Der anthropologische Bezug des dichtenden Ichs

 

„‘Subsong‘, ‚whisper song‘ oder Plaudergesang ist ein leiser Vogelgesang: Eine Ansammlung vertrauter Rufe und neuer Lautserien, aus dem Augenblick entstanden, aus Freude.“ So lockt die Werbeabteilung des Verlags neugierige Leser, die über den Umschlag hinaus ihren Blick auf den ersten Lautstotterer geworfen haben: rotten torten stotterdamen / sich zurotterstotterdamendramen / werden … Ähh, verstehe ich Bahnhof? Also zurück zum Klappentext: „Ulrike Draesner schält Stimmen heraus, die wir überhören, folgt den subkutanen Liedern in unseren Metaphern, über ein Dutzend Vögel zeigen Körper und geben Laut.“ Bis zu dieser Feststellung vermag ich zu folgen, dann aber folgt: „ein Kind lernt sprechen, eine Stimme aus dem Aufwachraum erklingt. Wie übersetzen wir uns ‘Natur‘? Und unseren Körper ? Welche Bilder machen wir uns von der Verknüpfung Sprache und Ich? Und was macht die Poesie mit einer Welt, die in den vielfältigsten Zungen erscheint“?

Eine vorläufige Antwort erhält der noch immer rätselnde Leser nach der Titelage auf der Seite 5: Subsong sei eine Art meist relativ leisen Gesangs von Singvögeln. Er unterscheide sich vom Territorialgesang der jeweiligen Vogelart und trete auch „bei Arten auf, die nicht singen, um Reviere zu markieren.“ Und was tun sie stattdessen? Sie plaudern, weil sie „noch nicht um Brutplätze oder Weibchen konkurrieren, oder von erwachsenen Vögeln außerhalb der Brutzeit.“ Soweit, so beinahe verständlich, wenn es nicht zwei unterschiedliche Definitionen von Subsong gäbe. Vorne im Klappentext: Subsong: Das Rauhe am Ton, das Melodiöse. Schönheit und Brechung, Plastikkanister und Idyll, Fremdheit und Schichtung der Zeit (?). Subsong: die Wissenschaft steht vor einem Rätsel, dem Hörer öffnete sich das Ohr.“

Und sieben Seiten weiter: „Der Subsong besteht in der Regel aus Rufen und plappernden Lautserien und kann Imitationen beinhalten. Er ist stark individuell geprägt.“ An dieser Stelle folgt der Hinweis der Autorin, dass die Ornithologie Subsongs lange ignoriert habe, was umso bedauerlicher sei, denn sie sei „Melodie hinter der Melodie, Melodie in Teilen, im Aufbau, auf dem Weg zu etwas Neuem.“ Und wie läuft die sprachlich-untertonige Umsetzung der Subsongs ab? Zunächst vollführt ein Vokabeltrainer das „Einsingen“, wobei lautmalerische Silbensprünge, kindliche Rede, in der Buchstaben verschwinden, poetisch hoch gestochene Ausdrucksformen und vieles mehr sich abwechseln. Beispiele? (p)einkaufen p(.)atürlich … weinend: früchterlich / der russverschleiß (S.15) oder „später steigt feucht das gras / ins herz: das planschrondell / der eigenen tochter rosa-weiß/ -rosa von nichts.“ (S. 13)

Der Vokabeldehner, der sich dem Weitsingen gewidmet hat, wildert in chaotischen Liebesverhältnissen, wie der Text ‚pandora reicht’s‘ (S. 35ff.) zeigt:“… die zweite brust war besser als die gieranie/ mömps und fleichfarbenes äugeln“ (S. 35). Was solche „gepfoppten“ Wortkaskaden im akustischen Reizgedächtnis auslösen, verspürt die Dichterin, die gerade mit dem Christian-Morgenstern-Preis ausgezeichnet wurde, sicherlich  immer wieder. Ihre übermütigen Wort- und Satzabbrüche, ihre überraschenden semantischen Assoziationen und syntaktischen Abbrüche erzeugen beim Hörer unerwartetes Kichern, so als ob … Und die angekündigten Subsongs der Vögel? „lippkarü! lippkarü! (brchnchsprch). Was auf der Seite 57 sich zwitschernd meldet, erweist sich als eine lichttastende Reise durch eine Vogelwelt, in der es, wie erwartet, drunter und drüber geht. In einer „speech of seefee“ jauchzt ein Reiher „hoiiiij hoiiije“ und gleich nebenan tauchen „mücken auch im binsen … / und verfangen küsst‘ ins kissenmoos / das schilf licht fleckenrot mikadolich“. Und in diesem „subsongigen“ Schilf geht so wild zu, dass sich sogar einige Wörter ganz klein machen: „liebe/saus liebes/aus und mücken auch im binsen“ (S. 59). Und wer tobt noch über, unter und durch Seen und Meere? Bekassinen, Möwen, Krebse, Elstern (in einem wunderbaren onomatopoetischen Singsang!), Raben, Spechte, Blaumeisen, Hausrotschwänze und mit vielen anderen auch ein junges Amselweibchen, das leise im März, auf der Antenne sitzend, einen Subsong anstimmt.

