Kafkas Axt

„… ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“

Es kann uns nicht vor dem Ertrinken retten.

 

Franz Kafka: Von den Gleichnissen

 

Viele beklagen sich, dass die Worte der Weisen immer wieder nur Gleichnisse seien, aber unverwendbar im täglichen Leben, und nur dies allein haben wir. Wenn der Weise sagt: „Gehe hinüber“, so meint er nicht, dass man auf die andere Seite hinübergehen solle, was man immerhin noch leisten könnte, wenn das Ergebnis des Weges wert wäre, sondern er meint irgendein sagenhaftes Drüben, etwas, das wir nicht kennen, das auch von ihm nicht näher zu bezeichnen ist und das uns also hier gar nichts helfen kann. Alle diese Gleichnisse wollen eigentlich nur sagen, dass das Unfassbare unfassbar ist, und das haben wir gewusst. Aber das, womit wir uns jeden Tag abmühen, sind andere Dinge.

Darauf sagte einer: „Warum wehrt ihr euch? Würdet ihr den Gleichnissen folgen, dann wäret ihr selbst Gleichnisse geworden und damit schon der täglichen Mühe frei.“

Ein anderer sagte: „Ich wette, dass auch das ein Gleichnis ist.“

Der erste sagte: „Du hast gewonnen.“

Der zweite sagte: „Aber leider nur im Gleichnis.“

Der erste sagte: „Nein, in Wirklichkeit; im Gleichnis hast du verloren.“

Kafka schrieb den Text ohne Titel. Max Brod trifft mit seinem Titel zwar den Kern, aber „Gleichnis von den Gleichnissen“ träfe noch genauer die gewollte Abundanz und Tautologie.

Der Text ist ein Meta-Gleichnis mit der Behauptung: Alle Gleichnisse sagen, dass das Unfassbare (die Wirklichkeit) unfassbar ist und daher auch keine praktische Bedeutung haben können.

Das gilt auch für Kafkas Meta-Gleichnis selbst, wie überhaupt für alle Literatur. Die dialogisch diskutierte Hoffnung, dass die Erkenntnis dieser Unfassbarkeit befreit, wird enttäuscht. Denn das Gewinnen in der Wirklichkeit ist kein Gewinn, wenn man im Gleichnis (in der Deutung der Wirklichkeit) verliert. Anders gesagt: Die Einsicht in die Unfassbarkeit der Wirklichkeit kann nicht befreien.

Das „Aber“ im letzten Satz des Erzählers vor dem Gespräch konstruiert einen Gegensatz zwischen Wirklichkeit (Leben) und Deutung (Handeln). Der Dialog zeigt die tautologische Einheit von Wirklichkeit und Deutung.

Und die ebenfalls nur konstruierte Hoffnung (werdet selbst zum Gleichnis!) wird durch die folgende Antwort völlig entwertet: Wie kann das Gleichnis eines Gleichnisses wirklich werden? So steckt die Wirklichkeit in einer unendlichen Schachtelung von Gleichnissen – oder was sind Gleichnisse in einer unendlichen Schachtelung von Wirklichkeiten?

Das „Drüben“ ist genauso unfassbar wie die alltägliche Wirklichkeit, es ist mitten unter uns. Auch das Sich-nicht-Wehren gegen die Unfassbarkeit ist kein Gewinn. Das Deuten wiederholt sich in Kafkas Meta-Gleichnis, es dreht sich im Kreis. Die Deutung kommt über das Gedeutete nicht hinaus – die Wirklichkeit erreicht immer nur die Bedeutung, die wir ihr geben.

Franz Kafka, Auf der Galerie

Wenn irgendeine hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin in der Manege auf schwankendem Pferd vor einem unermüdlichen Publikum vom peitschenschwingenden erbarmungslosen Chef monatelang ohne Unterbrechung im Kreise rundum getrieben würde, auf dem Pferde schwirrend, Küsse werfend, in der Taille sich wiegend, und wenn dieses Spiel unter dem nichtaussetzenden Brausen des Orchesters und der Ventilatoren in die immerfort weiter sich öffnende graue Zukunft sich fortsetzte, begleitet vom vergehenden und neu anschwellenden Beifallsklatschen der Hände, die eigentlich Dampfhämmer sind – vielleicht eilte dann ein junger Galeriebesucher die lange Treppe durch alle Ränge hinab, stürzte in die Manege, rief das – Halt! durch die Fanfaren des immer sich anpassenden Orchesters.

Da es aber nicht so ist; eine schöne Dame, weiß und rot, hereinfliegt, zwischen den Vorhängen, welche die stolzen Livrierten vor ihr öffnen; der Direktor, hingebungsvoll ihre Augen suchend, in Tierhaltung ihr entgegenatmet; vorsorglich sie auf den Apfelschimmel hebt, als wäre sie seine über alles geliebte Enkelin, die sich auf gefährliche Fahrt begibt; sich nicht entschließen kann, das Peitschenzeichen zu geben; schließlich in Selbstüberwindung es knallend gibt; neben dem Pferde mit offenem Munde einherläuft; die Sprünge der Reiterin scharfen Blickes verfolgt; ihre Kunstfertigkeit kaum begreifen kann; mit englischen Ausrufen zu warnen versucht; die reifenhaltenden Reitknechte wütend zu peinlichster Achtsamkeit ermahnt; vor dem großen Salto mortale das Orchester mit aufgehobenen Händen beschwört, es möge schweigen; schließlich die Kleine vom zitternden Pferde hebt, auf beide Backen küßt und keine Huldigung des Publikums für genügend erachtet; während sie selbst, von ihm gestützt, hoch auf den Fußspitzen, vom Staub umweht, mit ausgebreiteten Armen, zurückgelehntem Köpfchen ihr Glück mit dem ganzen Zirkus teilen will – da dies so ist, legt der Galeriebesucher das Gesicht auf die Brüstung und, im Schlußmarsch wie in einem schweren Traum versinkend, weint er, ohne es zu wissen.

