All die schönen Pferde – Unaufhörliches Nachdenken über Heiner Müller

Die Welt ein Brachfeld. Der einzige Pflüger ich./ Der ewige Traktorist, wie lang ist ewig.

Traktor

Es ist hier nicht der Ort für ungebührliche Heiterkeit auf Kosten eines irrend Sterbenden, über den der Alkohol Gewalt hat.

Ulysses

1.

Die Pest als Motor der Neuzeit taucht bei Müller aus den Giftindustrien der Kloake als Kanalisationsproblem auf. In der Keimzeit seiner Isolation denkt er über Daniel Defoe nach. Dessen fiktiver Bericht über einen Londoner Pestausbruch stimmt Müller lyrisch. Es entstehen zwei auseinander laufende Fassungen eines Pestgedichts, das so oder so unfertig bleibt. Die Häuser der Toten sind ledig. Ledig werden sie zu Lieferanten von Brennbarem.

Heiner Müller, Photo: Hubert Link. Quelle, Bundesarchiv.

Müller schreibt Gedichte, wenn ihm für dramatische Arbeiten der Atem fehlt. Die poetische Produktion hat eine gymnastische Funktion. Müller als Akrobat Schön. Er turnt auf der Grammatikmatte. Er exekutiert Streck- und Dehnübungen. – Aufschwünge und pointierte Abgänge. Das alles stets vor dem Hintergrund eines antiken Prospekts wie vor geträumten Alpen. Im Übrigen sind Müllers Verhältnisse prekär. Er ist ein asoziales Element im Arbeiter- und Bauernstaat, ein Schnorrer und Fremdgänger. Wie Joyce in der Gestalt des Stephen Dedalus – ist Müller der exemplarische Sohn seines Landes. Wenn Joyce schreibt, die Signatur Irlands sei der zerbrochene Spiegel einer Magd, dann schreibt Müller: „Die Bundesrepublik kann als Ganzes nicht explodieren, weil sie kein Ganzes ist. … Durch die Unlösbarkeit der Probleme kriegt (hingegen das Leben in der DDR) einen organischen Charakter.“ Das wäre ein Sieg der sozialistischen Natur. In Müllers Biografie toben sich die Widersprüche des real existierenden Sozialismus aus. Diese Widersprüche zerreißen den Staat und machen Müller titanisch. Den erkennungsdienstlichen Behandlungen seiner Kunst widersetzt er sich mit Texten, die sämtliche DDR-Behörden locker überleben.

Wiederholt werden Improvisationen im Grundriss einer an Shakespeare geknüpften Antike-Betrachtung. Müller schreibt: „Zusammen sieht man etwas nur, wenn es auseinander präsentiert wird.“

Er zerlegt die Bedingungen des Theaters: „Die Besucher in Bayreuth sind schon durch die Höhe der Eintrittspreise zu jedem Gefühl bereit.“

Ein Gesetz des Theaters: „Was im ersten Jahr Provokation ist, ist im zweiten Jahr Repräsentation und im dritten die Erfüllung. Theater lebt von Verspätung.“

Eine Variation: „Theater ist generell nicht innovativ. Theatertriumphe sind Arbeiten, die nicht wirklich neu sind, erfolgreich ist das alte Neue.“

Repräsentation ist ein Schlüsselbegriff: Repräsentation führt zu Selektion, folglich ist (bürgerliche) Repräsentation eine Lokomotive auf Gleisen, die in Auschwitz enden. Darunter macht es Müller nie und wenn er noch so pleite ist und weiter nichts zur Verfügung steht als der Deputatschnaps. Den kriegt der wegen einer Müllersache relegierte Tragelehn zu seiner Bewährung. Müller nimmt den Schnaps und überlässt Tragelehn die Werktätigkeit. Viel später springt das heraus: „Welches Grab schützt mich vor meiner Jugend.“

Die emotionalen Ladungen gibt Müller oft als Zitate auf. Brecht, Shakespeare, aber auch Wagner: „Die Revolution interessiert mich erst wieder, wenn Paris in Flammen steht.“ So überliefert sich die Reaktion auf einen Theaterfehlschlag im egomanischen Großwort.

