Philosophische Aussagen Georg Büchners

Grundsätzlich schreibt Büchner autobiographisch. Das Netz, das die Ideen aus dem Leben fischte, fand er in sich vor. […] Dichtend fand er Zugang zu den überfluteten Gebieten seines Selbst, die für andere Erkenntnisarten unzugänglich waren.

Hermann Kurzke

 

Georg Büchner (1813-1837) rechnete sich zwar nicht zur literarisch-politischen Bewegung Junges Deutschland, teilte jedoch viele Tendenzen mit ihr. In seinen Dramen nahm Büchner den Realismus, das Sozialdrama sowie die Dokumentartechnik in bedeutenden Ansätzen vorweg. Sein philosophisches Interesse galt unter anderem Descartes, und Spinoza, Fichte und Hegel. Da Büchner sich besonders in seinen Dramen mit philosophischen Problemen auseinandersetzte, wird im Folgenden der Versuch unternommen, seine wichtigsten Tendenzen herauszuarbeiten.

Alfieri: E la fama?

Gozzi: E la fame?

Dies ist die ‚Vorrede’ zum Lustspiel „Leonce und Lena“: Dem pathetischen Idealismus des italienischen Dramatikers Alfieri wird der Realismus des Lustspieldichters Gozzi gegenübergestellt, d. h. es wird die Frage aufgeworfen, inwieweit der Mensch ein von der Natur determiniertes Wesen ist; zugleich wirft das Zitat die Frage nach dem Sein und dem Seinsgrund, die Frage nach der menschlichen Existenz, seiner Willensfreiheit, und die Frage nach dem Sinn des Seins auf.

Deterministischer Materialismus

 

Das Gefühl einer überflüssigen menschlichen Existenz stellt Büchner schon in „Dantons Tod“ heraus:

„Das ist zwar sehr langweilig, immer das Hemd zuerst und dann die Hosen drüber zu ziehen und des Abends ins Bett und morgens wieder heraus zu kriechen und seinen Fuß immer so vor den andern zu setzen; da ist gar kein Absehen, wie es anders werden soll. Das ist sehr traurig, und daß Millionen es schon so gemacht haben, und das Millionen es wieder so machen werden, und daß wir noch obendrein aus zwei Hälften bestehen, die beide das nämliche tun, so daß alles doppelt geschieht – das ist sehr traurig.“

Die menschliche Existenz erfährt ihre erste Begrenzung im Naturdeterminismus, der sein Leben zu einer sich immer wiederholenden Alltagsmechanik degradiert. Selbst der Rhythmus des Wachseins und Schlafens ist geprägt von einer Langweiligkeit, die keine Modifizierung, sondern nur einen graduellen Unterschied kennt:

Und ist nicht unser Wachen ein hellerer Traum?

Dantons Tod

Das ist wohl weniger die Vorwegnahme einer Erkenntnis Sigmund Freuds, sondern will besagen: Das Denken des Menschen im Wachsein ist ebenso abhängig von seinen physischen Determinanten wie die Träume im Schlaf: Das Denken ist an eine Vernunft, die sich Gehirn des Menschen als Kontrollinstanz etabliert hätte, nicht gebunden. Menschliche Vernunft gibt es nicht, Vernunft als Ausfluß unseres Denkens gründet sich nur mehr auf die gesetzmäßige Entwicklung des Seins, es ist keine eigene Leistung des Menschen. Überdruß aus Langeweile an der Existenz tritt auch an anderen Stellen auf:

„Die Unterschiede sind so groß nicht, wir alle sind Schurken und Engel, Dummköpfe und Genies, und zwar das alles in einem: die vier Dinge finden Platz genug in dem nämlichen Körper, Schlafen, Verdauen, Kinder machen – das treiben alle, die übrigen Dinge sind nur Variationen aus verschiedenen Tonarten über das nämliche Thema.“ („Dantons Tod“)

Wenn dem Menschen die (schöpferische) Denk-Initiative abgesprochen wird, dann kommt den verschiedenen Denkbegabungen und Denkarten keine große Bedeutung mehr zu. Bei Annahme eines sich entwickelnden Seins ist die Existenz eines dualistischen Prinzips reine Notwendigkeit. Das ist Hegelsche Denkart. Zwei dialektisch widersprechende Pole bilden als  ein Moment der Bewegung eine dialektische Einheit. Analog gilt: Es gibt nur dann gute Menschen, wenn es auch schlechte gibt (Schurken und Engel), es gibt nur dann Genies, wenn es auch Dummköpfe gibt. Wen man betrachtet, daß es Genies nicht nur bei Engeln gibt, so wird der Dualismus des menschlichen Seins gut vorstellbar; diesem Gegensatzkampf entspringt zwangsläufig Neues, d. i. Entwicklung. Wenn man außerdem betrachtet, daß diese vier Eigenschaften zusätzlich in einem Menschen veranlagt sind, findet eine ähnliche Entwicklung im Menschen selbst statt.

Das Materialistische daran ist, daß Büchner in diesem Bild jedes Denken und Handeln auf das je unterschiedliche Zusammenspiel dieser Veranlagungen zurückführt; er sagt ausdrücklich, daß sie im Körper veranlagt, also von der Physis determiniert sind.

