Gedankenvoll verstreute Lebensmomente

Autofiktion bezeichnet in der Literaturwissenschaft eine Erzähltechnik, die das Genre Autobiografie mit fiktionalen Elementen verbindet. 

Der Antagonismus zwischen dem Autobiografischen und dem Erfundenen ist so alt wie das Erzählen. Derzeit ist die Autofiktion eine sehr beliebte Gattung, weil sie Prosa und Lebensbeichte in einem verspricht. Autoren wie Annie Ernaux, Peter Kurzeck, Andreas Maier und Gerhard Henschel überschwemmen die Leser geradezu in lebensgroß angelegten Projekten. Die Verleger dieser Werke nehmen an, was offensichtlich aus dem eigenen Leben geschöpft ist, habe eine höhere Überzeugungskraft als das bloss Ausgedachte. Die Vorlage wird verwandelt, bis sie keinen eindeutigen Realitätsbezug mehr aufweist. Ulrich Bergmann erliegt in seiner Trilogie selten der Versuchung zur Egozentrik. Im Rückblick auf sein Leben kann man nicht sicher sein, welcher Teil einer Erzählung stattgefunden hat und welcher ausgedacht ist, welcher Teil die sogenannte autobiografische Wahrheit birgt, wobei ihm das am Ende vollkommen einerlei ist.

Nie lügt man so schamlos, als wenn man von sich selbst erzählt.

Peter Stamm

Die Trilogie, die wir von Bergmann betrachten ist eine Mischung aus autobiografischem und fiktivem Schreiben. Seine Autofiktion beginnt vor dem Hintergrund der Teilung des Deutschen Reichs in die BRD und die DDR. Seine dem Leben entlehnten Figuren leben seither unter einem Doppelhimmel. Wo auch immer aber die Wahrhaftigkeit aufhört, die Erinnerung nachläßt und die Fiktion wiederanfängt, wieviel Dichtung in ausgewiesenen Autobiografien steckt, muss am Ende der Leser selbst entscheiden. Soweit recherchierbar entspringt diese Autofiktion den Erfahrungen der eigenen Biografie und gründet in der jüngeren Deutsch/Deutschen Geschichte. Wir betrachten den Versuch des Autors die Trümmerliteratur beiseite zu räumen und seine Fiktion strikt realer Ereignisse und Fakten zugrunde zu legen. Der zweite Weltkrieg ist zu Ende. Janus Rippe wächst bei Usch (Spoiler: wir treffen sie später wieder), seiner Mutter, und den Großeltern in Halle an der Saale auf. Robert, sein Vater, lebt als Kriegsgefangener in sowjetischen Straflagern und wird für tot erklärt. Usch heiratet sieben Jahre später den DDR-Richter Hardy. Kurz darauf kommt Robert aus der Gefangenschaft wieder…

Spätestens seit der Innerlichkeit der 1970-er Jahre geht der Trend in der Literatur zur Erforschung des Selbst.

„Das Vergangenheit ist nicht tot“, daher begibt sich auch Bergmann in dieser beinahe wahren Familiengeschichte auf die Spuren des Vergangenen. Doppelhimmel, das ist Himmel über Ost und West und Himmel der Kindheit, der bedroht wird vom Tod, über den Janus mit dem Großvater immer wieder nachdenkt. Die Handlung, die den Figuren auf der zeitgenössischen Bühne aufgebürdet wird, ist stellenweise etwas mühsam und stark in politische Diskursebenen verstrickt, als Vexierspiel bleibt sie dennoch interessant und herausfordernd. Kindheitserinnerungen bieten Anlass für Nachforschungen in die Geschichte der Orte, in denen der Autor aufgewachsen ist. Es geht auch um das Fundament der Kindheit fürs ganze Leben, um die Balance von Wirklichkeit und Vorstellung, um die Frage, ob wir uns mit dem Glauben an eine wunderbare Kindheit belügen (müssen) oder ermutigen, um zu bestehen – die Wahrheit liegt in dialektischen Ebenen des Zwischen, des Sowohl und Als-Auch, des Außerdem und Darüber-Hinaus.

