Wenn es einen Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch einen Möglichkeitssinn geben. (…) So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht weniger zu nehmen als das, was nicht ist.
Robert Musil
Ausgehend von den anfänglichen Ähnlichkeiten kann man Don Draper aus der Serie „Mad Men“ nicht als Wiedergänger von „Mann ohne Eigenschaften“ – im Sinne von Robert Musils Romanfigur Ulrich – bezeichnen. Obwohl beide Charaktere komplexe Identitätskrisen durchleben, unterscheiden sich ihre Persönlichkeitsstrukturen und die philosophischen Kontexte ihrer Geschichten jedoch erheblich.
Ulrich, die Figur in Musils Roman, ist ein „Mann ohne Eigenschaften“ im philosophischen Sinne: Er ist ein hochintelligenter, aber zynischer und passiver Beobachter, der angesichts der Ambivalenz der Welt vor dem Ersten Weltkrieg keine festen Überzeugungen oder eine definierte Rolle findet. Er repräsentiert die Krise der europäischen Kultur und des Individualismus am Vorabend des Krieges.
Im Gegensatz dazu ist der Radikalnarzisst Don Draper ein Mann der Tat, dazu oft destruktiver oder manipulativer Natur. Er ist ein erfolgreicher Werbefachmann, der durch Leistung und Charisma seinen sozialen Aufstieg erreicht hat. Draper hat sehr ausgeprägte, wenn auch oft widersprüchliche, Eigenschaften, wie narzisstische Züge, emotionale Distanz, aber auch Sehnsucht nach echter Verbindung und Selbstreflexion.
Ulrichs „Eigenschaftenlosigkeit“ entspringt einem intellektuellen, existenzialistischen Dilemma in einer zerfallenden Monarchie. Sein distanziertes Interesse an diesem von Musil ironisch ausgemalten und mit einer Vielzahl gesellschaftsanalytischer Essays angereicherten Vorhaben erlischt nahezu, als er anlässlich der Beerdigung des Vaters seiner verheirateten Schwester Agathe wiederbegegnet. Zwischen den Geschwistern entwickelt sich ein inzestuös getöntes Verhältnis, das auf die Suche nach einem anderen Zustand von „tagheller Mystik“ gerichtet ist. Drapers Krise dagegen entspringt der amerikanischen Nachkriegszeit, einem persönlichen Trauma (seine Herkunft als Dick Whitman und der Identitätsdiebstahl) und dem Druck, das Idealbild des „American Dream“ aufrechtzuerhalten.
Die Serie Mad Men thematisiert und dekonstruiert das Leben der White Anglo-Saxon Protestants (WASP)-Elite im Amerika der 1960er Jahre. Sie verwendet die WASP-Welt als Kulisse, um die Fassade des „American Dream“ und die inneren Konflikte der Charaktere zu beleuchten. Die Privilegien dieser Gruppe werden gezeigt, aber auch die Leere und der Druck, die oft damit einhergehen. Die Handlung in Mad Men ist eng in den sozialen und kulturellen Kontext der Zeit eingebettet, wobei insbesondere die damaligen gesellschaftlichen Hierarchien, die traditionellen Geschlechterrollen sowie der von wirtschaftlichem Aufschwung und Fortschrittsgläubigkeit getragene Lebensstil der 1960er Jahre wichtige Motive sind. Politische und gesellschaftliche Ereignisse des Jahrzehnts (unter anderem die Wahl von John F. Kennedy und später das Attentat auf ihn, die Kubakrise, der Tod von Marilyn Monroe, der Aufstieg der jungen Rolling Stones, frühe Demonstrationen gegen die Rassentrennung) werden immer wieder erfasst und reflektiert.
Während Ulrichs Geschichte unvollendet bleibt und sich im Kreis der Möglichkeiten bewegt, durchläuft Don eine deutliche psychologische Entwicklung von der Verleugnung zur Selbsterkenntnis und Verletzlichkeit. Don Draper kämpft mit den Themen Entfremdung und Identität, er ist jedoch ein Mann mit sehr spezifischen – wenn auch zerrissenen – Eigenschaften ist, der aktiv handelt und sich entwickelt, was ihn von Musils Ulrich unterscheidet. Im Mann ohne Eigenschaften wird die Vorkriegsepoche am Beispiel des altösterreichischen „Kakanien“ in der Untergangsperspektive gezeigt werden. Während des bis zu Musils Tod sich hinziehenden Fortschreibungsprozesses an dem Roman ergaben sich vielfältige neue Entwicklungen und Umbrüche, darunter Weltwirtschaftskrise und Faschismus, die – bezogen auf 1913, dem Jahr der Romanhandlung – teils anachronistisch in Musils Reflexions- und Darstellungsrahmen einflossen.
Der Grat zwischen Höhenkammliteratur und Popkultur ist schmaler geworden. In Literatur- und Medienkreisen wurde zu Beginn des Trends die „Literarisierung des Fernsehens“ postuliert, inzwischen erweist sich, dass beide Kunstformen nebeneinander existieren und unterschiedliche Stärken haben. Es geht nicht darum, dass eine die andere ablöst oder übertrifft, sondern dass moderne TV-Serien ein ähnliches kulturelles Gewicht erlangen können wie klassische Romane. Bei näherer Betrachtung erweist sich jedoch, dass die TV-Serie nicht zwingend der Roman des 21. Jahrhunderts ist und glücklicherweise eignet sich der Mann ohne Eigenschaften nicht als TV-Serie.
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Der Mann ohne Eigenschaften, Roman von Robert Musil. Aus dem Nachlass. Herausgegeben von Adolf Frisé. 2 Bände. Neu durchgesehene und verbesserte Ausgabe 1978, Reinbek bei Hamburg.
Die „Complete Collection“ von Mad Man erschien 2016 auf DvD
Weiterführend → Ulrich Bergmann sucht in Der Mann ohne Eigenschaften eine Utopie.
→ In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Luther Blissett beschreibt den Weg von Proust zu Pulp.