Alles Denken  und Handeln mündet in die drei Existenz-Notwendigkeiten des Menschen: Schlafen, Verdauen, Kinder machen. Alle anderen Tätigkeiten dienen der Erfüllung dieser Notwendigkeiten oder sind deren Ausfluß. Selbst eine zweckfreie Tätigkeit würde einem psychischen Zustand entspringen (oder irgendeinem Gedanken), der auf seine physischen Determinanten zurückzuführen ist. Die Psyche wird herabgewürdigt zu einem Hilfsorgan der Physis, einer Art technischem Erfüllungsgehilfen für kompliziertere Abläufe, zu einem Motor des sich entwickelnden Seins.

Danton und wir

Georg Büchners Danton glaubt, eine Marionette innerhalb eines sich in der Geschichte manifestierenden mechanistischen Determinismus zu sein. Er befindet sich in einem doppelten Dilemma: Er durchschaut sein Determiniertsein und muss in seinem radikalen Skeptizismus scheitern, denn er kann nicht ausschließen, dass sein Durchschauen ebenfalls determiniert ist. Daher ist seine Weigerung, weiter als Marionette zu dienen, nur eine scheinbare Entscheidung. Dagegen glaubt sich Saint-Juste als harmonischen Teil des waltenden Weltgeistes. Er verhält sich so amoralisch, dass er sich in einem vergleichbaren Widerspruch befindet. Das ist grotesk: Die Rechtfertigung einer jeden Ethik zwischen beiden Kontrahenten wird durch diese ‚Versuchsanordnung’ widerlegt. Diese These wird verstärkt durch Robespierre, der weder Determinist noch Materialist ist, sondern als Moralist surplus auftritt: An ihm zeigt sich, dass Moral sich in Nichts oder in ihr Gegenteil auflöst, wo gut und böse sich in seiner praktischen Ethik aufheben. Robespierre wird zum Machtpolitiker eines radikalen Relativismus. Nicht die Handelnden scheitern tragisch, sondern die Geschichte, die in Büchners Drama an die Stelle der tragischen Helden tritt.

Aber wie kann die Geschichte tragisch sein, wenn sie nur Zeitraum und Schauplatz blind waltenden Zufalls ist? Wird sie als untragisch entlarvt? Liegt dann die Tragik bei den Menschen, die Geschichte ertragen und tragen, wenn sie nach freiem Willen zu handeln glauben, obwohl sie doch Spielbälle des blinden Zufalls sind, dessen Durchschauen keine Rettung bringt?

Das Tragische läge dann darin, dass es keinen freien Willen gibt und dass der radikal skeptisch Denkende auch dieses Durchschauen in Zweifel ziehen muss – was für ein verzweifelter Untergang! Er zeigt sich auch in Dantons Handeln und Nichthandeln, was dasselbe ist. Danton kann tun und lassen, was er will, es ist zwecklos, weil die Geschichte sinnlos ist.

Danton als dramatisierte philosophische Frage nach Lebenssinn bleibt trotz allem Relativismus und radikalen Skeptizismus ein Stück der Hoffnung, denn das Relative (die andere Möglichkeit) und der Zweifel (auch am Schlechten) schließen die Hoffnung notwendig in sich ein.

Der von der Sinnlosigkeit seines Handelns überzeugte Danton, eine philosophische Spielfigur, versucht durch absolute Weigerung seinen Status als ein mit freiem Willen begabtes Wesen zu beweisen, bis er erkennen muss, dass diese Haltung zwecklos ist. Nirgends ist Zweifeln und Verzweifeln in seiner innigen Verwandtschaft so klar dramatisiert worden wie bei Büchner. Danton verzweifelt, weil er seinen Glauben an seinen freien Willen zu verteidigen sucht. Sein Untergang, den er als die einzige sinnvolle Tat begreifen muss, da sie die Sinnlosigkeit seines Lebens beendet, bleibt aber ebenfalls sinnlos. Büchner verneint also den Freitod als Versuch freien Willen wenigstens im Akt der Selbsttötung zu erschaffen. Am Schluss des Stücks wird der Nihilismus ad absurdum geführt: Es lohnt sich nicht einmal der Tod. Danton beweist, dass wir zur Hoffnung verdammt sind. Mehr haben wir nicht.

Die Poesie Büchners ist kein Opium, keine Religion, kein Versprechen. Kunst, die immer verführerische Betrügerin und Lügenzerreißerin zugleich ist, weitet logische Räume. Die Mythen, Gesichte und Bilder formen Gegenwelten, aus denen der Leser – immer zugleich selbst dichtend, während er liest – immer wieder hart auf die ihn deutende Erde zurückgestoßen wird. Den großen Traum Dantons pflanzend sieht er das unerreichbare Ziel: Ein schmerzloses Sein. An Abgründen vorbeistolpernd rettet er sich in das Leben, das in den Abgrund führt.

Die Psyche als Funktion der Physis – dieser Gedanke geht noch deutlicher aus dem „Woyzeck“ hervor, in dem der Budenbesitzer auf dem Jahrmarkt tierische und menschliche Vernunft vergleicht:

„Der Budenbesitzer (ein Pferd vorführend): Zeig deine viehische Vernünftigkeit. Beschäme die menschliche Sozietät! … dies Tier ist Mitglied von alle gelehrte Sozietät … das war einfacher Verstand.“

Auf Geheiß verneint das Pferd eine Frage.