Es gibt Absetzbewegungen: „Im keltischen Nebel“ findet Müller nichts brauchbar, „erst die Renaissance hat die Kulturräume getrennt.“ Womit wir wieder bei der Pest sind – als einer Ouvertüre der globalen Veranstaltung Moderne. Das bricht sich dann an Müllers Vorliebe für das Deutsche. Ihn interessiert „der gotische Brecht“.

Ich setze an anderer Stelle ein:

„Dreizehn Jahre später, wir wohnten in einer Kreisstadt in Mecklenburg, saß an unserm Tisch eine Freifrau, Witwe eines Generals, der nach dem mißglückten Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 hingerichtet worden war, und bat meinen Vater, den Funktionär der neu gegründeten Sozialdemokratischen Partei Deutschlands um Hilfe gegen die Bodenreform.

Seine Mutter hatte, für wenig mehr als Brot, auf einem Rittergut in Sachsen als Dienstmagd gearbeitet, bevor ein Arbeiter sie im Kornfeld des Freiherrn zur Frau nahm.

Er versprach, ihr zu helfen.“

Da ist er, der schwache Vater, vom Sohn verraten. Während Kurt Müller in jedem Deutschland seiner Spanne verliert, gewinnt Heiner schließlich beide Nachfolgestaaten des Reichs. In Müllers Auffassungen der Verwerfungen am Ende des II. Weltkriegs tauchen Großmütter in Kinderwagen auf. Jahre zuvor waren die Pferde eingezogen worden. Ihre aufgeplatzten Kadaver säumen nun die Routen von Flucht und Vertreibung.

Dem im KZ gebeugten Vater droht in der DDR Hohenschönhausen. Da hat Honecker das Dach gedeckt. So ungefähr als Kurt Müller sich in den Westen verzieht, veröffentlicht Hedda Zinner in der Berliner Zeitung (am Abend des 25. Novembers 1952 ihre Ansicht von Moskau:)

Und die ganze Menschheit,

Moskau, blickt dich an:

zeigst du doch, ein Vorbild,

was man schaffen kann.

Nie ward solch ein Reichtum

früher schon geschaut

wie hier, wo ein Volk sich

seine Hauptstadt baut.

Der zurückgebliebene Sohn jubelt ins gleiche Horn. Die Gegner des Sozialismus sind Kannibalen, die kein Fleisch sehen können. Dies als Bild für falsches Bewusstsein.

 

2.

An einem Werkstrang hängen die Leichen von Männern, denen ihre Frauen zum Selbstmord rieten. Ich improvisiere über dieses Thema:

Zu einem Sklavenvolk gehören wir in Schande

Auf Knien kann man nicht gehen. Kein Mann ist ein Krüppel.

Inge wurde mit einem Irrtum getraut und hat den zum Vater ihrer Kinder gemacht. Eine verwaschene Vettel zeigt „diesen gekürzten Gartenzwerg“ aus der Sturmabteilung mit krummen Fingern an, das ist Inges Mutter. Sie kann ihre Hände nicht schließen so verschafft sind die Hände nach einem halben Jahrhundert auf dem Hof.

Der Angezeigte sagt: „Bleib vom Hals mir mit deinen Krähenfüßen.“

Er nennt so die Krallen der Schwiegermutter.

Inge streicht den Krüppel aus ihrem Leben, da sitzt der noch vor seinem Terrarium voller Blindschleichen in einer Remise ihrer Eltern. Schon stört er im aufkommenden Frieden. Er hört den Bierkutscher auf das letzte Pferd im Ort einschlagen. Ohne ein Wort der Verwünschung. Er denkt an Hälften bei einem Pferdemetzger seiner Kindheit an der Flensburger Förde. Die halben Pferde hingen zur Ansicht vor dem Laden. Der Metzger: stets kerzengerade, ein Muster der biederen Ehrbarkeit. Unübertroffen auf seinem Gebiet, der Pferdemetzgerei.

Jeden Morgen wird wer vom Baum geschnitten, bei dem man das nicht gedacht hätte.

