Snow’s Lecture

Cambridge, 1959

Man könnte die Menschen in zwei Klassen einteilen, notierte Heinrich von Kleist, in solche, die sich auf eine Metapher und in solche, die sich auf eine Formel verstehen. Das war zwar schon damals keine neue Erkenntnis, doch hatte sie zu jener Zeit noch keinen politischen Impetus und war nicht Gegenstand von Diskursen. Das änderte sich  einhundertfünfzig Jahre später.

Am Nachmittag des 7. Mai 1959 hielt  Charles Percy Snow im Senatshaus der Universität Cambridge die alljährliche »Sir Robert Rede’s Lecture«, ein wichtiges akademisches Ereignis, das seinen Ursprung im Cambridge des 17. Jahrhunderts hat. Der Titel seiner einstündigen Vorlesung lautete The Two Cultures. Diese drei Worte wurden bald und nachhaltig zu einem kulturhistorischen Begriff und zur populären Formel für eine Erscheinung, ein Ärgernis oder eine Herausforderung, je nachdem, von wem, zu welcher Zeit und in welchem Zusammenhang sie verwendet wurde. Die Vorlesung erschien wenig später unter dem Titel The Two Cultures and the Scientific Revolution auch als Buch, das 2008 in eine von der Times (London) erstellte Liste der 100 Bücher aufgenommen wurde, die in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg das westliche Geistesleben am stärksten beeinflußt haben.

C. P. Snow, 1906 in Leicester geboren, studierte Chemie und Physik und hatte bei Sir Ernest Rutherford gearbeitet. Sein wichtigster wissenschaftlicher Beitrag ist wahrscheinlich die Entdeckung des ersten Beispiels für das Phänomen der Singlett-Triplett-Absorption bei organischen Verbindungen (1934). Seine Forscherkarriere endete früh: die Mitteilung, er habe eine Herstellungsmethode für das Vitamin A gefunden, mußte er zurücknehmen, danach wandte er sich von der Forschung ab, wurde wissenschaftlicher Berater der Regierung und schrieb Romane. In Erinnerung geblieben ist jedoch nur jene Rede über die zwei Kulturen, deren Umstände, Inhalt und Wirkung interessant und ausführlich von Peter Watson in seinem Buch Das Lächeln der Medusa (Bertelsmann 2001), beschrieben wurden, einem außerordentlich informativen Werk über die Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts, das auch bei der Abfassung des vorliegenden Artikels als wichtige Quelle diente.

Klassenunterschiede

Ähnlich wie Kleist unterschied Snow zwei Gruppen von Intellektuellen: die der literarischen Intelligenz (»Literary Intellectuals«) und die der naturwissenschaftlichen Intelligenz (»Scientists«). Einer seiner Kritiker, der Journalist und Herausgeber Roger Kimball, äußerte sich in einem langen Aufsatz über Snow’s Rede so: If all this seems like a terrible muddle, it is. Und zumindest, was Snow’s Einteilung anbelangt, hatte er damit recht. Unter dem Begriff »Literary Intellectuals« faßte Snow die Vertreter der um die Literatur und Philosophie gruppierten hermeneutischen Fächer, einschließlich der Künste, zusammen, und unter dem Begriff »Scientists« die Verteter der empirisch-naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen. Nun bestehen aber, wie Lektüre und Erfahrung lehren, große Unterschiede, was mentale Struktur, Fähigkeiten und Kenntnisse anbelangt, zwischen Geisteswissenschaftlern und Künstlern, und ebenso zwischen Grundlagenforschung betreibenden Physikern, Chemikern oder Biologen und Ingenieuren. Gar nicht vereinbar ist Snow’s Ansatz mit Gottfried Benns radikaler Unterscheidung von »Kunst-« und »Kulturträgern« (Aus dem Lebensweg eines Intellektualisten, in: Doppelleben, Limes 1950). 