Diese Lebensberichterstattung ist für diesen Autor eine Bühne der verborgenen Jahre. Der Text ist mit Ambiguität behaftet, da der Leser nicht die Möglichkeit hat, ihn widerspruchslos zu lesen. Obwohl dieser autobiographisch grundierte Bericht kreativ und gedankenanregend ist, scheitert die Ausführung letztendlich daran, daß der Autor versucht, zu viel gleichzeitig zu bewältigen. Ein Riss geht durch Deutschland, nicht nur der Riss zwischen Ost und West. Sein Versuch, so viele Geschichten zu erzählen, die alle irgendwie miteinander zusammenhängen, überwältigt und geht gleichzeitig nicht tief genug. Es ist die Geschichte einer Kindheit, geprägt durch Enge, Intoleranz und die ohnmächtige Wut eines Vaters. Bergmann schreibt autobiographische Erinnerungen einer Kindheit im geteilten Deutschland. Es ist die Geschichte einer vom Krieg 1939-1945 verwundeten Familie. Er erzählt von Flucht und Trennung, und wie Janus in Bonn am Rhein eine neue Heimat findet und wie seine Kindheit endet. Dieser Doppelhimmel will zugleich von innen wie außen betrachtet sein. Es ist sehr angenehm zu lesen, daß hier keine Folklorisierung der DDR stattfindet.

Arbeit an der Faktografie mit bewußter Ausweitung auf die Zeitgenossenschaft

Die Janusdämmerung von Bergmann zeigt exemplarisch, warum der Mittelteil einer Trilogie oft der schwierigste ist. Dies ist dem Autor durchaus bewusst, denn er hat zwei unterschiedliche Versionen diese Autofiktion angefertigt. Die gelunge Version Gionos Lächeln hat KUNO im letzten Jahr als Fortsetzungsroman präsentiert.

In der XXL-Version verliert sich ein junger Mann (man darf stark vermuten, daß sich der Autor hinter dieser Figur verbirgt) im Rausch seiner Tagträume, in den Büchern und in der Liebe. Sie heißt Stella. Sein Name ist Ich. Sein Vorname Janus. Er scheitert in der Literarisierung des eigenen Lebens, und indem er so das Leben flieht, findet er sich erst in der Nähe des Todes wieder: „Ich darf nicht weiter sterben, ich muss neu beginnen.“

Wir lesen eine Coming-of-age story, bei der auch die existenziellen Sinnfragen nicht zu kurz kommen: „… wenn wir hoffen, wir könnten eine lineare Strategie gegen den Tod entwickeln, so basteln wir nur eine private Religion, die uns einlullt. Alles was wir erzählen ist am Ende nichts anderes als Konfabulation, fiktive Erinnerung, Deutung als Fiktion. Andererseits: „Ohne Sinngebung keine Überwindung unserer absurden Existenz … Du bastelst dir deine Firmamente aus Seegarn, Phantasmen, Fragmentalitäten, Sibyllarien und enigmathematischen Themen, poethischen Allyren mit Metapotential und Grammur …“

Erzählerisch hat der Autor durchaus ein Gespür für Zeit und Entwicklung. Einzelne Kapitel und Abschnitte widmen sich Herkunft und Inspirationsquellen des Autors. Die XXL-Version hat besinnliche Partien und dramatischen Episoden: Janus reist durch die USA und begibt sich in Gefahr, er stürzt sich in hochstaplerische Abenteuer, belügt alle und sich selbst, zuletzt scheitert er auf der ganzen Linie. Es geht um die Katarakte der Selbsterkenntnis, über das Aufwachen ins Leben und den Weg zum Du, um sich selbst zu finden. Es handelt von einem Versuch der Selbsterschaffung – auch von den Grenzen der Religion und des Philosophierens, ungesagt auch von der Ohnmacht der Wörter. Janus ist für Bergmann eine tragikomische Figur, aber sie vermag es nicht, die Langversion tragisch zu erzählen. Man hat es bei der Janusdämmerung letztlich mit einer Figur zu tun, der zwar ein Plot widerfährt, aber keine Geschichte.