Im Lazarett lernten die Stiefel laufen, das geschah noch vor den Amputationen als kein Wunder.

Die schlimme Zeit in den Erzählungen von Inges Mutter. Der Steckrübenwinter bis zur vollständigen Entkräftigung, die Inflation und manches aus der Familie gingen dabei in eins: das war die schlimme Zeit.

„Das ist eine andere Zeit“, sagt die Frau ungeduldig am Küchentisch. Sie streicht die Decke glatt. Immerhin noch eine Decke auf dem Tisch.

„Sie werden dir nie vergessen.“

„Denk an die Mädchen/Töchter.“

„Der Doktor Diepholz hat sich doch auch,“ sagt sie. „Und wenn man bedenkt, wie zimperlich der war.“

Ja, das werden sie ihm nie vergessen, wie er gehaust hat in ihren Nestern. Wie der Mann seine Macht genossen hat, bis die Beine ihm weggesichelt wurden bis zu den Knien. Geschah ihm recht. Überall noch offene Rechnungen. Die Frau wird wohl so freundlich sein, ihm eine Schlinge zu knüpfen auf dem Heuboden der Schwiegereltern.

Er hat eingeheiratet und wie die Made im Speck gelebt und jetzt ist seine Zeit abgelaufen.

Herrgott, wann kriecht er zum Stall, sich darin endlich aufzuhängen.

„Du lässt nichts zu wünschen übrig für mich. Die Russen werden sich auch an dich, die Lütten und Alten halten“, sagt der Mann.

„Sie werden sich um uns gar nicht groß kümmern“, erklärt Inge kategorisch. „Wir werden ohne einen Unterschied für sie sein, grau wie Asche. Ein Sklavenvolk aus Weibern und Greisen und Kindern in Schande.“

„Jetzt tut ihm nichts mehr weh“, sagt die Mutter bald.

Die ersten Russen wollen Wein, sie holen Geschirr aus den Häusern und registrieren die Verlierer auf dem Marktplatz. Sie halten ihre Pferde im Schloss. Das Parkett leidet unter den Hufeisen. Nach den ersten Aufregungen raten die Sieger der Bevölkerung, die Kirche im Dorf nicht länger zu beachten.

Mit bloßen Händen räumt Inge Schutt, eine deutsche Aufsicht im Nacken. Die Männer auf den Baustellen sind gebildete Leute. Zwangsverpflichtete Nationalsozialisten. Lehrer, Architekten, Richter. Sie kriegen Schwerstarbeiterzulage und haben Gerät. Ihr werdet ein Volk in den Griff kriegen müssen, dass euch hasst, denkt Inge. Die Losung der Kommunisten lautet: besser leben. Das ist ein Witz.

„Wir haben den Krieg verloren und das ist der Preis dafür“, sagt Inge. Sie hockt in der Ruine ihrer Schule, national bis auf die Knochen.

„Hast du den Krieg gewollt?“ fragt Vera.

„Wer bin ich, Krieg zu wollen oder eben nicht?“ schnappt Inge ein. Vor dieser Vera muss man sich in Acht nehmen, sie hat ein loses Maul, eine Nase mit Auswüchsen wie jede Hexe – und gewiss ist sie eine Hure den neuen Herren.

Puppen auf den Feldern, auf einer Wiese klumpen sich Schlangen zur Paarung. Es gibt einen Fleischsoll: abzugeben an den Staat, der immer noch Zone heißt. Die Bauern murren und verschanzen sich. Die Plackerei soll kollektiviert werden, das geht gar nicht.

„Diese Ehe war aus Versehen“, sagt Inge fünf Jahre später, wohnhaft nun in der Thälmannsiedlung. Die Postanschrift lautet Lehnitz/Nordbahn. Eine Briefmarke kostet 15 Pfennig.

Mit bloßen Händen geräumt, dankbar für Brot. Abends in vulkanischen Tanzereien und erzwungenen Gelagen. Jetzt ist aber bereits der 24. Februar 1950. Inge schwebt mit einer Anfrage des Ministeriums für Volksbildung (Hauptabt. Kunst und Literatur, gez. Schöningh, Berlin W1, Wilhelmstraße 68, Tel. 420018) in das Büro ihres Chefs. Der Chef heißt Rudi Engel, er stellt den Direktor der in Gründung begriffenen Akademie der Künste am Robert Koch-Platz dar.

