Unterdrückte Nachrichten

Die frühe DDR war ein Archipel der Angst. Ein politisches Schweigesystem, das sich zwangsläufig in ein literarisches Schweigen hinein verlängerte. (S. 71)

Die intensiven Recherchen und die zahlreichen Publikationen zur systematischen Unterdrückung literarischer Zeugnisse in der Frühphase der DDR und dem nach dem Mauerbau einsetzenden spezifischen Zeitraum des Misstrauens und der fortgesetzten Verfolgung „antisozialistischer, subversiver  Elemente“, haben 25 Jahre nach der Auflösung der DDR-Diktatur einen ansehnlichen Forschungsstand erreicht. Er wird durch die Ergebnisse von Untersuchungen abgesichert, die sich einem der düsteren Kapitel deutscher Literaturgeschichte im 20. Jahrhundert widmen: der Beschlagnahmung von Manuskripten, die gerichtliche Aburteilung der Autorinnen und Autoren und/oder die folgende Beschattung der Verfasser/innen durch die Staatssicherheitsbehörden. Die vorliegende Publikation aus der Feder von zwei renommierten Literaturwissenschaftlern, Ines Geipel und Joachim Walther, beruht auf dem von ihnen gegründeten und zusammengetragenen Archiv unterdrückter Literatur in der DDR. 2001 mit Fördermitteln der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur angelegt, bedient es sich vor allem jener Quellen, die in der Stasiunterlagenbehörde nach 1990 gefunden wurden. Und, wie die beiden Verfasser hervorheben, die Ironie der Geschichte habe es ihnen erlaubt „gänzlich unbenannte Schreibschicksale en détail zu recherchieren, Nachlässe zu sichern, die es öffentlich nicht gab, Materialien zu finden, die eine Diktatur hatte verschwinden lassen.“ (S. 309) Neben diesen ergiebigen Quellen lieferten weitere Recherchen, wie „die Suche von Fremdnachlässen in offiziellen Nachlässen von DDR-Autoren, das Durchforsten von DDR-Literaturzeitschriften und DDR-Tageszeitungen, Gespräche mit Protagonisten ehemaliger subversiver Kunstszenen, zahllose Interviews im gesamten Bundesgebiet“ (S. 309) eine Fülle von Daten, die sich im Titel der Publikation „Gesperrte Ablage“ niederschlagen. Auf 100 Seiten sind rund 100 Namen von Autoren mit Kurzbiografien, der Archivbestand der gefundenen Manuskripte und die nachgewiesenen Veröffentlichungen aufgelistet. Ergänzt werden diese Angaben durch Literaturhinweise, wie die „Verschwiegene Bibliothek“ der Edition Büchergilde, die zwischen 2001 und 2009 zehn Bände mit Werken von in der DDR verfolgter und diskriminierter Schriftsteller/innen herausgab, und einer Liste mit Sekundärliteratur zu diesem Thema.

In ihren Vorworten bedienen sich die Verfasser zweier methodischer Verfahren, um die Mythen und die Machtmechanismen aufzudecken, die zur Kriminalisierung einer widerständigen Literatur führten. Ines Geipel wählt den „Komplex Buchenwald als die zementierte gedächtnispolemische Achse der DDR“ (S. 26), um am Beispiel des Buches „Nackt unter Wölfen“ (Bruno Apitz, 1958) und dessen DEFA-Verfilmung im Jahr 1963 wie auch Lars Försters Publikation „Bruno Apitz. Eine politische Biografie“ (2015) die bewusst verfälschte Legende um die Rettung eines jüdischen Kindes durch kommunistische Kapos als von der SED-Clique inszenierte Machtabsicherung darzulegen. Joachim Walther, der mit seiner Untersuchung „Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik“ (1996) einen zentralen Komplex der SED-Machtausübung, die Zensur und die Überwachung der Autoren, aufgearbeitet hat, erläutert unter der Überschrift „Angstträume und literarische Gegenwelten“ wesentliche Mechanismen, die der ideologischen Legitimierung einer Diktatur dienen. Unter Verweis auf Franz Kafkas Parabel „Vor dem Gesetz“, in dem die Fiktion von dem nicht einsehbaren Inneren des Machtapparats durch die DDR-Administratoren in die Wirklichkeit verwandelt worden sei, charakterisiert er an zahlreichen Beispielen, wie Zensurbehörden und Staatssicherheitsapparat jegliche Ansätze von alternativen literarischen Schreibweisen im Keim erstickten. Noch schlimmer sei die verinnerlichte Angst gewesen, „die als ideologischer Virus in die Innenwelt der Ideen eingedrungen war und dort ihre verheerende Arbeit des Verhinderns verrichtete.“ (S. 33).