„Sehn Sie jetzt die doppelte Raison? Das ist Viehsionomik. Ja, das ist kein viehdummes Individuum, das ist eine Person, ein Mensch, ein tierischer Mensch -, und doch ein Vieh, ein Bête. (Das Pferd führt sich ungebührlich auf). So, beschäme die Societé. Sehn Sie, das Vieh ist noch Natur, unideale Natur! Lernen Sie bei ihm … Das hat geheißen: Mensch, sei natürlich! Du bist geschaffen aus Staub, Sand, Dreck? Willst du mehr sein als Sand Staub, Dreck? – Sehn Sie, was Vernunft: es kann rechnen und kann doch nit an den Fingern herzählen. Warum? Kann sich nur nit ausdrücken, nur nit explizieren, ist ein verwandelter Mensch.“

Das Ganze ist ein zynisches Bild des Menschen. In Wahrheit ist der Mensch das Tier. „Der einfache Verstand“ – das ist die bloße Existenz, die Zugehörigkeit zur Societé, er ist das Tiersein des Menschen als physische Existenz.

Die doppelte Raison ist nichts anderes: Die Fähigkeit zu denken hebt den Menschen nicht über das Tier hinaus. Die Vorstellung, der Mensch könne eine Individuum sein, wird in der grotesken Personifizierung des Pferdes absurd. Menschliche Vernunft wird hier zur sinnlosen  Metaphysik, sie wird jeden höheren Sinns beraubt, einem physischen / animalischen Determinismus zugerechnet, der dem Menschen lediglich einen komplizierteren Denk-Ablauf konstatiert als dem Tier, das seine im Prinzip gleiche ‚Vernunft’ (hier eigentlich bloß Verstand) nur nicht explizieren kann. Denken bleibt Selbstreflexion des Seins. Diesen Standpunkt verstärkt Büchner mit der Aussage, dass der Mensch im Grunde nur Materie vorstellt (Sand, Staub, Dreck), mehr nicht. Alles andere ist Illusion: „Willst du mehr sein als Sand, Staub, Dreck?“ muss naturdeterministisch gesehen scheitern.

Dieser ernüchternden Auffassung widerspricht Büchner jedoch mit einem Moralismus, den er von Rousseau bezieht: Das Tier wird im „Woyzeck“ als unideale Natur bezeichnet, an dessen Vorbild der Mensch lernen sollte. „Mensch sei natürlich“ erinnert an Rousseaus „Retour à la nature!“ Denn wenn der Mensch nur ein Natur-Sein vorstellt, ist sein Mehr-sein-Wollen wahnwitzige Illusion, der die Aufforderung zur Besinnung auf das Natürliche entgegengesetzt werden muss, und konsequent wird verlangt, das Natur-Sein zu akzeptieren. Es entspricht dem auch der Satz Rousseaus: „Indem wir lernen zu verlernen, lernen wir.“

Wenn jedoch die materialistische Auffassung folgerichtig durchgehalten werden soll, dann muss auch dieser Moralismus als funktionaler Ausfluss der Materie bezeichnet werden. Dies geschieht bei Büchner nirgends explizit. Allerdings findet sich gerade im „Woyzeck“ eine ausführliche Diskussion über Moral. Moral gründet sich hier auf materielle Verhältnisse: Die Moral des Hauptmanns ist eine andere als die Woyzecks. Doch spürt man, dass es für Büchner eine Moral des Gewissens gibt, diese vermittelt er mit der naiven Figur des Woyzeck. So hält Büchner in Wahrheit an einem höheren Sinn der menschlichen Existenz fest.

Absurdes Sein

Es ist kein weiter Schritt von der Langweiligkeit der Existenz zum Überdruss und vom Überdruss zur Absurdität des Seins.

Oft bezeichnet Büchner den Menschen als Puppe, in „Dantons Tod“ steht:

„Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst!“

Damit leugnet Büchner den freien Willen des Menschen und nähert sich dem philosophischen Determinismus. Im Brief an die Braut (Gießen, November 1833?) heißt es:

„Ich studierte Geschichte der [frz.] Revolution. Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, allen und keinem verliehen. Der einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich. Es fällt mir nicht mehr ein, vor den Paradegäulen und Eckstehern der Geschichte mich zu bücken.“

Hegels Verständnis vom Weltgeist der Geschichte, der bei ihm abhängig ist von den Kräften des freien Willens, von der Entscheidungsfreiheit des Menschen, sich mittels der moralischen Postulate einer Religion und eines von der Vernunft geleiteten Denkens für eine Änderung der Welt wie sie ist einzusetzen, d. h. auf das Durchsetzen der Vernunft als Macht, als gottgegebenen Sinn des Seins zu vertrauen – wird hier umfunktioniert in einen Fatalismus der Geschichte, die nicht vom Menschen gemacht wird, schon gar nicht vom einzelnen:

„Der Weltgeist bedient sich in der geistigen Sphäre unserer Arme ebenso, wie er in der physischen Vulkane und Wasserfluten gebraucht.“ („Dantons Tod“)

Auch hier wird menschliche Geschichte gesehen als physische Funktion. Es ist nicht so, dass ein höheres Wesen einen Teil seiner Vernunft im Menschen incarniert habe, sondern das „eherne Gesetz“ des Seins selbst findet seine Widerspiegelung im Menschen, ein Gesetz ohne Sinn, nicht kontrollierbar, sondern beherrschend. So sind die Begriffe Büchners von „entsetzlicher Gleichheit in der Menschennatur“, „unabwendbarer Gewalt“ und „Zufall“ zu sehen.