Engel, ein verdienter Mann, hängt in den Seilen nach einer harten Nacht mit den sowjetischen Waffenbrüdern. Wer nicht mithält, wird erschossen.

„Lies vor, Genossin“, verlangt er.

Inge liest: „Betr. Geburtstag Thomas Mann

Ich bitte um Mitteilung, ob anlässlich des 75. Geburtstages von Thomas Mann am 6.6.50 bereits feste Vorstellungen bestehen, wie und in welcher Form eine Ehrung für Thomas Mann erfolgen soll. Ich bitte um Bescheid, um dem Minister über diese Angelegenheit berichten zu können.“

„Das klären wir“, verkündet Engel. Er greift in eine Lade seines Schreibtischs.

„Du auch?“ fragt er. „Ach, was frage ich. Bin wohl nichts Gutes mehr gewöhnt.“

Inge entlastet Engel, wo sie kann. Sie schenkt ein und zündet ihrem Chef eine Zigarette an, Westqualität vom Schwarzmarkt. Engel bittet zum Diktat.

An Herrn Johannes R. Becher, Kulturbund, Berlin W8, Jägerstraße 1

Betr.: Geburtstag Heinrich und Thomas Mann

Wie Ihnen sicher bekannt ist, ist am 27.3.1950 der 79. Geburtstag von Heinrich Mann und am 6. Juni der 75. Geburtstag von Thomas Mann. Da aller Voraussicht nach die Akademie am 24. März gegründet wird, muß sicherlich zum 27.3. in irgend einer Form der Geburtstag von Heinrich Mann begangen werden.

Der 75. Geburtstag von Thomas Mann ist schon der runden Jahreszahl wegen Reichssache und Republik relevant.

Mit sozialistischem Gruß und festem Händedruck

 

3.

„Gegen Hitler zu sein, hieß über Stalin schweigen“, erklärt Müller seinen Brecht.

Brecht 1948: „Was dieses Land (damals noch SBZ) braucht, sind zwanzig Jahre Ideologiezertrümmerung.“  Brecht wollte „ein Theater zur wissenschaftlichen Erzeugung von Skandalen“. Mit den Skandalen sollten „die Ideologien zerlegt“ werden. Das ist ganz was anderes als „Hühneraugendramatik“ – Müller: „In der Bundesrepublik hätte ich nur Hühneraugen-Dramatik schreiben können.“

Da steht die Inge am Bahnhof Friedrichstraße und liest aus Verlegenheit im Programmheft des Friedrichstadt Palastes. „Internationale Varieté-Kunst“ verspricht das Programm. Im Einzelnen „tanzt das Ballett-Ensemble eine Walzer-Fantasie von Künneke und aus der Operette „Trembita“ von Jurij Miljutin eine tänzerische Suite nach einer Choreographie von Bernhard Wosien. Es spielt das Friedrichstadt-Palast-Orchester unter Leitung von Karl Stäcker.“

Die Ostdeutsche Maschinenbau Gesellschaft m.b.H. in der Chausseestraße 35 verbreitet 1951 einen Kalender, in den Müller Gedichte schreibt. Auch seine Frau Inge schreibt in den Kalender: „Frieden ist: nicht sterben müssen/ Auf dem Schlachtfeld hilflos,/ wie das Vieh.

Im Herzen der Punkt, wo der Feind den Zirkel ansetzt.

Müller bringt seinen Großvater mit Lenin zusammen, der eine sucht Pilze, der andere schießt Hasen, man trifft sich im Einvernehmen einer Landschaft, Müller malt Gesichter, er setzt sie den Blättern auf die Ränder, den Mäulern setzt er Schaum vor. Er schreibt: „Wenn die Menschheit sich endlich der Parteidisziplin unterwirft – und die Partei ihren „Platz einnimmt am Steuer des Planeten.“ Ja, dann.