Bildungsfragen

Nun sind natürlich sowohl die »Literary Intellectuals« als auch die »Scientists« auf jeweils ihre Weise gebildet. Snow beklagte das Primat der geisteswissenschaftlichen,  humanistischen  vor der naturwissenschaftlichen Bildung. Er machte seine Erfahrungen in der Mitte des vorigen Jahrhunderts, aber bis heute hat sich daran wenig geändert.  Wenn heute jemand im Gespräch erwähnt, daß er den Inhalt des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik nicht kennt und vom Boltzmannschen e-Satz noch nie gehört hat, bleibt das ohne Einfluß auf sein Ansehen in der Gesellschaft. Verrät aber jemand, daß er kein einziges der Shakespeareschen Sonette jemals gelesen hat und vielleicht auch noch zugibt, daß ihn das »Das Lächeln der Mona Lisa« relativ kalt läßt, wird er gewiß nicht mehr eingeladen. In dem außerordentlich interessanten und anregenden Buch des Kunstkritikers Florian Illies über das Jahr 1913  (S. Fischer  2012) erfährt man zwar, wann Franz Kafka seinen zweihundertsten Brief an Felice  Bauer geschrieben hat, und was Karl Kraus bewogen haben könnte, seine Freundschaft zu Franz Werfel zu kündigen, aber wenig, fast nichts, über die aufsehenerregenden Entdeckungen oder Lebensumstände der großen Physiker, Chemiker und Biologen in jenem Jahr. Der Verfasser des deutschen Standardwerks über Bildung mit dem gleichnamigen Titel und dem Untertitel Alles, was man wissen muß (Eichborn Verlag, 1999), Dietrich Schwanitz, vertritt einen klaren Standpunkt: Naturwissenschaftliche Kenntnisse müssen zwar nicht versteckt werden, aber zur Bildung gehören sie nicht. Der Physiker und Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer hat mit seinem Buch Die andere Bildung / Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte (Ullstein 2001) sozusagen einen »Anti-Schwanitz« geschrieben, gewiß ein wichtiges, auch sehr interessantes Buch, aber ob er damit die üblichen Vorstellungen über »Bildung« nachhaltig verändert hat, bleibt fraglich. Roger Kimball schreibt in seinem Aufsatz über Snow’s Vorlesung: … it would be nice if „literary intellectuals“knew more science. But the gulf, gap, chasm between scientists and literary intellectuals that Snow deplores will never be bridged (…) And (…) it’s not at all clear that the gulf really matters.

Zwei Kulturen

C. P. Snow hat auch politische Themen unter dem Aspekt seines Zwei-Kulturen-Modells behandelt, etwa  Fragen der schulischen und universitären Ausbildung in Großbritannien und anderen Ländern und des Zusammenhangs zwischen Ausbildung und Eignung der Universitätsabsolventen für leitende Funktionen in Politik und Wirtschaft, Fragen, auf die Antworten zu finden in der zunehmend durch Wissenschaft und Technik geprägten modernen Welt aus seiner Sicht immer dringender wurde. Viele seiner Feststellungen, Vorbehalte und Vorschläge stießen auf heftige Kritik. Sein ärgster Kritiker, der Literaturwissenschaftler F. R. Leavis, denunzierte ihn als einen public relation man for the scientific establishment, und Roger Kimball registrierte in bester britischer Ironie three sorts of problems in The Two Cultures: trivial, non-existent, and misunderstood. Vieles aus Snow’s Vortrag ist aus heutiger Sicht nur noch von  historischem Interesse, doch die Basisidee von der Spaltung der geistigen Welt in zwei unterschiedliche Kulturen blieb lebendig, ist kein Vorurteil und mehr als eine Stimmung, insbesondere, wenn man die Klassen strenger definiert als es Snow getan hat (vide supra), indem man die Zugehörigkeit auf einerseits »Naturwissenschaftler« und andererseits »literarische Autoren« begrenzt.

Natürlich gibt es Mischwesen, Goethe zum Beispiel. Die Leopoldina-Ausgabe der naturwissenschaftlichen Werke umfasst 11 Bände (Zwischenkieferknochen, Farbenlehre,  Metamorphose der Pflanzen …). Erwin Schrödinger (Gedichte), Primo Levi, Canetti,  Carl Djerassi … auch Snow. Doch hat keiner Außerordentliches in beiden Kulturen geschaffen.  Vielleicht ein Hinweis, daß die Anforderungen an die Schöpferkraft, die Kreativität in den beiden Kulturen nicht identisch sind.

 

 

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Der Lyriker, Essayist und Aphoristiker Maximilian Zander ist am 21.11.2016 im Alter von 87 Jahren in Castrop-Rauxel gestorben. Seit Mitte der 1990er-Jahre veröffentlichte Zander Gedichte und Aphorismen. Seine lakonischen (immer wieder auch metalyrischen) Gedichte, die u. a. in Literaturzeitschriften wie ndl, Muschelhaufen, Faltblatt und Anthologien wie Axel Kutsch, Versnetze (2005) oder Theo Breuer, NordWestSüdOst (2003) sowie in bislang vier Gedichtbänden erschienen, setzen sich auf ironisch-distanzierte Art und Weise mit Alltag und Gesellschaft aus der Sicht eines welterfahrenen Menschen auseinander.

Weiterführend → Lesen Sie auch Heinrich von Kleist: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden.

Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik. – Poesie ist das identitätsstiftende Element der Kultur, KUNOs poetologische Positionsbestimmung.