Der Mensch als funktionierendes Teil dieses Gesetzes kann es selbst nicht erkennen, er stellt sich Sinn vor, wo Zufall ‚herrscht’. Er hat nicht die Fähigkeit, eine transzendente Position einzunehmen, um von da aus ein Gesetz und sich selbst zu erkennen. (Es sei denn, er würde selbst den Sinn stiften, was dem Mann vom Lande in Kafkas Parabel „Vor dem Gesetz“ nicht gelingt.) Es bleibt ihm also nur übrig, sich ihm zu unterwerfen. Auch das einzelne Genie ist eine Puppe, von den Drähten des Gesetzes oder des Zufalls gezogen, als Schaum auf der Welle der Natur getragen – er bleibt Rad im Räderwerk der menschlichen Gesellschaft, er bestimmt das Räderwerk der Gesellschaft in dem Maße, wie er von ihm bestimmt wird.

Dennoch setzt Büchner Moral. Vom Gefühl des Leidens unter diesem Fatalismus bestimmt („Ich fühlte mich wie zernichtet“) nimmt er, indirekt, einen entscheidenden Satz von Karl Marx sinngemäß vorweg: „Es fällt mir nicht mehr ein, vor den Paradegäulen und Eckstehern der Geschichte mich zu bücken.“ Marx schrieb: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt aber darauf an, sie zu verändern.“ Auch an dieser Stelle wird der Determinismus durch Büchners Widerspruch abgeschwächt – es sei denn, jede moralische und politische Haltung ist Ausfluss des Seins und keine Sache des menschlichen Gestaltungswillens.

„Valerio: … verkündigen …, dass ich vielleicht der  … merkwürdigste [Automat] … bin, wenn ich eigentlich selbst recht wüsste, wer ich wäre, … da ich selbst gar nichts von dem weiß, was ich rede, ja auch nicht einmal weiß, dass ich es nicht weiß, so dass es höchst wahrscheinlich ist, dass man mich nur so reden lässt … man drückt ein klein wenig, und die Mechanik läuft volle fünfzig Jahre.“ („Leonce und Lena“)

Büchner verstärkt die Puppen-Metaphorik (angeregt durch E. Th. A. Hoffmanns mechanische Puppe Olympia). Der Zuschauer fragt sich: Wer drückt den Knopf? Aber Büchner gibt keine teleologische Antwort. Das zeigt seinen kategorischen Zweifel an allen philosophischen Systemen, die versuchen, den Grund des Seins zu erkennen. Büchner vertritt hier einen Wahrheitsrelativismus, mit dem er die Hilflosigkeit philosophischen Denkens demonstriert.

Aufgrund der Absurdität des Seins kommt ihm, das Automaten-Dasein des Menschen als das  wahrscheinliche vor. Es trifft sich dieser Gedanke folgerichtig mit dem Determinismus und Geschichtsfatalismus: Das Automaten-Dasein erklärt ganz im materialistischen Sinn die moralischen und psychischen Verhaltensweisen als physisch determinierte:

„Diese Personen [Automaten] sind so vollkommen gearbeitet, dass man sie von anderen Menschen gar nicht unterscheiden könnte, wenn man nicht wüsste, dass sie bloße Pappdeckel sind; man könnte sie eigentlich zu Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft machen. (1)

Sie sind edel, denn sie sprechen Hochdeutsch; sie sind moralisch, denn sie stehn auf den Glockenschlag auf (2), essen auf den Glockenschlag zu Mittag (3); … auch haben sie eine gute Verdauung, was beweist, dass sie ein gutes Gewissen haben (4) … der Mechanismus der Liebe (5) fängt an sich zu äußern. Der Herr hat der Dame schon einigemale den Schal getragen, die Dame hat schon einigemale die Augen verdreht und gen Himmel geblickt. Beide haben schon mehrmals geflüstert: Glaube, Liebe, Hoffnung! … es fehlt nur das winzige Wörtchen: Amen (6).“ („Leonce und Lena“)

(1) Die Menschen werden als fatalistisch funktionierendes Räderwerk einer materiell determinierten Welt zugeordnet; ihr Funktionieren geschieht in einer Sphäre der entsetzlichsten Gleichheit und Langeweile.

(2) Sie sind moralisch, denn sie halten sich an die Gesetze der menschlichen Gesellschaft (vgl. Camille in „Dantons Tod“,  IV. Akt, Conciergerie). Da sie aber als Automaten diese Gesetze ohne ihr Hinzutun befolgen, besitzen sie in wahrheit keine Moral, genau wie jene diese Gesetze nicht befolgen, weil ihre Automatik eine andere ist. Büchner zeigt eine Welt ohne Moral (vgl. „Woyzeck“, Szene „Beim Hauptmann) – aber das Reflektieren dieser Morallosigkeit impliziert den Wunsch nach einer besseren Welt, einer welt mit einer vernünftigen Moral.

(3) Dieser Satz zeigt bildlich den physischen Determinismus – wir haben keine Seele;

(4) das wird durch gute Verdauung (= gutes Gewissen) unterstrichen.

(5) Auch die Liebe wird als mechanisches Spiel menschlicher oder tierischer Verhaltensweisen deterministisch gesehen (vgl. „Woyzeck“, Szene „Das Innere der hellerleuchteten Bude“).

(6) Das Amen wird abqualifiziert zum bloßen Ritual. Religion verkörpert hier nichts weiter als Erkenntnisunfähigkeit.

Insgesamt wird erneut dem menschlichen Automaten die Fähigkeit selbständigen schöpferischen Denkens abgesprochen, sein freier Wille verneint (vgl. auch den Schluss von „Leonce und Lena“).