Papier ist knapp. Jeder Zettel muss herhalten. Es wird alles beschriftet. Müller übt Gläubigkeit. Vieles kommt aus dem Gelenk als lyrische Notiz. Nichts geht einfach so durch als Gedicht. Doch manchmal zählt nur der Rhythmus (Pentameter).

Müller variiert seine Gegenstände. Ich entdecke expressionistische Splitter. Benn-Motive. Heldenpoesie: „Soldat und Bajonett der Komintern.“

Der Dichter wünscht sich, Eisen fressen zu können. Er predigt den bewaffneten Kampf: „In den Ländern, wo geschossen wird/ auf den Friedlichen, braucht der Friedliche/ ein Gewehr.“

Und immer wieder die Schweißspur der Mythen. „Antike Mythen sind frühe Formulierungen kollektiver Erfahrungen.“

Dann kommt gleich wieder der Hosenknopf als Antwort auf die Pyramiden. Ab und zu wird das Ende der Menschheit erwartet.

Immer ist die Umgebung feindlich, ist Müller fremd. Er schreibt eine wirtschaftliche Bemerkung von Shaw zum Theater ab. Kafka macht satt, Thomas Mann verdirbt die Zähne. Fahnen wehen in Appellationen … heroisch, pathetisch. Gedichte, „so scharf wie Dolche“, wünscht Müller an den Mann zu bringen.

Proletarische Romantik: „Hinter den Schloten des Traktorenwerkes geht der Mond auf.“

„Der Kapitalismus beseitigt den Hunger, indem er die Hungrigen auffrisst.“

Der Revolutionslyriker Müller möchte als Materialist durchgehen. Er ersetzt Liebe mit Leib, er fürchtet den Vorwurf der Dekadenz. Er übt seine Unterschrift.

Müller geißelt „eine plebejische Tradition“, macht Brecht Vorwürfe, kritisiert Schiller: „Seine Balladen sind Bildungsballaden, geschrieben von einem Gebildeten, nicht von einem Bildner.“

Eine Notiz verspannt „verwaiste Nibelungen“ mit den „Steppen Asiens“.

„Hunden gilt der Pfahl soviel wie die Birke.“

Müller rezensiert, 1957 geht er der Frage nach, „was ist wirklich Literatur geworden“. Paul Celan ist noch umstritten im Gewitter seiner Gegenwart – und einer Margarete Neumann wird zum Heinrich Mann-Preis gratuliert.

 

4.

Tapferkeit der Existenz

Müller & Brasch

Arbeiten kann, wer keine Lust zum Leben hat.

Thomas Brasch

1. „Warum sind wir nicht Tiere geblieben?“ fragt die Namenlosigkeit im Gefängnis. Thomas Brasch sichert an der Stelle den Unterschied zwischen Löchern und Gräbern. Er definiert die Differenz als Kleinigkeit. Wir werden zum Sterben geboren, wir bewegen uns aus einem Loch ins andere, dass wir das wissen, verschiebt uns immer weiter aus der bekannten Welt.

Mösen und Gräber. Man kann die Paarbildung obszön finden und mit einer anderen Frage antworten.

2. „Lessing war der erste freie Schriftsteller, u.a. weil er Pech gehabt hat.“

Pech heißt: keine Anstellung. Heiner Müller fühlt mit Lessing, er nennt ihn „Vorbild“ und sich tapfer, indem er Lessing Mut zuspricht. Er hält die Zigarre zwischen sich und die Welt, er ist ein Echo der DDR. Ihre Irrtümer sind seine Chancen.

Aus dem Gedächtnis: Gerade von den Knien aufgestanden, lege ich mich nicht gleich unter den nächsten Mann. Das sagt die „Umsiedlerin“, ein Stück, das Müller viel Ärger einbringt. Er sucht Auswege, die Texte sind „Grabsteine“, die Texte sind „Masken“. Auch Wagner „hat die Musik zur Maske gemacht“. Die Texte halten ihre Denunziationen einfach aus.

Löcher, Gräber.