Die in zwei große Abschnitte aufgeteilte Abhandlung erfasst im ersten Teil unter der Autorschaft von Ines Geipel den Zeitraum von 1945 bis 1968. Unter der Überschrift ‚Die Stunde Neuschuld‘ bewertet sie den literarischen Neuanfang im Sommer 1947 auf der ersten Thüringer Schriftstellertagung unter der Ägide von Franz Hammer als eine Geburtsstunde der Gruppe 47 Ost. Bereits im Herbst 1947 gerieten einige Autoren,  wie Ricarda Huch, in ihrer Funktion als Ehrenpräsidentin des 1. deutschen Schriftstellerkongresses in das Visier der Ostberliner SED-Clique. Sie floh Anfang Oktober 1947 nach Westdeutschland, ebenso wenig später, Anfang 1948, Theodor Plivier, während Gerhard-Rolf Wenzel, einer der Initiatoren der Gruppe 47 Ost, wegen „Spionage“ angeklagt (angebliche Kontakte zur SPD-Gruppe in Westberlin) zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Die folgenden Ausführungen, die alle mit Verweisen auf Aktenzeichnen belegt sind, zeugen von der systematischen Verfolgung und Aburteilung von Personen, bei deren Festnahme, wie z.B. bei Ursula Adam, ein Manuskript über eine „eiserne Wand“ beschlagnahmt wurde, das als Nachweis für „Agententätigkeit“ diente und zu ihrer Verurteilung führte. Solche Beispiele kennzeichnen die Situation der frühen DDR-Literatur, die einerseits die Terrorherrschaft der Nazis aufarbeiten musste, andererseits den propagandistischen Verlockungen eines staatlich gelenkten Sozialismus nicht auf den Leim gehen durfte. In ihrem Buch „Die Welt ist eine Schachtel. Vier Autorinnen in der frühen DDR“ (1999) hat Ines Geipel das Schicksal von eigenständig denkenden Journalistinnen und angehenden Schriftstellerinnen, unter ihnen Susanne Kerkhoff und Edeltraut Eckert, untersucht. Die eine nahm sich mit 32 Jahren das Leben, die andere wurde zu 25 Jahren Zuchthaus wegen angeblicher Agententätigkeit verurteilt und starb 1955 nach einem Arbeitsunfall in der berüchtigten Haftanstalt Waldheim in Sachsen. Viele andere gingen an den schlimmen Verhältnissen in Gefängnissen und nach Zwangsaufenthalten in Psychiatrien zugrunde.

Es gehört zu den besonderen Verdiensten dieser Publikation, dass sie sowohl die Herrschaftsstrategien der „Einheitspartei“ als auch die individuellen Auswirkungen des geistigen Terrors darlegt. So auch bei der Bewertung des Projekts der Spaltung. Es propagierte nach dem Mauerbau im August 1961 eine staatssozialistische Kulturpolitik, die in der Gestalt der Bitterfelder Produktionsästhetik zur literarischen Verarmung und zur Ausblutung eines ohnehin durch Flucht und Repressionen dezimierten Literaturbetriebs führte. Diejenigen, die blieben, wie Heiner Müller, Wolf Biermann, erhielten Publikationsverbot, andere, wie die weitgehend unbekannt gebliebenen Evelyn Kuffel, Jutta Petzold oder Heidemarie Härtl, gingen an den Zwangsverhältnissen zugrunde oder publizierten in Samisdat-Blättern . Ines Geipel listet auch zahlreiche Leidenswege von hoch talentierten Dichtern auf, die infolge ihrer Aufmüpfigkeit und ihrer ästhetischen Radikalität manche Jahre im Knast oder im gesellschaftlichen Abseits verbrachten. Jedes einzelne Schicksal ruft aus der zeitlichen Distanz von über 50 Jahren nach einer Neubewertung des literarischen Kanons nicht nur in der abgewickelten DDR, sondern auch  des gesamtdeutschen Literaturbetriebs, denn selbst diejenigen, die in die BRD flüchteten und dort in die Vermarktungsstrategien der Verlage gerieten wie auch den unterschiedlichen Bewertungsmustern der „Literaturpäpste“ ausgesetzt waren, bildeten nicht das ganze ästhetisch-innovative Spektrum der dritten deutschen Literatur ab.