Wahrheitsrelativismus

Die Gebrochenheit philosophischen Denkens wird deutlich in der Ironisierung von Fichtes Satz „Ich bin ich“ in der Komödie „Leonce und Lena“:

„Peter: … Der Mensch muss denken. Wenn ich so laut rede, so weiß ich nicht, wer es eigentlich ist, ich oder ein anderer; das ängstigt mich. (Nach langem Besinnen): Ich bin ich. – was halten Sie davon, Präsident? –

Präsident: Eure Majestät, vielleicht ist es so, vielleicht ist es aber auch nicht so.

Der ganze Staatsrat im Chor: Ja vielleicht ist es so, vielleicht ist es aber auch nicht so.

Peter (mit Rührung): O meine Weisen!

Büchner deutet mit der ausdrücklichen Wiederholung seines Zweifels an, dass es ihm auf den erwähnten Wahrheitsrelativismus ankommt. Die Selbstaffirmation als Identitäts- und Existenzbehauptung ist zugleich ein Schlag gegen Hegels Idealismus. Weil unsere ganze Erkenntnisforschung von einem Denken ausgeht, das für Büchner ein automatisches Funktionieren eines fatalistischen Weltgeistes darstellt, ist uns Wahrheitserkenntnis nicht möglich: Wir gehen von denjenigen Bedingungen aus, die wir beweisen wollen. Die Wahrheit der Bedingung (des Denkens) kann nicht mit der Bedingung selbst (dem Denken) erkannt werden. Die Festellung „Ich bin ich“ ist also Behauptung eines Denkens, das sich selbst ausdrückt (Selbstaffirmation).

Hegels Dialektik, die der Materialismus, hier Büchner, kritisch rezipierte, vermag genauso wenig das Wissen über „Ich bin ich“ zu erbringen. Hegel setzte zur Thesis „Ich bin“ die Antithesis „Ich bin nicht“ und gelangte zur Synthesis „Ich werde“. Hegels Denkbewegung mag in sich selbst (logisch) richtig sein und innere Beziehungen (Widersprüche) von einer angenommenen Affirmation ausgehend aufzeigen, die Begriffe in ihrer Bewegung darstellen – sie kann jedoch keinen absoluten Wahrheitsgehalt aufzeigen, denn das Setzen der Thesis bleibt reines unbewiesenes Setzen meines Denkens; von ihm hängt Antithesis und Synthesis ab. Thesis/Antithesis kann als gesetzter Widerspruch schon  ohne Wahrheit sein. Ich empfinde Thesis/Antithesis zwar als Wirklichkeit, aber nur indem ich davon ausgehe, dass Thesis/Antithesis gesetzt werden kann, also existent sei. – Hegels Dialektik bleibt reine Denkbewegung, die das Bewusstsein über die Wirklichkeit zwar steigert, aber in sich selbst (axiomatisch) bleibt.

Als materialisierter Geist (oder vergeistigte Materie), als Wesen, mache ich mich selbst zum Objekt meines Denkens, obwohl ich keine Gewissheit habe, dass ich als Wesen überhaupt bin. Mein Sein als Objekt des Denkens ist eine bloße Konstruktion. Denn das Denken als Folge meines Seins kann sich nicht verselbständigen. Archimedes’ Ausspruch nach der Erkenntnis des Hebelgesetzes: „Man gebe mir einen Punkt außerhalb der Welt und ich werde sie aus den Angeln hebe(l)n“, das sich auch als bildliche Aussage über die Unmöglichkeit, hinter den Sinn des Universums zu kommen, verstehen lässt, besagt: Wahrheit ist transzendent. Vergleiche dazu die doppelte Spaltung des Seins, die für Jaspers im „Umgreifenden“ liegt. Alle Wahrheitserkenntnis bleibt also relativ, stets auf die Annahme bezogen, dass die tautologische Aussage „Ich bin ich“ wahr ist. Denken als eine Weise des Seins kann sich von ihm nicht lösen, es ist Selbstoffenbarung des Seins.

Aber Büchner macht aufgrund dieses Wahrheitsrelativismus die Überlegung Heideggers nicht mit: Auszugehen von einem einfach existenten Sein.

Gegen Hegel richtet sich auch folgende Stelle im „Woyzeck“:

„Doktor: Meine Herren, wir sind an der wichtigen Frage über das Verhältnis des Subjekts zum Objekt. wenn wir uns eins von den Dingen nehmen, worin sich die organische Selbstaffirmation des Göttlichen, auf einem so hohen Standpunkt, manifestiert, und ihre Verhältnisse zum raum, zur Erde, zum Planetarischen untersuchen, meine Herren, wenn ich diese Katze zum Fenster hinauswerfe: wie wird diese Wesenheit sich zum centrum gravitationis gemäß ihrem eigenen Instinkt verhalten? – Woyzeck!

Woyzeck: (fängt die Katze auf): Herr Doktor, sie beißt!“

Hegel wird ins Lächerliche gezogen. Schwerkraft und animalisches Verhalten bestätigen erneut den Primat der Materie. Gott kommt überhaupt keine Bedeutung zu.

