Tristram Shandy

„Der Mann trägt eine Perücke. Sie ist ihm leicht verrutscht. Das gibt dem Bild den Charakter eines Schnappschusses und lässt uns – schließlich ist es ein Gemälde, und da ist nichts dem Zufall überlassen – darüber nachdenken, was uns ein Maler sagen möchte, wenn er der Perücke eines von ihm Porträtierten eine leichte Schräglage verpasst, und was in einem Porträtierten vorgegangen sein mag, der sich dagegen nicht wehrt. Vielleicht wollen uns die beiden, Maler und Gemalter, in heimlicher Komplizenschaft darauf hinweisen, dass der, den wir hier sehen, die Konventionen zwar beherrscht, sich aber nicht von ihnen beherrschen lässt. Oder dass er seine eigenen Konventionen hat. Dass er manchmal ein bisschen schräg ist oder vielleicht ein bisschen wild. Im Dialekt von North Yorkshire gibt es für eine solche leicht wilde Schräglage ein altes, damals schon sehr selten gebrauchtes Wort. Es lautet: shandy. Dieses Wort findet sich, sieht man genau hin, auf dem obersten der Blätter, auf denen der Ellenbogen des Mannes ruht. Nun lässt sich noch mehr entziffern: and ions f Tristram Shandy.“

Hans von Trotha

Laurence Sterne (1713-1768), Gemälde von Joshua Reynolds, 1760

Laut Friedrich Nietzsche war er Der freieste Schriftsteller. Laurence Sterne, der vor 310 Jahren in Clonmel (Irland) geboren wurde. Hans von Trotha erinnert an den irischen Humoristen, der  mit seinem Roman The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman 1759 einen Literaturskandal auslöste, weil der Autor alle Erzählkonventionen auf so kühne wie geistreiche Weise auf den Kopf stellt. Leben und Ansichten Tristram Shandys“ werden im Lauf der Handlung (?) aber kaum zum Gegenstand des Romans, sondern vielmehr die Ehefreuden seiner Eltern und das Liebesleben seines Onkels Toby.

Der Verfasser des ‚Tristram Shandy‘ zeigt uns die verborgensten Tiefen der Seele; er öffnet eine Luke der Seele, erlaubt uns einen Blick in ihre Abgründe, Paradiese und Schmutzwinkel und läßt gleich die Gardine davor wieder fallen.

Heinrich Heine

Der Roman besteht aus neun Bänden mit jeweils rund 40 Kapiteln. Einige der Kapitel enthalten Unterkapitel mit eigenen Überschriften, während andere Kapitel bewusst ausgelassen sind oder nur aus einer Zeile bestehen. Einige Kapitel sind rund 25 Seiten lang. Im neunten Band werden das 18. und 19. Kapitel zunächst ausgelassen und dann nach dem 25. Kapitel eingefügt. Die Typografie zeichnet sich durch Besonderheiten wie geschwärzte Seiten, eingefügte krakelige Linien und Auslassungen in Form von langen Sternchenreihen aus. Buchgestalterisch besteht die Besonderheit, dass auf Anweisung Sternes mittels im Text gesetzter „Anweisungen an den Buchbinder“ einzelne Seiten mit marmorierten Buntpapieren beklebt werden mussten, sodass jedes Exemplar der Drucke unikale Bestandteile enthält.

Auch heute noch, nachdem er sich 200 Jahre in der Lesewelt befindet, gilt von Laurence Sternes ‚The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman‘ das Urteil, daß es zu den 10 größten Büchern gehöre, die bisher in englischer Sprache geschrieben worden sind.

Arno Schmidt

Das Buch handelt nur in geringem Maß von der Person des Ich-Erzählers Tristram Shandy, dessen Geburt erst am Ende des 3. Bandes beschrieben wird. Hauptpersonen sind vielmehr sein Vater Walter Shandy und sein Onkel Toby. Weitere häufig auftretende Personen sind der Korporal Trim, der Pastor Yorick und der Arzt Dr. Slop. Der Roman spielt zwischen den Jahren 1689 (dem Eintritt Trims in die Armee) und 1766 (der Gegenwart beim Schreiben des neunten Bandes).

Beide Shandy-Brüder, Walter und Toby, zeichnen sich durch stereotype Verhaltensmuster aus. Der Landwirt und frühere Kaufmann Walter Shandy nimmt die Wechselfälle des Lebens philosophisch. Als sein älterer Sohn stirbt, trauert er nicht, sondern ergeht sich in philosophischen Betrachtungen. Auch die Ereignisse um Tristrams Geburt und Kindheit – die bei der Geburt eingedrückte Nase, die missglückte Namensgebung und die unbeabsichtigte Beschneidung – sind Anlass für ausführliche Erörterungen. „Er hat für nichts eine praktische Lösung, aber für alles eine Hypothese parat“. Unter anderem verfasste er die nach Tristram benannte Enzyklopädie Tristrapaedia, die aber unvollendet blieb. Toby Shandy, genannt „Onkel Toby“, ist ein ehemaliger Offizier, der im Schambereich verwundet wurde – bei der Belagerung von Namur (1695) – und aus dem Dienst ausscheiden musste. Sein Denken ist den Kriegserlebnissen verhaftet. Mit seinem treuen Begleiter Trim, ebenfalls ein Kriegsveteran, baut er Festungsanlagen nach und spielt vergangene und aktuelle Kriegsgeschehnisse nach. Mit seiner einfältigen, aber herzlichen Denkungsart unterscheidet sich Onkel Toby von seinem Bruder. Beide geben aber Anlass zu zahlreichen Anzüglichkeiten im Text.