„Heimat ist da, wo die Toten liegen“, sagt Müller. Über Brecht: „Und er ist rechtzeitig gestorben. Das war eine seiner Qualitäten. Er wußte, wann man sterben muß.“

„Brecht ist gestorben, um sich nicht länger verhalten zu müssen“, behauptet Müller. Seine Erklärungen krepieren vor Kausalität, alles ist „weil“ und alles „Zweck“, die Welt erscheint so durchschaubar wie eine Milchmädchenrechnung.

Müller dichtet einen „unter das Beil seines Freislers.“ Er bietet pneumatische Monstren auf in Versen, die zu seinen Lebzeiten nie veröffentlicht werden. Er wiederholt sich, indem er Brecht zitiert: „Die Bauernkriege waren das größte deutsche Unglück. Sie kamen zu früh als Revolution, deshalb.“

„Das hängt nun wieder damit zusammen, daß die Weimarer Klassik ein Revolutionsersatz war. Es gab keine (deutsche) Revolution (wegen der zu frühen Bauernkriege), aber es gab Schiller“.

 

5.

Dem Apfelsinenfresser zerfrisst die Fruchtsäure das Maul: in einem Stück, das über den ersten Entwurf nicht hinaus gelangt. In der Verlorenheit einer fremden Sprache schreibt Müller 1987 ein Gedicht auf Englisch, er ist in Paris. Jemand notiert ihm den Weg ins Kino in der Rue de Champollion auf einer Speisekarte. Müller will „Hamlet Goes Business“ von Aki Kaurismäki sehen – im Reflet Médicis. Später gibt er ein Interview und holt aus: „Wolfgang Hildesheimer hat in einem Interview gesagt, daß er es für sinnlos hält, heute noch zu schreiben … (da es keine Nachwelt mehr gibt.) Das ist etwas ganz Defätistisches, glaube ich. Wenn ich eine Arbeit mache, dann mache ich sie doch, weil ich diese Arbeit gern mache, weil ich sie so gut machen will wie ich kann. Da ist es doch uninteressant, ob das fertige Produkt morgen in einem Museum steht oder wie eine Flaschenpost im Atlantik treibt.“

In der Flaschenpost steckt der Auftrag, Selbstermächtigung und Neubeschriftung. Müller vergleicht die eigene Gattung mit den Silberfischen in seinem Badezimmer. Das könnte Dittsche nicht besser: „Aber manchmal, morgens, wenn ich ins Bad komme, hat sich wieder einer die Wanne hochgearbeitet. Den spül ich dann weg; drei Tage später ist wieder einer da, wahrscheinlich nicht derselbe, die leben ja irgendwie kollektiver. Für den Silberfisch ist das, was sich da abspielt, Geschichte. Aus hinreichend astronomischer Entfernung ist unsere Geschichte auch nichts anderes als der Versuch, an den Rand der Badewanne zu gelangen. Was die Silberfische nie schaffen, solange die Wohnung bewohnt ist.

Bleibt die Frage, wer wohnt gegen uns?

Das ist die Sinnfrage. Dieser Drang nach oben ist in uns drin. Wie bei den Silberfischen. Dabei haben sie es doch gut in den Leitungen. Was treibt sie aus der Wanne? Überdruß am Alltag, Lust auf Abenteuer, Grenzüberschreitung? Lust auf Schuld und Sühne?“

Müller kann kein Französisch, dichtet aber doch französisch auf einer Serviette in Gesellschaft. Er sitzt zusammen mit dem österreichischen Bühnenbildner Erich Wonder und Regisseur Patrice Chéreau – und mit Trauer im Herzen. Die Rheinländerin Margarita Broich ist dabei, ihn zu verlassen.

Jambon et melon: c’est bon.

Petits Fours con Cigarette: c’est une fête.

Cidre avec Tarte au citron: c’est bon.

Vin rouge dans le nombril de mon amie: c’est une fête.

Eclairs sans chocolat: c’est une catastrophe.

Müller spielt mit den phonetischen Chancen zwischen „dans“ – in – und „sans“ – ohne.

 

 

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Weiterführend →

Heiner Müller, Photo: Hubert Link. Wuelle, Bundesarchiv.

Der Mann im Aufzug – Eine Nachdenklichkeit.