Das Sein

Es existieren zwei grundlegende Seins-Erscheinungen: Materie und ihre Ordnung (Geist). Materie als das stofflich Seiende, räumlich Begrenzte, Veränderliche, physisch Wahrnehmbare – Geist als das Materielose, Ordnung, Bewegung, das räumlich und zeitlich Unbegrenzbare. Beide, Materie und Ordnung, sind jedoch nie isolierte Einzelerscheinungen, sondern nur möglich in einer je wechselseitigen Bedingung, einer dialektischen Einheit.

Existierende Materie ist nach Ordnungs- und Funktionsprinzipien angelegt. Es ist logisch, dass solche Prinzipien ohne Objekt nicht existent wären, d. h. sie wären Nichts. Materie, Ordnung, als isoliertes In-Sich-Selbst sind (nach meinem Denken, dem nur subjektive, relative, also axiomatische Bedeutung zukommen könnte) unmöglich, nur existent als Seins-Ganzes. Danach gilt für das menschliche Sein:

Mein Sein erfahre ich sensuell. Ohne jede Materie wäre ich als isolierter Geist ein In-Mir-Selbst, d. i. Nichts. Menschliches Sein ist eine Seinsweise des Seins, indem es neben der nach Ordnungsprinzipien (Gesetzen) angelegten Materie als denkbegabtes Materie-Sein ein Zweites bildet: als Verdopplung des Seins: menschliches Sein ist wie das absolute Sein als dessen Bestandteil wie dieses Selbst die Synthesis aus Materie und Ordnung. Genau wie das absolute Sein als Materie-Geist-Synthesis sich in Bewegung (Entwicklung) befindet, ist das menschliche Sein aufgrund des Denkens in Bewegung und Entwicklung.

Beide Bewegungen sind in Wahrheit nur die eine Seins-Bewegung. Denn menschliches Sein ist als Faktizität des Seins an sich dessen Entwicklungsäußerung, seine kausale Folge, sein differenziertes Sein. So wäre Denken zu deuten als Selbstverdopplung des Seins als eine Seins-Weise. Das Denken entspringt also dem Sein und nicht das Sein dem Denken. Das cartesianische Je pense, donc je suis wird bereits von Büchner unter Vorbehalt nur als erkenntnistheoretischer Rückschluss vom Denken auf das Sein als dessen Bewirkendes akzeptiert. Für Büchner gilt also: Sum ergo cogito.

Determinismus

Die Frage: Wie hält Büchner es denn nun mit der Idee vom freien Willen ist eigentlich schon durch seine deterministisch-materialistische Auffassung beantwortet. So heißt es in „Leonce und Lena“:

„Peter (während er angekleidet wird): Die Substanz ist das An-sich, das bin ich. (Er läuft fast nackt im Zimmer herum) Begriffen? An-sich ist an sich, versteht ihr? Jetzt kommen meine Attribute, Modifikationen, Affektionen und Akzidenzien: wo ist mein Hemd, meine Hose? – Halt, pfui! der freie Wille steht da vorn ganz offen. Wo ist die Moral: wo sind die Manschetten? Die Kategorien sind in der scheußlichsten Verwirrung: es sind zwei Knöpfe zuviel zugeknöpft… mein ganzes System ist ruiniert.“

Dieser zynische Angriff rechnet nochmals mit Fichte („An-sich“) ab und richtet sich gegen Spinoza, dessen Denksystem er für ruiniert hält. – Der freie Wille wird ins Lächerliche gezogen, dessen Existenz im Marionettentheater einer fatalistischen Welt für unmöglich gehalten: es sind zwei Knöpfe zuviel zugenöpft – dieses ironische Bild offenbart den physischen Determinismus des ganzen Menschen. Das wird ergänzt durch folgende Ironie im „Woyzeck“:

„Doktor: Die Natur! Hab ich nicht nachgewiesen, dass der Musculus constrictor vesciae dem Willen unterworfen ist? Die Natur! Woyzeck, der Mensch ist frei, in dem Menschen verklärt sich die Individualität zur Freiheit. – Den Harn nicht halten können!“

In der „Kritik an einem Aufsatz über den Selbstmord“ legt Büchner dar, dass auch der Selbstmord letzten Endes auf einen freien Willen nicht zurückzuführen ist: „Der Selbstmörder aus physischen und psychischen Leiden ist kein Selbstmörder, er ist ein an Krankheit gestorbener.“ Der physische Determinismus wird erneut bekräftigt. Allerdings bezeugt Büchner auch gegen die Verleugnung des freien Willens einen Widerspruch, indem er Freiheit als einen der großen Humanitätsbegriffe herausstellt.

Freier Wille: Das ist das Vermögen, sich unbeeinflusst von den Seinsgegebenheiten für dieses oder jenes Handeln auch entgegen einer ideellen oder tatsächlichen Notwendigkeit zu entschließen. Voraussetzung dafür ist ein Denken, das vom Sein unabhängig ist, also absolut steht. Jedes Denken ist jedoch in der apriorischen Faktizität des Seins verankert. Die Entwicklungsmöglichkeiten des Seins und mithin die Möglichkeiten des Denkens aber sind bereits determiniert durch jene apriorische Faktizität des Seins, die ‚axiomatische Bedingung’ des Seins, die der Axiomatik der Mathematik (zwar unzureichend, aber) anschaulich vergleichbar sind.

