfasst ein Windstoß den Frosch und weht ihn weg vom Stein auf den felsigen Boden und von dort weiter zum Rand der Klippe, wo er abstürzt. Sie sehen, wie er im Wind nach unten treibt und immer kleiner wird, bis sie ihn aus den Augen verlieren. Sie steigen hinab ins Tal und rufen die Bergwacht zu Hilfe. Am nächsten Morgen klettert ein Bergführer auf den Gipfel und seilt sich mit Schlingen und Steigklemmen ab. Eine halbe Stunde vor dem Einbruch der Dunkelheit findet er, fast schon auf dem Talgrund, den Frosch in einem Felsspalt, den Kopf angelehnt an den Schnee.

„Er ist unser Wächter“, sagt sie, „er soll immer über unserem Bett stehen.“

Als sie das Schlafzimmer verlassen und sich noch einmal umschauen, starren die zersplitterten Augen des Froschs stumpf ins Leere.

 

 

 

Ulrich Bergmann

Weiterführend →

Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier. Lesen Sie auf KUNO zu den Arthurgeschichten auch den Essay von Holger Benkel, sowie seinen Essay zum Zyklus Kritische Körper.