Und wie sieht es mit der versprochenen ‚sprch‘ (vgl. S. 57)? Er ist einem beinahe ausgestorbenen Vogel gewidmet, der Waldrappe (Geronticus eremita). Dank eines Artikels aus der Hand des Tierschützers Daniel Lingenhöhl (Eintrag vom 9.September 2009 bei Google) kann sich auch der Leser über diesen Vogel informieren, der im Mittelalter in Europa so verbreitet war, und dann wegen seines wohlschmeckenden Fleisches von den Menschen beinahe ausgerottet wurde. Ulrike Draesner setzt sich in ihrem Text mit der ironischen Anspielung „jetzt wird wieder in die näpfe gespuckt …“ und der anschließenden Lautmelodie „grigriigriiigriii …“, den imitierten Rufen der Waldrappe, mit der Tatsache auseinander, dass Tierschützer sich für die Wiederansiedlung der wenigen Vögel in den Alpen einsetzen: „es lernte die waldrappe nun fliegen / hinter dem leichtmetall – aufzucht nach / hand renatur.“ (S. 80) Seit 2004 nämlich geleiten sie mit Leichtmetallflugzeugen die Waldrappen jeden Herbst bis an die Küste der Toskana, von wo aus sie ihren Weg nach Nordafrika finden, um dort zu überwintern. Doch so tröstlich und ermutigend die Rettung dieser Vögel auch sein mag, der sarkastische Kommentar der Dichterin spricht Bände für den Zustand unserer Erde: „die rosanackten Köpfe, / … /über den spiegel zogen / von einem naturschutzgebiet / zum nächsten see / wäre es da nicht einfacher / eine neue erde / (sag mal) zu b-b-b-b-auen?“ (S. 81)

Je weiter der Leser in das mit immer neuen Überraschungen ausgestattete Reich der unerschöpflichen Subsongs vorstößt, desto mehr entdeckt er die untertonige Klangwelt unserer Vögel. Die auf leider nur drei Seiten (S. 227ff.) festgehaltenen Erläuterungen der Autorin helfen ihm sicherlich dabei. So wie das Motto ‚sub aus dem kollektiven ohr‘, das einem Brief von Francesco Petrarca über die Besteigung des Mont Ventoux am 26. April 1336 entnommen wurde, oder die Entstehung des Zyklus Beatles-sub-songs. Aber es tauchen auch viele andere musikalische Motive auf, die an dem Ohr des Lesenden vorüberrauschen, aber sicherlich viele Aha-Erlebnisse auslösen, wenn die Subsongs im Hörkanal der Rezipienten ankommen. Das bezeugen die sub songs vom berge mit dem anmutigen und zugleich zynischen Text über die Arche Noah ebenso wie der Zyklus sub aus dem sänger song (petrarca/s/tempel), in dem Elemente der visuellen Poesie (Wortkaskaden in Gestalt von Bäumen) auftreten.

Dass Ulrike Draesner nicht zuletzt aufgrund ihres Anglistik-Studiums ein besonders Faible für die englische Pop-Lyrik entwickelt hat, zeig-hören die beatles-sub-songs, in denen weltweit bekannte Songs der Beatles parodiert werden. Da verwandelt sich die berühmte Yellow Submarie in Gelbe Suppmarie und Strawberry Fields in Strohbeerfilz. Was in solchen Passagen ehrwürdige Verteidiger der abendländischen Poesie als Kitsch bezeichnen könnten, erweist sich, wenn auch nicht immer geglückt (vgl. When I’m Sixty-Four mit Im Jahr Sechzig-vier, S. 174ff.), als Unsinnslyrik mit vielen überraschenden Schattierungen.

Und der anthropologische Bezug des dichtenden Ichs zu dieser Art von Lyrik? In dem Text sub aus dem körper (cgl. S. 181-185) gibt Draesner etwas kund, was sie in einem Gespräch mit dem Redakteur der Zeitschrift Ostragehege, Axel Helbig, offenbarte: „Wir haben so viele körperliche Empfinden, die wegen der Armut unserer Sprache nicht erfasst werden kann. Zu dieser sprachlichen Umsetzung müsste auch Mimik und Gestik gehören.“ (vgl.  Axel Helbig. Der eigene Ton 2, Dresden 2014, S. 127) Im „subsong“ spricht sie orphisch-verklärt davon,  dass ihr lyrisches Ich in der Abendstunde ein späterer Geist des normalen betäubten Menschen werde: „denn auch wir hören vögel die es sichtbar / nicht gibt / und haben überall öffnungen für zeiten und / übungen der trance / die ein anderer dem körper / schenkt.“ (vgl. S. 181) Ist es nicht wunderbar, dass ein führender deutscher Literaturverlag einer so experimentierfreudigen Dichterin die Möglichkeit eingeräumt hat, mit ihren phantasiegeladenen Texten in untertonige Bereiche vorzustoßen, die unseren von Stress betäubten Zeitgenossinnen und – genossen so fremd sind? Also auf in die Hörwelten der Ulrike Draesner, in denen wir uns als Artgenossen unserer vom Aussterben bedrohten Vögel und als Zuhörer unserer untertonigen Welt wiederfinden werden!

 

 

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Subsong, Gedichte von Ulrike Draesner. München (Luchterhand) 2014

Weiterführend  Die Redaktion blieb seit 1989 zum lyrischen Mainstream stets in Äquidistanz.

1995 betrachteten wir die Lyrik vor dem Hintergrund der Mediengeschichte als Laboratorium der Poesie

→ 2005 vertieften wir die Medienbetrachtung mit dem Schwerpunkt Transmediale Poesie

→ 2015 fragen wir uns in der Minima poetica wie man mit Elementarteilchen die Gattung Lyrik neu zusammensetzt.

→ 2023 finden Sie über dieses Online-Magazin eine Betrachtung als eine Anthologie im Ganzen.

→  In 2024 stellt die Edition Das Labor ein nachgelassenes Langstreckenpoem von A.J. Weigoni in 366 Strophen vor. Diese consolatio poesiae hat keinen Ort, sie wird für eine Weile im Datennirvana existieren und wie KUNO irgendwann ganz verschwinden.