Nicht weniger nicht mehr

„Die Poesie“, hat der Dichter Paul Celan gesagt,
„die Poesie zwingt sich nicht auf, sie setzt sich aus.“
Übersetzen Sie das Wort Celans ins Französische,
und Sie verstehen, wie sehr der Satz in der Romanität zu Hause ist:
la poésie ne s’impose pas, elle s’expose –
sofort verrät sich seine Herkunft aus einem geistreichen Sprachspiel,
und wie so oft im Französischen
werden die Gefahren des Tiefsinns durch Eleganz pariert.
Peter Sloterdijk,
Zur Welt kommen – Zur Sprache kommen

 

Juskowiak, Juskowiak, da wird Juskowiak vom Platz gestellt – Herbert Zimmermanns Stimme überschlägt sich beim Halbfinale 1958 Schweden gegen Deutschland im Göteborger Nya-Ullevi-Stadion – wie sie sich schon überschlug beim Aus! Aus! Aus! – Aus! – Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister! im Berner Wankdorf-Stadion 1954. (Letzteres kenne ich von Ohrenzeugen sowie späteren Sportschaueinblendungen, die ja längst im Netz abrufbar sind.)

Auch im elterlichen Herrensalon schlug Zimmermanns Stimme, die an Frontberichterstattung erinnerte, ein wie eine Granate. Aus dem klobigen Schaub-Lorenz-Gerät auf dem breiten Regalbrett an der Wand über der Kundschaft, die an jenem Dienstagabend im Juni nach Geschäftsschluss noch geblieben war, dröhnt es mir bis heute in den (damals achtjährigen) Ohren. Ein Satz mit all seinen Begleitumständen, der Nazihetze, den aufpeitschenden Heja-, Heja-, Sverige-Rufen, die ich nicht verstand, nicht verstehen konnte, waren wir doch Weltmeister und Titelverteidiger, und so wurde Vaters Meinung – die Dreckschpatze! Des isch die gröscht Sauerei! – zu meiner. Die „Schlacht von Göteborg“, nicht direkt verschwägert, aber immerhin gefährlich wortverwandt mit der „Schlacht von Stalingrad“, bei der mein Vater verwundet, ‚vom Platz gestellt‘ und mit einer der letzten Maschinen aus dem Kessel, aus der Hölle, geflogen wurde, überlebte.

Auch Paul Celan überlebte. Überlebte die Nazihölle anderer – unsäglicher – Art. Verlor – trotz allem – die Muttersprache nicht. Meine erste Begegnung mit Paul Celan erfolgte bei einer Ausstellung. Andreas Wiertz, in St. Georgen im Schwarzwald lebender Künstler, stellte im Kunstverein Mittleres Kinzigtal in Haslach i. K. seine Celan-Mappe (Examensarbeit an der Kunstakademie Düsseldorf 1977) mit u. a. 7 Farbholzschnitten nach Gedichten von Paul Celan aus.

Und wie sich der Juskowiaksatz über die Jahrzehnte in das gemeinschaftstiftende Gehör brannte, konnten meine individualisierten Augen nicht ablassen von Wiertz’ Kunstwerken. „Zu dem Verb zusammengehören hält das Wortfeld ‚sehen‘ keine Entsprechung bereit.“ (Herbert M. Hurka: Das Buch vom Sehen, Freiburg 1999) Seither hängt der Holzschnitt, der sich auf DIE SCHWERMUTSSCHNELLEN HINDURCH, am blanken Wundenspiegel vorbei:… bezieht, in meinem Arbeitszimmer.

Mit der Post kam dieser Tage Theo Breuers neues Gedichtbuch NICHT WENIGER NICHT MEHR. Von Anbeginn des Jahres 2020 – dem Jahr des 100. Geburtstags und 50. Todestags Paul Celans – ist Breuer offenbar wieder einmal gefangen vom Gesamtwerk Celans (den Gedichten, den Briefen, der Prosa). Zudem liest er zahlreiche Bücher von Autoren, die in ihren jeweiligen Dunkelkammern – via Roman, Erzählung, Sachbuch – ihr jeweiliges Bild Celans entwickeln, und hört – wieder und wieder – Michael Denhoffs Kompositionen Atemwende bzw. Hauptweg und Nebenwege. Bei Breuer kommen nach Monaten intensiven Lesens und Hörens vielschichtige ›Gedichte‹ aus dem Fixierbad, ein komplex strukturierter siebenteiliger Zyklus, erstes Kapitel des im Pop Verlag anlässlich des 100. Geburtstags Paul Celans erschienenen Buchs.