Gionos Lächeln gehört zum kühnsten, was der Autor verfasst hat.

Der schalkhafter Grandseigneur kann aber auch anders, dies lesen wir in seinem, für diesen Autor eher experimentellen Ansatz. Vieles bleibt in der Alternativversion Gionos Lächeln offen und in der Schwebe, Lücken tun sich auf und auch Leerstellen, man mag darin einen lyrischen Gestus erkennen. Das Alltägliche wird bei Bergmann zum poetischen Ereignis, immer wieder gibt es Passagen, die das Wiederlesen und Nochmallesen lohnen. Poesie ist gerade dann, wenn man sie als Sprache der Wirklichkeit ernst nimmt, kein animistisches, vitalistisches Medium, sondern eine Verlebendigungsmaschine. Diese Version gehört zum kühnsten, was der Autor verfasst hat.

In diesem halb-biographischen Buch beschreibt der Autor das Leben seiner Mutter.

Jedem Erzählen wohnt die Fälschung inne. In der letzten Faktografie läßt Bergmann erzählen. Usch – Träumerin und Realistin, Protagonistin auf ihrer Lebensbühne, Erzeugerin und Erleidende ihrer Lebensakte, auch Genießerin, Unterhalterin ihres Freundeskreises – erzählt ihr Leben: von ihrer Jugend im Dritten Reich, vom Krieg und den Folgen; wie sie ihren Mann verliert und einen neuen Mann gewinnt. Auch andere Stimmen reden und erzählen: von ihrem Leben in der DDR, die sie liebt; wie sie ihre Kinder an den Westen verliert; wie sie ihre DDR verliert, ihren Mann, und schließlich sich selbst.

Wichtig ist nicht die Geschichte, wichtig erscheint, wie der Autor das Verhältnis zwischen den Institutionen und dem Individuum in den Blick nimmt. Bergmann beschreibt in dieser Dokufiktion das Leben seiner Mutter mit allen Höhen und Tiefen, aber gleichzeitig bringt er viele autobiographische Aspekte mit ein oder erzählt über seine Empfindungen während des Schreibens. Grundsätzlich erzählt er den Werdegang einer Frau, die sich zu emanzipieren und zu verwirklichen versucht. Wir befinden uns in Halle an der Saale. Usch träumt von der Liebe. Dann erzählt sie bei ihrem 90. Geburtstag ihren Freundinnen von ihrer ersten Liebe. Es folgt die Erzählung, wie sie 1944 Robert, ihren ersten Mann, kennenlernt, heiratet, wie es zur Schwangerschaft und Geburt ihres Sohnes Janus kommt und wie ihr Mann nicht wieder aus der sowjetischen Gefangenschaft zurückkehrt. Ihre Mutter wird von einem russischen Lastwagen überfahren. Usch lernt 1948 Gerhard kennen, der in der DDR Richter wird. Susanne wird 1952 geboren. Usch heiratet Gerhard nach Toterklärung Roberts, der 1954 plötzlich aus Sibirien zurückkehrt. Roberts Mutter erreicht, daß Usch Janus zu seinem Vater in den Westen bringt, ohne Robert zu begegnen. Usch verbringt mit Gerhard einen Sommeraufenthalt auf Hiddensee. Uschs Jägerzimmer und ihre Puppensammlung verweist auf die Frage, wie aus der Reflexion der Innenwelt eine neue Orientierung gewonnen werden kann.