Kann der Mensch sein Sein verändern? Der Revolutionär Büchner bejaht diese Frage, die er philosophisch verneint, in pessimistischer Haltung: Das Sein an sich kann er nicht ändern, es könnte nur von einer Kraft außerhalb der Seinskräfte Materie und Ordnung (als einer dialektischen Einheit) verändert werden. Er kann also am Verhältnis von Materie und Ordnung nichts ändern, sein Denken ist von diesem abhängig. Entwicklung des Seins und Entwicklung der menschlichen Existenz sind eins. Eine Veränderung ist nur hinsichtlich der Seinswirklichkeiten möglich, d. h. hinsichtlich der Form, in der sich das Verhältnis von Materie und Ordnung ausdrückt (als Form des konkreten menschlichen Zusammenlebens. Und diese Veränderung wird nur bewirkt durch eine Steigerung des Bewusstseins aus dem Verhältnis von Materie und Ordnung. Dabei kann dem Denken als Folge von Materie und Ordnung keine Initiative zukommen. Nicht das Denken bestimmt das Sein, es ist apriorisch im Seinsgrund determiniert. Die Veränderungen geschehen also gesetzmäßig und unabhängig vom Denken des Menschen (Geschichtsfatalismus / vgl. Brief an die Braut, Gießen November 1833?).

Der Wille ist ein spekulativer Begriff idealistischen Philosophierens, als Freiheit des Denkens gibt es ihn nicht, er ist lediglich Ausdruck eines Bewusstseinszustandes, der bei allen Menschen unterschiedlich stark sein kann.

Veränderungen geschehen in dem Maße, in dem die dialektische Spannung von Materie und Geist dem Menschen Erkenntnisse philosophischer, wissenschaftlicher oder praktischer Art zuführt. So ist die determinierte Funktionalität von ‚Seele’ und ‚Moral’ eine apriorisch im Sein verankerte Seinsfolge. Dementsprechend hält es Büchner auch mit seinem Begriff von Moral. Gut und Böse sind nur mehr Teilerkenntnisse des sich in uns widerspiegelnden Seins und haben eine fest umrissene gesellschaftliche Funktion zu erfüllen: Die Ermöglichung menschlichen Zusammenlebens und Glücklichwerdens jedes einzelnen.

Aber auch das Streben nach Glück, das Glücklichwerden-‚Wollen’ als psychisches Faktum ist eine apriorisch im Sein verankerte Seinsweise.

Atheismus und Nihilismus

Weil Büchner im Ganzen, was die Intention seiner Dramen angeht, ein Bekenntnis zur Humanität formuliert und seine Gottverleugnung Unsicherheit zeigt, ist seine atheistische und nihilistische Haltung eingeschränkt. In „Leonce und Lena“ hält er die menschliche Existenz für absurd:

„Valerio: Das Gras steht so schön, dass man ein Ochs sein möchte, um es fressen zu können, und dann wieder ein Mensch, um den Ochsen zu essen, der solches Gras gefressen.

Leonce: Unglücklicher, Sie scheinen auch an Idealen zu laborieren.

Valerio: Es ist ein Jammer! Man kann keinen Kirchturm herunterspringen, ohne den Hals zu brechen. Man kann keine vier Pfund Kirschen mit den Steinen essen, ohne Leibweh zu kriegen… ich könnte mich in eine Ecke setzen und singen vom Abend bis zum Morgen: ‚Hei, da sitzt e Fleig an der Wand! Fleig an der Wand! Fleig an der Wand!’ und so fort bis zum Ende meines Lebens. … während ich mit meiner gesunden Vernunft mich höchstens noch zur Beförderung der Reife auf einen Kirschbaum verdingen könnte, um – nun? – um?“

Das ist ein Hieb gegen den Utilitismus, eine Lehre, die im Nützlichen die Grundlage des sittlichen Verhaltens sieht – Büchner bezweifelt den Sinn einer solchen Existenz, denn die Wirklichkeit ist erbärmlich.

„Das Muß ist eins von den Verdammungsworten, womit der Mensch getauft worden. Der Ausspruch: es muß ja Ärgernis kommen, aber wehe dem, durch den es kommt – ist schauderhaft. (Matth. 18,7) Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?“ (Brief an die Braut, Gießen, 1833?)

Fast wörtlich kehrt dieser Gedanke in „Dantons Tod“ wieder:

„Der Mann am Kreuze hat sich’s bequem gemacht: es muß ja Ärgernis kommen, doch wehe dem, durch welchen Ärgernis kommt! – Es muß; das war dies Muß. wer will der Hand fluchen, auf die der Fluch des Muß gefallen? Wer hat das Muß gesprochen, wer? Was ist das, was in uns lügt, …“

Es scheint Büchner eine solche Schöpfung absurd, die durch Mitschaffung des Bösen unvollkommen wurde, absurd, weil durch die Schaffung der Freiheit (so die christliche Lehre) die Nichtbefähigung zur Sünde nicht erteilt werden konnte, absurd, weil den Menschen Gebote gegeben sind, die sie nicht halten können. Büchner bezweifelt die göttliche Herkunft einer Schöpfung, wie sie ist. Alle Rechtfertigungsversuche der Theologie, wie sie über einhundert Jahre später Thomas Mann in seinem Roman „Doktor Faustus“ durch Professor Schleppfuß vortragen lässt, sind für ihn unbedeutend.

