Autark

Schlange, sage ich, was ich dich immer mal fragen wollte: Hast du schon mal einen Liebestraum gehabt? – Ja, sagt Schlange, ich träume von nichts anderem. – Das dachte ich mir, sage ich. – Du hast keine Ahnung, sagt Schlange. – Doch, sage ich, du träumst viel romantischer als ich. – Da irrst du dich aber, mein Lieber! – Egal, sage ich, mich interessiert was ganz anderes: Wenn ich manchmal so träume wie du, sind die Frauen, mit denen ich zusammen bin, immer viel jünger als ich. Heute Nacht lag ich zwischen den Schenkeln einer jungen Frau mit lang wehenden kastanienbraunen Haaren. – Ah, sagt Schlange, da blies dir aber ein scharfer Wind ins Gesicht –. Ach was, sage ich, ich suchte die Nähe dieser schönen Frau! – Du hast doch mich, sagt Schlange. – Deswegen erzähl ich dir das alles nicht, sage ich, ich will wissen, wie alt die Männer in deinen Träumen sind. – Ich schau nicht aufs Baujahr, sagt Schlange, ich achte auf das Wesentliche. – Schlange, sage ich, wenn die Weiber nicht jünger wären als ich, könnte ich gar nicht träumen. – Ich bin autark, sagt Schlange, ich träume immer – auch wenn ich mit dir schlafe.

 

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Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann, Kulturnotizen 2016

In den Schlangegeschichten wird die Dialektik der Liebenden dekliniert. Ulrich Bergmann schrieb mit dieser Prosafolge eine Kritik der taktischen Vernunft, sie steht in der Tradition der Kalendergeschichten Johann Peter Hebels und zeigt die Sinnlichkeit der Unvernunft, belehrt jedoch nicht. Das Absurde und Paradoxe unseres Lebens wird in Bildern reflektiert, die uns mit ihren Schlußpointen zum Lachen bringen, das oft im Halse stecken bleibt.

Weiterführend →

Eine Einführung in die Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier.