TOTENSEELEN

 

ich laufe durch die straßen einer mir fremden stadt und werde verfolgt. in einem zug vermummter menschen, die totenmasken tragen, kann ich untertauchen. plötzlich umschließt mich ein grabgewölbe, durch das ich über endlose gänge und wendeltreppen gehe, während ich hinter mir ein schweres atmen höre, das ich totenseelen zuordne. der gruftgeruch ruft mir den hauch des todes ins gedächtnis, den ich beim tod meiner uroma empfand, die starb, als ich fünf jahre alt war, und deren weitere existenz ich mir zwischen kalten mauern unter der erde vorstellte. entlang des weges sehe ich im dämmerlicht litfaßsäulen mit plakaten frisierter totenköpfe, der eine gestylter als der andere und alle verschiedenfarbig. einige der leibhaftigen toten klammern sich an meinem rücken fest und berichten mir ihre sünden, wobei ich erfahre, daß schwerverwundete eines krieges auf ihrem jenseitspfad darunter seien, die noch zu überleben hoffen.

ich verliere, umgeben von zitternden und klagenden stimmen toter und halbtoter, in den dunklen gängen, die ich unablässig durchquere, jeden überblick und finde einzig am gestein halt, an dem sich meine hände entlangtasten. ich erreiche einen abgrund, drehe mich um und erkläre den versammelten, die sich an mich drängen, dies sei das ende und es gäbe keinen ausweg mehr. als ich erwache, sitzt einer der toten mit wolfskopf und eingefallenem gesicht auf meiner bettkante und sagt: »das hast du nun davon, wenn du dich wiederbelebst.«

 

 

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Traumnotate von Holger Benkel, KUNO, 2023

Radierung von Francisco de Goya

Die Frage nach der besonderen Kompetenz der Dichter für die Sprache und die Botschaft der Träume wurde durch Siegmund Freud fundamental neu gestellt. Im 21. Jahrhundert ist die Akzeptanz des Träumens und des Tagträumens weitaus größer als noch vor hundert Jahren. Träumen wird nicht mehr nur den Schamanen oder Dichter-Sehern, als bedeutsam zugemessen, sondern praktisch jedermann. Gleichwohl wird den Dichtern noch immer eine ‚eigene‘ Kompetenz auf dem Gebiet des Traums zugesprochen – Freud sah sie sogar als seine Gewährsmänner an, mit Modellanalysen versuchte er diese Kompetenz zu bestätigen. Die Traumnotate von Holger Benkel sind von übernächtigter, schillernd scharfkantiger Komplexität.

Weiterführend

In einem Kollegengespräch ergründeln Holger Benkel und A.J. Weigoni das Wesen der Poesie – und ihr allmähliches Verschwinden. Das erste Kollegengespräch zwischen Holger Benkel und Weigoni finden Sie hier.

Gedanken, die um Ecken biegen, Aphorismen von Holger Benkel, Edition Das Labor, Mülheim 2013

Essays von Holger Benkel, Edition Das Labor 2014 – Einen Hinweis auf die in der Edition Das Labor erschienen Essays finden Sie hier. Auf KUNO porträtierte Holger Benkel die Brüder Grimm, Ulrich Bergmann, A.J. Weigoni, Uwe Albert, André Schinkel, Birgitt Lieberwirth und Sabine Kunz.

Seelenland, Gedichte von Holger Benkel , Edition Das Labor 2015