Mit seinem „Muß“ nimmt Büchner eine Haltung vorweg, die Sartres in „L’Existentialisme est un Humanisme“ entwickelt:

„Nous sommes seuls, sans excuses. L’homme est condamné à être libre. Condamné, parce-qu’il ne s’est pas créé lui-même, … et parce qu’une fois jeté dans le monde. L’homme, sans aucun secours, est condamné à chaque instant à inventer l’homme… L’homme n’est rien d’autre que ce qu’il se fait… La vie n’a pas de sens, a priori, mais c’est à vous de lui donner un sens.“

Freiheit wird von Sartre verstanden als absolute Existenz des Menschen, der ganz auf sich allein gestellt ist, also ohne jeden religiösen Halt. Wenn Büchner den freien Willen philosophisch negiert, so vertrat er, wie Sartre, einen Humanismus, wenn auch durch seinen atheistischen Nihilismus sehr pessimistisch gefärbt. Im „Woyzeck“ gelangt er zunächst zu einer atheistischen Haltung:

„Warum ist der Mensch? – Aber wahrlich, ich sage euch: Von was hätte der Landmann, der Weißbinder, der Schuster, der Arzt leben sollen, wenn Gott den Menschen nicht geschaffen hätte? … Darum zweifelt nicht – ja, ja, es ist lieblich und fein, aber alles Irdische ist übel, selbst das Geld geht in Verwesung über.“

Dieser Zynismus ist das Eingeständnis der Unfähigkeit, die Behauptung der Unmöglichkeit,  einen Lebenssinn zu sehen, zugleich Ablehnung aller teleologischen Erklärungen. In seiner „Kritik an einem Aufsatz über den Selbstmord“ lehnt er auch die Erde als ein „Prüfungsland“ ab:

„Dieser Gedanke war mir immer sehr anstößig, denn ihm gemäß wird das Leben nur als Mittel betrachtet; ich glaube aber, daß das Leben selbst Zweck sei, denn Entwicklung ist der Zweck des Lebens, das Leben selbst ist die Entwicklung, also ist das Leben selbst Zweck.“

Dieses Zitat rechtfertigt den Vergleich mit Sartre.

Die „Philosophenszene“ in „Dantons Tod“ zeigt Büchners Atheismus mit den Worten Thomas Payne’s: Wenn Gottes Schöpfung einen Anfang gehabt habe, dann sprächen die Veränderungen Gottes, die er bei der Schöpfung in sich erlitten habe, und der Begriff der Zeit, der sich auf ihn anwenden lasse, gegen sein Wesen. – Sei eine Schöpfung ewig, dann sei sie nach Spinoza ein Attribut Gottes, dann spräche aber ihre Unvollkommenheit gegen Gott.

Folgende Stelle in „Dantons Tod“ kündigt die Möglichkeit eines Nihilismus an, der nicht unbedingt auf Gottverleugnung basiert, sondern unentschieden lässt, ob es keinen Gott gibt oder einen absurden Gott:

„Man könnte aber auch sagen: damit Gott alles sei, müsse er auch sein eigenes Gegenteil sein, d. h. vollkommen und unvollkommen, selig und leidend; das Resultat freilich würde gleich Null sein, es würde sich gegenseitig heben, wir kämen zum Nichts.“

Danach wäre Gott = Nichts. An anderer Stelle im gleichen Drama heißt es:

„Die Welt ist das Chaos. Das Nichts ist der zu gebärende Weltgott.“

In „Dantons Tod“ ist die Auffassung Dantons mit der Büchners weitgehend identisch:

„… das Nichts wird bald mein Asyl; – das Leben ist mir zur Last, man mag es mir entreißen, ich sehne mich danach es abzuschütteln. … und wenn die höchste Ruhe Gott ist, ist nicht das Nichts Gott? Aber ich bin Atheist. Der verfluchte Satz: Etwas kann nicht zu nichts werden! Und ich bin etwas, das ist der Jammer! – Das Nichts hat sich ermordet, die Schöpfung ist seine Wunde, wir sind seine Blutstropfen, die Welt ist das Grab, worin es fault.“

In diesen Worten wird der Nihilismus erreicht, aber gleich wieder angezweifelt: Etwas kann nicht zu nichts werden. Das zeigt, dass Büchner ein methodischer Zweifler an allen philosophischen Systemen und Ergebnissen ist, er denkt permanent philosophisch, ohne an etwas glauben zu können.

Sein permanentes Zweifeln ist die einzige Begründung für die offensichtlichen Widersprüche in seinem Werk: Einerseits deterministischer Materialismus, andererseits Humanismus als Intention seiner Dramen. Auch der Humanismus unterliegt permanenten Zweifeln, wie sie in der Kritik Dantons an der Revolution zum Ausdruck kommt.

Wenn man Büchner unterstellt, er habe trotzdem nach Glückseligkeit gestrebt, so passt dazu Sartres Wort:

„L’homme est fondamentalement désir d’être Dieu.“

Er selbst lässt seinen Danton sagen:

„Der glücklichste Mensch war der, welcher sich einbilden konnte, daß er Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist sei.“

 

 

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Die Redaktion empfiehlt: Georg Büchner. Dichter, Spötter, Rätselsteller. Entschlüsselungen, von Christian Milz, Passagen Verlag, Wien 2012.

Alexis Muston aus Straßburg fertigte diese Skizze seines Freundes Georg Büchner etwa 1835 an

Weiterfühend → Zum Büchner-Hintergrund lesen Sie auch die KUNO-Artikel von Christian Milz hier und hier.

 Die Gattung des Essays hält das freie Denken aufrecht, ohne, daß der literarische Anspruch verlorengeht.

Zur Gattung der Novelle: „Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg.“
Zur Inszenierung des „Woyzeck“ von Roberto Ciulli im Theater an der Ruhr.