NICHT WENIGER NICHT MEHR ist ein hundertdreiunddreißig Seiten umfassendes Gedichtbuch mit fabelhaftem Cover: Schwarze Buchstaben auf weinrotem Grund springen in den Blick, die Buchstaben verwandeln sich – ein gantz abc (Johann Michael Moscherosch) zunehmend in Zeichen, und jetzt bin ich gefangen in diesem numinosen Zustand, dieser splendid isolation – ich allein mit einem Buch (Hans Bender) … den zeichen folgend und nichts als ihnen (wie es in meinem Gedicht zeichen aus Gekämmte Zeit heißt).

Mitgerissen mithin schon vom Blick aufs Buch – und gepackt von den Zitaten auf der Rückseite:

Welche unerschöpfliche Menge von Materialien
zu neuen individuellen Kombinationen
liegt nicht umher!
Novalis

… und auch heute schreibe ich nur
infolge eines Zufalls.
Franz Kafka

Also, die Gedichte in Händen, ein Hineintauchen mit Brille … am blanken Wundenspiegel vorbei …, ein Umherschwimmen … IN DEN FLÜSSEN nördlich der Zukunft …, ein Hängenbleiben … mit von Steinen geschriebenen Schatten.

Und immer weiter mit großen Augen durch Breuers ‚Zettelraum‘, diese schier unerschöpfliche Zitatenwerkstatt, aus der heraus er seine Gedichte, sozusagen (sozuschreiben …), aus dem OFF einführt, ihnen eine Bühne gibt.

Spontan begeistert, will ich die Herren Novalis und den Kafka Franz an jenem sonnigen Herbsttag schon zum Kaffee auf dem Balkon einladen, als ich sie, immer noch ohne WLAN da oben, zufällig des Wegs kommen seh … Sie bleiben … etliche andere – wer … nennt die Namen, die gastlich hier zusammen kamen (Friedrich Schiller, Die Kraniche des Ibykus) – gesellen sich hinzu (stellvertretend benenne ich Jürgen Becker) – und der Tag ward lesend, laut lesend zum Fest.

Ich bitte den guten Becker mehrfach um Wiederholung … er tut mir den Gefallen:

… ,daß ein Autor, wenn er schreibt,
gewissermaßen nicht allein schreibt.
Sein Bewußtsein ist aufgeladen mit
Erinnerungen, Hoffnungen und Erfahrungen;
sein Ich kann zerfallen sein
in verschiedene Identitäten. …
Jürgen Becker

Volltreffer! C’est moi! C’est pour moi! … der gast sur la terrasse, c’est moi (strasbourg négligé aus Gekämmte Zeit) … Ja, auch meine Art, meine Art, bildnerisch zu arbeiten, meine Art zu schreiben, ja, oft genug: zu leben … Doch zurück zur Rückseite – zum dort abgedruckten Gedicht

zeit der schlüsse

steinzerspellende flüsse
und : dämmerige glutergüsse
›wir‹ stehn fast am ›fenster‹ ( wir trinken – nein : wir gicken durchs glas )
du m∙u∙r∙m∙e∙l∙s∙t … s-c-h-l-e-i-c-h-h-ö-r-n-c-h-e-n … s-c-h-m-e-i-c-h-e-l-h-ä-h-e-r
nebelkrällende katze im gras
wir sehen uns an – – – s/t/a/m/m/e/l/n
( wie moll ) : unrastmundgeschriebene küsse

Aus dem Off Novalis’ und Kafkas Regieanweisung – und dann zaubert der b:r:uchstäblich wortbeseelte, zeichenbegeisterte Breuer seine ganze visuell verdichtete semantische Kraft hier wie andern(w)orts aufs Papier … lässt sein Ich zerfallen, zerfallen in belebte, beflügelte, beseelte Zeichen, ist Musikus, ist Alchimist, der lesend, hörend, sehend vorgefundene Materialien zu neuen individuellen Kombinationen formen, gleichsam in ‚sein‘ lyrisches Feingold und Quecksilber, ‚seine‘ poetische Bronzeplastik verwandeln will. (Ohne dafür die entsprechenden Medaillen zu erwarten – denk ich nur an seine seit Dezember 2013 nach Petersburger Art gehängten zeitgenössischen ›Gemäldegedichte‹ im virtuellen Roten Haus im Park. –Zustimmend schließe ich mich im übrigen Crauss an, der sich zu Breuers Art so äußert: teil seiner ganzen lebensarbeit ist ja wohl auch, durch übersteigerte ordnung subversive unordnung und verwischung der grenzen zu schaffen.)

Wie wundersam schließt das in Kapitel IV platzierte Gedicht zeit der schlüsse diese ‚unsere‘ Zeit mit ein … ein Satz Peter Handkes aus dem Stück Zdeněk Adamec, das dieser Tage am DT Berlin seine deutsche Uraufführung hatte, wird von der Außenlinie eingeworfen: Je apokalyptischer das Draußen, desto sicherer fühle ich mich an Ort und Stelle … und weiter, schon halb im Abseits …bei Weltuntergang wachsen mir Flügel.