Zwei Erzählsequenzen stehen neben vielen anderen Themen: die Geschehnisse rund um Tristrams Geburt sowie das hölzerne Steckenpferd Onkel Tobys und sein Werben um die Witwe Wadman. Der siebte Band steht außerhalb der übrigen Handlung und behandelt eine Reise Tristrams nach Frankreich und Italien.

Schon der Titel ist als Parodie lesbar, nämlich auf das Werk über Leben und Lehren berühmter Philosophen des griechischen Schriftstellers Diogenes Laertios. Verzichtet wird im Roman sowohl auf die chronologische Szenenfolge, die zu dieser Zeit weitgehend üblich war, als auch auf eine stringente Handlungsführung. Stattdessen werden abschweifende Assoziationen verfolgt und zugelassen und somit formale Innovationen der Avantgarde des 20. Jahrhunderts wie etwa der Bewusstseinsstrom vorweggenommen. In einer Umbruchszeit der Schriftstellerei, die mit der Industrialisierung und der Auflösung der poetischen Maßstäbe der französischen Klassik einhergeht, erscheint der Roman als Satire auf neue, sich erst entwickelnde Genres wie den Entwicklungsroman und die Autobiografie.

Der Roman arbeitet mit der Verschränkung unterschiedlicher Zeitebenen. So wird im 21. Kapitel des ersten Bandes ein Satz von Onkel Toby begonnen, der erst im sechsten Kapitel des zweiten Bandes fortgesetzt wird. Ein wesentlicher Teil der erzählten Zeit spielt vor der Geburt Tristrams und behandelt etwa die Problematik der Taufe des Kindes im Mutterleib (bei schwierigen und gefährlichen Geburten), die Auswirkung von Namen auf das Leben ihres Trägers und die geburtshelferischen Fähigkeiten der Hebamme und des Arztes. Ein weiterer Teil behandelt ein Steckenpferd des Vaters, die Nasenforschung, sowie die Notwendigkeit von Hobbys überhaupt. Der neunte Band des Romans spielt zeitlich vor dem ersten Band.

“… the machinery of my work is of a species by itself; two contrary motions are introduced into it, and reconcile, which were thought to be at variance with each other. In a word, my work is digressive and it is progressive, too,– and at the same time.”

„[Dieser Kunstgriff] macht die Maschinerie meines Werkes zu einer ganz eigentümlichen; sie erhält dadurch zwei entgegengesetzte Bewegungen, die sich doch wieder vereinigen, während man hätte glauben sollen, daß sie einander stören würden. Mit einem Wort, mein Werk schweift ab und kommt doch vorwärts – und zwar zu gleicher Zeit.“

Tristram Shandy, Band I

Der Roman reflektiert sowohl seine eigene Wirkung auf den Leser als auch die Schreibmotivation und die Situation des Schreibenden. Darin ist er zugleich ein Vorreiter der später von August Wilhelm Schlegel als romantische Ironie bezeichneten Schreibweise. In seinem Werk Die Romantische Schule (geschrieben 1832/33) hebt auch Heinrich Heine diesen Roman als brillant und innovativ hervor.

Joaquim Maria Machado de Assis verwendet in seinen fiktiven Memoiren des Bras Cubas (1880) ähnliche Stilmittel wie Sterne im Tristram Shandy, was von der Bewunderung für dieses Werk außerhalb Englands zeugt – und zwar zu einer Zeit, als es dort durch die Brille einer viktorianischen Moral betrachtet als unanständig galt. Für die Literaturtheorie von Wiktor Schklowski und die russischen Formalisten wurde es ebenso bedeutend wie als Vorlage zahlreicher anderer Bouffonnerien.

Laurence Sterne ist einer der kühnsten Experimentatoren der Gattung Roman. Ich schätze seine eigenwillige und radikale Konzeption.
A.J. Weigoni

So gilt Tristram Shandy als Vorläufer der sogenannten experimentellen Literatur, in der das, was erzählt wird, mit der Art und Weise, wie erzählt wird, gleichberechtigt ist. Für KUNO beginnt mit diesem Buch die literarische Moderne.

 

 

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A Sentimental Journey. Laurence Sterne in Shandy Hall, von Hans von Trotha. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2018.

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