Ypsilon. Karlyce Schrybyr

Versuch eines kleinen Nachrufs

 

Leider habe ich Karlyce, wie er sich gern nannte, nie persönlich kennengelernt.

Aber da er Texte von mir immer mal wieder in seiner beachtlichen Literaturzeitschrift KULT veröffentlichte, gab es eine gewisse Korrespondenz über die Texte und seine Zeitschrift mit ihm. Hier ein Beispiel – es ist mein letzter Brief an ihn:

Bonn, 18.6.2011

Lieber Karlyce,

mit Freude erhielt und las ich gestern deine (bisher) letzte Ausgabe von KULT. Ich freue mich, dass ich nach langer Zeit mal wieder mit kleinen Zeichnungen veröffentlicht wurde, 7 Stück in deinem letzten Heft, welch eine schöne Ehre!

Ich habe die alten Hefte durchgesehen; erstmals war ich in Nr. 19 dabei, danach weitere 7 Mal. Am meisten bedeutet mir Nr. 26 wegen TERRES, das gehört zum Besten, das ich je schrieb.

Unter den Autoren sind viele, die mir bekannt sind und die darüber hinaus nicht unbedeutend sind, etwa Siggi Liersch, Dieter P. Meier-Lenz, Uwe Pfeiffer (der Hallenser Maler?), HEL, Frank Bröker, Saza schröder, Lutz Rathenow, Hadayatullah Hübsch, Caroline Hartge, Hans-Jürgen Hilbig, Rainer Wedler, Frank Milautzcki … und mir sehr liebe Literaturfreunde wie GudiX, Reliwette, Hans J. Eisel, Eberhard Loosch.

Schade, dass du mit KULT aufhörst. Die indirekte Begründung auf der vorletzten Seite, dass Literaturzeitschriften out sind, stimmt zwar, aber das gilt nur für die erste Liga, nicht für die ziemlich große Welt der äußeren Drittklassigkeit, in der ich mich gut eingerichtet habe und in der ich gern lebe.

Vielleicht startest du wieder etwas, on verra.

Dir lieben Dank für die vielen schönen KULT-Hefte, die ich (wir alle) lesen konnte(n)! Das literarische Niveau war gut, oft hoch, und so gesehen, konnte KULT mit etablierten Zss. mithalten, die z. T. ganz schön langweilige Lyrik und andere Texte sehr bekannter Namen abdruckten und nicht immer genügend junge Autoren entdeckten. Als Herausgeber bist du jung geblieben und humorvoll dazu, und das kann nicht von jedem gesagt werden – wenn ich z. B. an den Poetenladen denke.

Wir bleiben in Kontakt, denke ich, vielleicht nicht nur über kv.“

In seinem EDYTORYAL der letzten KULT-Ausgabe Nr. 33 schreibt KHS lakonisch diese wenigen Worte:

 

„Denn alles, was entsteht,

ist wert, daß es zugrunde geht.“

(Mephisto zu Faust)

 

LAST EXYT KULT

Dys yst dy letzte Ausgabe von KULT als 60seytyges A4-Peryodykum! Eyne Nummer 33 yst eyn orygyneller Moment, leyse „Servus“ zu sagen. Yn der Planung der myr (vermutlych) verbleybenden Lebenszeyt muß ych neue Pryorytäten setzen. Mehr möchte ych dazu hyr nycht bemerken. Ych danke allen, dy mych seyt 1995 myt Texten, Graphyken & Sympathy begleytet haben und wynsche weyterhyn kynstleryschen Erfolg! Ob ych mych yn welcher Form auch ymmer wyder bemerkbar mache, bleybt abzuwarten.

Venceremos – Karlyce Schrybyr

Den nahen Tod vor Augen – was ich beim Lesen dieser Zeilen einfach nicht glauben wollte – bleibt ihm die Kraft und die Notwendigkeit für den Humor in der Anspielung auf Peter Kreuders Lied „Sag beim Abschied leise Servus“ oder in der Ironisierung der Auferstehung bis hin zum politischen „Venceremos“. Gesiegt hat Karlyce schon im Leben, denke ich. Nicht nur seine Zeitschrift KULT, sondern auch seine Texte überleben ihn. Die Erzähl-Idee eines seiner stärksten Texte, „Die Knäbin“, werde ich nie vergessen.

Es war seine Eigenart, gar nicht oder nur stichwortartig zu antworten. Er schickte mir mal seinen Roman DER SCHWIMMER mit Widmung, und ich las ihn. Und ich schrieb ihm darüber. Aber er antwortete nicht. Er schickte mir auch sein Lyrik-Heft „Das Wundern der Romantizierer generiert altmodische Beulen. Gedankengedichte“, erschienen in der Lyrikreihe der Silver Horse Edition, Marklkofen 2011, darin die schönen Verse des letzten Gedichts TRAU(M)SCH(M)ERZ:

 

… wie erniedrigend stolziert

realität außer konkurrenz

das lächeln im traum

ist der schmerz

im leben

 

Karlyce stellte sich gern in den Dienst der anderen. Er schrieb und veröffentlichte viele Rezensionen.

Einer seiner Freunde, mit denen er auch seine politischen Überzeugungen (als 68er) teilte, ist Reliwette, mit dem er sich auch in freundschaftlich-spielerischer und selbstironischer Art gut verstand.

Karlyce liebte das Ypsilon, es gibt Texte und Briefe in y-Schreibung, ich bin nie dahintergekommen, was es damit auf sich hatte – und er liebte die Literatur! Die war seine Religion. Das ist das Wenige, das ich über ihn sagen kann.

(Karl-Heinz Schreiber 16.9.1949-26.5.2014)

 

 

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