Bergmann veranschaulicht das Zyklische menschlicher Erfahrungen. Usch ist keine historische Figur an der die DDR als Unrechtsstaat kenntlich gemacht wird. Das Wesen dieses Unrechts aber bleibt äußerlich. Diese Aufzeichnungen sind die Geschichte des Erinnerns, der Suche nach dem, was Individualität und Beziehungen prägt, das Verstehen-Wollen des Erzählers und des Dahinsinkens in das Vergessen seiner Mutter. Im Traum besucht Usch auf dem Dorotheenstädischen Friedhof in Berlin den gestorbenen Heiner Müller. Usch trifft sich 1967 mit Janus nach einer politischen TV-Diskussion in Ost-Berlin und sie begegnen im Café Moskau dem prominenten DDR-Anwalt Friedrich Karl Kaul. 1975 besucht Janus seine Mutter in Halle – weitere Entfremdung von der Mutter. Seine Schwester Susanne, die als Erwachsene wegen Wohnungsnot bei Usch und Gerhard wohnt, erzählt von ihrem beengten Leben. Später verliebt sich Susanne in einen jungen Mann, den sie Zeus nennt, der Antrag auf Ausreise in den Westen stellt. Susanne verlässt die elterliche Wohnung und stellt ebenfalls einen Ausreiseantrag – das führt zum Zerwürfnis mit ihren Eltern, insbesondere mit dem Vater, der seine Richterstelle aufgibt.

Wichtiger ist nicht die Geschichte, wichtig erscheint wie der Autor das Verhältnis zwischen den Institutionen und dem Individuum in den Blick nimmt. Susanne verliert wegen des Ausreiseantrags ihre Stelle als Kindergärtnerin, kann aber 1984 ausreisen, nach Bonn zu Zeus. 1985 Uschs Besuch in Bonn bei Janus, seiner Frau Stella und dem Enkelsohn Felix – Wiederannäherung von Usch und Janus. Ein weiterer Traum Uschs. 1989 der Fall der Mauer. Uschs Traum und Erkenntnis vom Niedergang der DDR. Susanne erzählt von ihrer Trennung von Zeus und von ihrem Stasi-Erlebnis. Usch zieht Zwischenbilanz. Hiddenseereise – Gerhards Alzheimererkrankung und Tod. Usch lebt allein und leidet an Paranoia, es folgt ihr Zusammenbruch und der Umzug ins Altenpflegeheim. Wir lesen Uschs letzten Brief an Janus, die letzten Gespräche Uschs mit Janus und einen letzten Traum Uschs.

Conclusio

Damit ist die Familiengeschichte des Flözgängers auserzählt. In dieser Trilogie eröffnen sich überraschende Bezugsfelder und Querverbindungen, weniger im Stilistischen als vielmehr in der Thematik und Motivik, im Ausdruckswillen und in der geistigen Grundhaltung des Autors. Die Redaktion vermisst in diesen Autofiktionen jedoch den gewitzten Nonsens und die pointierte Kürze seiner Kurzprosafolgen. Während die Miniaturen das eigentliche Hauptwerk von Bergmann sind, hat er mit dieser Abfolge einer ausschweifenden Lebensberichterstattung eine education sentimentale geschreiben.

 

 

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Doppelhimmel von Ulrich Bergmann. Free Pen, Bonn 2012

Janusdämmerung von Ulrich Bergmann, Free Pen Verlag 2021

Usch von Ulrich Bergmann, Free Pen Verlag 2022

Weiterführend

Lesen Sie auf KUNO auch den Essay über den Flözgänger, mit dem wir aus Sicht der Resaktion, sein eigentliches Hauptwerk gewürdigt haben.

Ein Hinweis auf den Fortsetzungsroman Gionos Lächeln. Das Alltägliche wird bei Ulrich Bergmann zum poetischen Ereignis, immer wieder gibt es Passagen, die das Wiederlesen und Nochmallesen lohnen. Poesie ist gerade dann, wenn man sie als Sprache der Wirklichkeit ernst nimmt, kein animistisches, vitalistisches Medium, sondern eine Verlebendigungsmaschine.