Ich nun voll in Theo Breuers Aufstellung, ohne Torhüter, Abwehr usw., vier offensive, eigen-sinnige KapitelStürmer, römisch nummeriert (vom 4–2–4 der Brasilianer anno 1958 wären das – klar: Garrincha – Didi – Vavá – Pelé):

I          NICHT WENIGER NICHT MEHR
II         NICHT DIE BOHNE
III       THIS ISN’T THE WHOLE TRUTH
IV       AUF DIE SCHWEINE HELFEN

Coach in Kapitel I – ich schwimmeschwimme sch/webe in lesensgefahr –: Paul Celan. (Celan ist der Zyklus mit den sieben ‚Gedichten‘ gewidmet, das wird klar, ohne daß es explizit geschrieben stünde.) Celan gibt demnach durchweg die ‚Anweisungen‘ (OFFs), ruft sie von draußen hinein in die hier langzeiligen, dort kurzversigen Gedichte: Ich bin du, wenn ich ich bin. Den Kader, der den Gedichten mit zum Leben verholfen hat, präsentiert Breuer im verblüffenden biblioGraphischen ›Gedicht‹ unverloren ∙ trotz allem, bestehend aus sieben Strophen, fünf à sechs, zwei à drei Versen.

Über einem Gedicht steht kein Celan-Vers – hier sprechen Friedrich Hölderlin und Roland Barthes, aus gutem Grund, von hintoben: In scherben saufen (eine Art Celansches, Bachmannsches ‚Sterbenlaufen‘?), auch Titel des vorhergehenden Gedichtbuchs, spielt Breuer noch einmal – dylanlike – die lyrics auf andere Art arrangiert, zieht das kompakte Paket von ehedem auseinander in sieben Dreierpäckchen mit fulminantem muß-Punkt.

… Mir geht es auf meine Weise ähnlich wie dem Ich in zeit der schlüsse … am ›fenster‹ stehend … mit Kohlweisen am Futterhäuschen, im Ohr Dylans Gates of Eden … and I try to harmonize with songs the lonesome sparrow sings … … … Die unerschöpfliche Menge von Materialien zu neuen individuellen Kombinationen liegt … umher – wie Vogelfutter: In Kapitel II bricht Breuer mit nicht die bohne, einem Gedicht in zehn Strophen à sieben Versen, konjunktivistisch zu strandneuen ufern auf, als gäbe es kein Morgen, während in den neun parodistischen Langgedichten in Kapitel III titelgerecht um wahr oder nicht wahr gestritten wird und es an einer Stelle mit Anne Tyler heißt: as soon as i wrote it / i started to believe it.

Das Spiel – auch wenn die kurz vor Schluss von Kapitel IV eingewechselten Kurzgedichte gierzeiler, globuskrawall, hitstorm es noch so sehr fordern – verträgt keine Verlängerung: Hereingeflankt, nehm ich die runde Fülle mit der Brust auf, lasse sie vom rechtn KlingKnie aufs linke, vice versa, tropfen, dann, wo doch das Tor leer, das Spiel längst gewonnen, nicht lange überlegen, kurz, nach einem Augenblick in Richtung Verlierer – ferenc puskás unter anderem (noch einmal: Gekämmte Zeit) dann nach Gerd-Müller-Art, nur nicht nachdenken, geht mir, dem Bewunderer Edson Arantes do Nascimentos, ein Licht auf: mit Theo Breuer, in jungen Jahren technisch versierter Spielmacher, mit Theo, dem Buchstabendballkünstler, dem ZeichenJongleur schlechthin, den Spielzug zu Ende bringen, ihm den Vogelfutterball durch seinen Feuerwerksreifen auf den Spann zurückköpfen:… é ou séria também uma possibilidaatschi … (português à brasileira), der dann: volley … trocken … exakt …

… die Seine oder leere Ränge erreicht …

O meu Theo! OBRIGADÍSSIMO!

 

 

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nicht weniger nicht mehr. Gedichte von Theo Breuer, Pop-Verlag, Reihe Lyrik Bd. 151, 2020

Weiterführend

Kein Gedicht nach Auschwitz (Adorno): was wird hier als Vorstellung von ,Gedicht` unterstellt? Der Dünkel dessen, der sich untersteht hypothetisch-spekulativerweise Auschwitz aus der Nachtigallen- oder Singdrossel-Perspektive zu betrachten oder zu berichten, schrieb Paul Celan als Erwiderung auf Theodor W. Adorno.

In diesem Zusammenhang ein Hinweis auf den Forensiker der deutschsprachigen Lyrik.

Theo Breuer gelingt es, dem Mythos nachzuspüren, eine angemessenere Würdigung Rolf Dieter Brinkmanns wird man kaum finden.

Einen Essay über das Tun von Theo Breuer als Herausgeber, Essayist und nicht zuletzt als Lyriker lesen Sie hier.