Mit dem „Machttheater in Betrieb“ setzt sich Joachim Walther im zweiten Teil der Publikation auseinander. Es ist der Zeitabschnitt zwischen 1968 und 1989. Aufgrund der modifizierten Kulturpolitik der DDR fand zunächst zwischen 1972/73 eine Phase der subtileren Überwachung „staatsfeindlicher“ Gruppierung statt, der wenig später drakonische Maßnahmen folgten. Zum ersten Mal regte sich nach dem Wieder-Einreiseverbot von Wolf Biermann in die DDR (1976) der Protest von Schriftstellerkollegen, darunter Sarah Kirsch, Günter Kunert, Jurek Becker. Sie und einige andere durften 1979 die DDR verlassen, während ihre jüngeren oppositionell eingestellten Kollegen entweder nach einigen Haftjahren in die BRD abgeschoben wurden oder nach 1980 ihre „Kunst als außerstaatliches Leben“ (J. Walther) unter äußerst schwierigen existentiellen Bedingungen ausübten. Die Liste derjenigen Literaten, die sich in irgendwelchen Jobs durchschlugen und in den ab 1982 entstandenen Untergrundzeitschriften publizierten, ist lang genug. Joachim Walther hat mit seinen Studien zu Gabriele Stötzer, Ralf-Günter Krolkiewicz, Christian Heckel, Radjo Monk, Sylvia Kabus, Annegret Gollin, Utz Rachowski, Gerald Zschorsch und zahlreichen anderen Autoren markante Beispiele staatlicher Willkür gegenüber einer aufmüpfigen jungen Generation aufgezeichnet. Er belegt sie nicht nur auf der Grundlage von Autoreninterviews. Er lässt neben den Autorenporträts auch Kopien von Abschlussberichten „operativer“ Vorgänge abdrucken, verweist auf Archivmaterialien und auf Verlagspublikationen, die in der Bundesrepublik Deutschland und manchmal sogar noch in der DDR bis 1989 wie auch nach 1990 als Nachweis für literarische Wertigkeit erschienen, und benennt auch externe Fundorte und Archive. Auf diese Weise gibt er für junge Germanisten/innen den Weg frei in die „gesperrte Ablage“, in der sicherlich noch weitere, bislang verdeckte Schätze lagern. Möglicherweise beeinflusst ihre Auswertung den noch nicht abgeschlossenen Kanon deutscher Literatur im 20. Jahrhundert. Auf jeden Fall lohnt es sich, den einzelnen Schicksale nachzugehen, und vielleicht sogar dabei auf die Namen von Autoren zu stoßen, die einst als verfemt galten und nun der Inbegriff von Zivilcourage geworden sind, wie so oft in der Geschichte von Diktaturen.

 

 

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Gesperrte Ablage. Unterdrückte Literaturgeschichte in Ostdeutschland 1945 – 1989 von Ines Geipel und Joachim Walther. Düsseldorf (Lilienfeld Verlag) 2015

Weiterführend → Zur historischen Abfolge, eine Einführung. Eine Rezension von Jo Weiß findet sich hier. Einen Essay von Regine Müller lesen Sie hier. Beim vordenker entdeckt Constanze Schmidt in diesem Roman einen Dreiklang. Auf Fixpoetry arbeitet Margretha Schnarhelt einen Vergleich zwischen A.J. Weigoni und Haruki Murakami heraus. Eine weitere Parallele zu Jahrestage von Uwe Johnson wird hier gezogen. Die Dualität des Erscheinens mit Lutz Seilers “Kruso” wird hier thematisiert. In der Neuen Rheinischen Zeitung würdigt Karl Feldkamp wie A.J. Weigoni in seinem ersten Roman den Leser zu Hochgenuss verführt.