Mich interessiert am allermeisten die Reaktion des Galeriebesuchers. Es sind zwei Möglichkeiten dargestellt, wie ein junger Mann Arbeit und Kunst der Zirkusreiterin reflektiert und empfindet:

Der junge Mann sieht, wie qualvoll die Artistin sich abrackert, um dem Publikum, das unterhalten werden will, den schönen Schein zu bieten. Der junge Galeriebesucher ist ein Idealist, der das Leiden der Artistin erkennt und beenden will – wenn es ihn gäbe! „Vielleicht“, heißt es, und dann folgt der Konjunktiv für diese Möglichkeit; der Konjunktiv passt übrigens gut zum schönen Schein. Man sieht hinter die Kulissen des schönen Scheins.

Dieser junge Galeriebesucher ist wirklich da („da dies so ist“) – und der schöne Schein wird nun zur ganzen, einen Realität; alles ist wunderschön, obwohl es das reinste Theater, fast ein Traum.

Jetzt protestiert der junge Mann auch nicht, er ist versunken in den Schein, er ist ganz gefangen vom Spiel in der Zirkuswelt. Er schaut am Ende gar nicht mehr hin, die Bilder sind nun in seinem Kopf und im Herzen, er „weint…, ohne es zu wissen.“ Das Weinen bedeutet Seligkeit, Glücklichsein, vielleicht auch unbewusstes Trauern. Die Kunst, die den jungen Mann begeistert und glücklich macht, siegt.

Aber der Autor, und mit ihm der Leser, weint, er beklagt die Schwere des Lebens. Das Publikum sieht nur, was es gekauft hat: Eine unterhaltende Wirklichkeit im Schein des Schönen. Der Galeriebesucher fühlt, ahnt aus der Ferne etwas davon, ist jedoch sprachlos.

Welche Realität ist die wahre: Die harte Arbeit für den schönen Schein, die Kunst – oder der schöne Schein, die Kunst als Glücksmoment? Beides gehört zusammen. Die eine Wirklichkeit braucht die andere.

Die Koketterie mit dem Tod wird umso härter, je älter wir werden, strenger, kälter, heftiger, immer näher, Aug in Auge, Doppelatem.

In der Tat folgt den Erkenntnisschmerzen neues Leben, zumindest fragmentarisch, und viele Fragmente ergeben auf einmal ein Ganzes, das ist das unfassbare Geheimnis vom Umschlagen der Quantität in Qualität durch synthetische Addition.

Es gibt in Kafkas Roman „Der Prozess“ Szenen, in denen derartige Abgründe aufgetan werden: Aber es ist nur der Spalt einer Tür zum Schlund, zum brennenden Kern, zum Magma in uns und außer uns, es sind die verführerischen Frauen, die K. ausgerechnet in den Bezirken der Justiz bedrohen. Hier haben wir eine subtile Vernetzung von Seelen-Analyse und gesellschaftlichen Bedingungen.

Das Wesen des Montierens mit mehr oder weniger sichtbaren oder gar absichtlichen ‚Nähten’ unserer Lebensfragmente bedeutet und bedingt ja auch ein neues Sehen wie bei den surrealistischen oder symbolistischen Malern. Wie wäre sonst Kafka zu beurteilen, der ja mit den Nähten seiner Ideenbilder und Realitäten bewusst arbeitet – ich bin versucht zu sagen, bei Kafka ist die Naht ja schon das eigentliche Thema! Die Auflösung der Realität, die nicht mehr als Ganzheit begriffen wird, ist durch die Montage der Symbolisten und Surrealisten konsequent erweitert. Aber heute sind uns die symbolistischen und impressionistischen Bilder, die Farben unserer Gefühle und Töne unserer Augengedanken so vertraut, dass die Sichtweise ihrer Maler gar nicht mehr genügt.

 

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Weiterführend  Bereits zum zehnten Todestag erkannte Walter Benjamin die Bedeutung dieses Autors.

Lesen Sie auf KUNO auch den Essay über den Flözgänger, mit dem wir aus Sicht der Redaktion, als sein eigentliches Hauptwerk gewürdigt haben.

Ein Hinweis auf den Fortsetzungsroman Gionos Lächeln. Das Alltägliche wird bei Ulrich Bergmann zum poetischen Ereignis, immer wieder gibt es Passagen, die das Wiederlesen und Nochmallesen lohnen. Poesie ist gerade dann, wenn man sie als Sprache der Wirklichkeit ernst nimmt, kein animistisches, vitalistisches Medium, sondern eine Verlebendigungsmaschine.