Bonjour tristesse

 

Die Sozialreportagen von Christine Kappe lesen sich so, als wolle die Autorin die Tradition des Werkkreis Literatur der Arbeitswelt ins 21. Jahrhundert transformieren. Wie es scheint, hat sie es sich zur Aufgabe gemacht die Erfahrungen, die Lohn- und Gehaltsempfänger in der Hauptstadt von Niedersachsen zu beschrieben. Daß die vorliegenden Beschreibungen als Buch herausgekommen sind, macht aber auch sie zu einer Ware, auch wenn hier der Fall eingetreten ist, daß der Gebrauchswert dem Marktwert über den Kopf gewachsen ist. Um auf die Poesie zu kommen, die sich in der Literatur als Stil offenbart, arbeitet sich die Autorin an der Lüge ab, daß es noch Individuen im alten Sinne gäbe. Wichtig ist ihr dabei die Wechselwirkungen zwischen der Arbeit, den zwischenmenschlichen Beziehungen und der Lebensqualität. Es kommen die abhängig Beschäftigten zu Wort. Der auftauchenden Frage, die bei ihrer vielleicht hochmütig klingt: ist das noch Literatur?

Gegenwartsliteratur läßt sich über ihre Gegenwärtigkeit definieren.

Christine Kappe stellte auf KUNO die Frage: Findet das Heute überhaupt statt? Inspiriert durch den Literaturvermittler und gleichfalls findigen Essayisten Theo Breuer startete Kappe auf KUNO mit dem Essay Das Licht ist mein Thema, nicht der Himmel oder: Ilya Kabakov und das Licht auf meiner Posttour. Diese Autorin wartet in ihren Essays mit skurriler Metaphorik auf. Obzwar sie Sprachwissenschaft und Geschichte studierte, wurde sie nicht verbildet. Gute Autoren erkennt man daran, daß sie besser werden. Kappe exerziert auf lakonische und unterhaltsame Weise, wie ein neugieriges, zwanghaft sprachverliebtes Chamäleon Entfremdung, Fragmentierung und erneute Synthese betreibt. Ihre Essays haben die Tendenz das Ich und seinen Gegenstand zu entgrenzen und diese Entgrenzung sprachlich weiterzutreiben, sie miteinander und mit skurrilen Einzelheiten und Beobachtungen zu vermischen und einfallsreich in surreale Gebilde zu verwandeln. In den Essays geht es wie in ihrer Prosa um die Würde des Schreibenden, um schreibendes Ringen, um poetische Vorstellungen und diese finden sich nicht nur zwischen den Zeilen. Diese Autorin ist eine wilde Denkerin im besten Sinne, der größeren Textsammlung zu den Themen Nacht und Hannover auf KUNO kann man als Vorläufer lesen.

Oder sollte man nach Enno Stahls proklamieren einer Sozial-Realistischen Literatur entgegenhalten: ist das endlich Literatur?

Die Zeiten sind perdü, in denen die engagierte Literatur eine bürgerliche ist. Wie brauchen keinen Dante Alighieri der uns durch die Kreise der Hölle führt. Hangover, so der Eindruck nach der Lektüre, ist die Zentrum der brennenden Langeweile. Die Autorin, selber als Briefträgerin unterwegs, hat ihre niedergeschriebenen Erfahrungen aufbereitet. Ihr Ziel ist es, daß Außenstehende mit den Texten Einblicke in Arbeitswelt und Lebensumstände erhalten, die ihnen ansonsten verwehrt sind. Wir lernen in diesem sozialrealistischen Erzählen Typen kennen, die vorzugsweise am frühen Morgen Zeitungen austragen, daher der Titel. Bisher haben weder der Mindestlohn, soziale Reformen noch demokratische Gebärden die Klassenunterschiede aufgehoben. Und solange es diese Unterschiede gibt sind, ist der Zustand der Demokratie weiterhin bedenklich. In dieser Art von Dokumentarliteratur erinnert Kappe an Erika Runges Interviewsammlung Bottroper Protokolle. Sie gibt Menschen eine Stimme, die selber keine Sprache haben.

 

 

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Vom Zustand der Welt um 4 Uhr 35 von Christine Kappe. Mit 6 Bildern von Irene Klaffke. Pop-Verlag, Ludwigsburg 2016

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Eine Leseprobe finden Sie hier.

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