Franz Kafka – Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages

Potemkin

Es wird erzählt: Potemkin litt an schweren mehr oder weniger regelmäßig wiederkehrenden Depressionen, während deren sich niemand ihm nähern durfte und der Zugang zu seinem Zimmer aufs strengste verboten war. Am Hofe wurde dieses Leiden nicht erwähnt, insbesondere wusste man, dass jede Anspielung darauf die Ungnade der Kaiserin Katharina nach sich zog. Eine dieser Depressionen des Kanzlers dauerte außergewöhnlich lange. Ernste Missstände waren die Folgen; in den Registraturen häuften sich Akten, deren Erledigung, die ohne Unterschrift Potemkins unmöglich war, von der Zarin gefordert wurde. Die hohen Beamten wussten sich keinen Rat. In dieser Zeit geriet durch einen Zufall der unbedeutende kleine Kanzlist Schuwalkin in die Vorzimmer des Kanzlerpalais, wo die Staatsräte wie gewöhnlich jammernd und klagend beisammen standen.

»Was gibt es, Exzellenzen? Womit kann ich Exzellenzen dienen?« bemerkte der eilfertige Schuwalkin. Man erklärte ihm den Fall und bedauerte, von seinen Diensten keinen Gebrauch machen zu können.

»Wenn es weiter nichts ist, meine Herren,« antwortete Schuwalkin, »überlassen Sie mir die Akten. Ich bitte darum.« Die Staatsräte, die nichts zu verlieren hatten, ließen sich dazu bewegen, und Schuwalkin schlug, das Aktenbündel unterm Arm, durch Galerien und Korridore den Weg zum Schlafzimmer Potemkins ein. Ohne anzuklopfen, ja ohne haltzumachen, drückte er die Türklinke nieder. Das Zimmer war nicht verschlossen. Im Halbdunkel saß Potemkin auf seinem Bett, nägelkauend, in einem verschlissenen Schlafrock. Schuwalkin trat zum Schreibtisch, tauchte die Feder ein und, ohne ein Wort zu verlieren, schob er sie Potemkin in die Hand, den erstbesten Akt auf seine Knie. Nach einem abwesenden Blick auf den Eindringling, wie im Schlaf vollzog Potemkin die Unterschrift, dann eine zweite; weiter die sämtlichen. Als die letzte geborgen war, verließ Schuwalkin ohne Umstände, wie er gekommen war, sein Dossier unterm Arm, das Gemach. Triumphierend die Akten schwenkend trat er in das Vorzimmer. Ihm entgegen stürzten die Staatsräte, rissen die Papiere aus seinen Händen. Atemlos beugten sie sich darüber. Niemand sagte ein Wort; die Gruppe erstarrte. Wieder trat Schuwalkin näher, wieder erkundigte er sich eilfertig nach dem Grund der Bestürzung der Herren. Da fiel auch sein Blick auf die Unterschrift. Ein Akt wie der andere war unterfertigt: Schuwalkin, Schuwalkin, Schuwalkin …

Diese Geschichte ist wie ein Herold, der dem Werke Kafkas zweihundert Jahre vorausstürmt. Die Rätselfrage, die sich in ihr wölkt, ist Kafkas. Die Welt der Kanzleien und Registraturen, der muffigen verwohnten dunklen Zimmer ist Kafkas Welt.

Der eilfertige Schuwalkin, der alles so leicht nimmt und zuletzt mit leeren Händen da steht, ist Kafkas K. Potemkin aber, der halb schlafend und verwahrlost, in einem abgelegenen Raum, zu dem der Zugang untersagt ist, dahindämmert, ist ein Ahn jener Gewalthaber, die bei Kafka als Richter in den Dachböden, als Sekretäre im Schloß hausen, und die, so hoch sie stehen mögen, immer Gesunkene oder vielmehr Versinkende sind, dafür aber noch in den Untersten und in den Verkommensten den Türhütern und den altersschwachen Beamten auf einmal unvermittelt in ihrer ganzen Machtfülle auftauchen können.

Worüber dämmern sie dahin? Vielleicht sind sie Nachkommen der Atlanten, die die Weltkugel in ihrem Nacken tragen? Vielleicht halten sie darum den Kopf »so tief auf die Brust gesenkt, dass man kaum etwas von den Augen« sieht, wie der Schloßkastellan auf seinem Porträt oder Klamm, wenn er mit sich allein ist? Die Weltkugel aber ist es nicht, die sie tragen; nur dass schon das Alltäglichste ihr Gewicht hat: »Sein Ermatten ist das des Gladiators nach dem Kampf, seine Arbeit war das Weißtünchen eines Winkels in einer Beamtenstube.«

Georg Lukacs hat einmal gesagt: um heute einen anständigen Tisch zu bauen, muss einer das architektonische Genie von Michelangelo haben. Wie Lukacs in Zeitaltern so denkt Kafka in Weltaltern. Weltalter hat der Mann beim Tünchen zu bewegen. Und so noch in der unscheinbarsten Geste. Vielfach und aus sonderbarem Anlass klatschen Kafkas Figuren in die Hände. Einmal jedoch wird beiläufig gesagt, dass diese Hände »eigentlich Dampfhämmer« sind. In ständiger und langsamer Bewegung versinkend oder steigend lernen wir diese Machthaber kennen. Furchtbarer aber sind sie nirgends, als wo sie aus der tiefsten Verkommenheit sich heben: aus den Vätern. Den stumpfen altersschwachen Vater, den er soeben sanft gebettet hat, beruhigt der Sohn: »„Sei nur ruhig, du bist gut zugedeckt.“ „Nein!“ rief der Vater, dass die Antwort an die Frage stieß, warf die Decke zurück mit einer Kraft, dass sie einen Augenblick im Fluge sich ganz entfaltete, und stand aufrecht im Bett. Nur eine Hand hielt er leicht an den Plafond. „Du wolltest mich zudecken, das weiß ich, mein Früchtchen, aber zugedeckt bin ich noch nicht. Und ist es auch die letzte Kraft, genug für dich, zuviel für dich! … Den Vater muss glücklicherweise niemand lehren, den Sohn zu durchschauen.“ … Und er stand vollkommen frei und warf die Beine. Er strahlte vor Einsicht. … „Jetzt weißt du also, was es noch außer dir gab, bisher wusstest du nur von dir! Ein unschuldiges Kind warst du ja eigentlich, aber noch eigentlicher warst du ein teuflischer Mensch!“ „Der Vater, der die Last des Deckbetts abwirft, wirft eine Weltlast mit ihr ab. Weltalter muss er in Bewegung setzen, um das uralte Vater-Sohn-Verhältnis lebendig, folgenreich zu machen. Doch reich an welchen Folgen!

Er verurteilt den Sohn zum Tode des Ertrinkens. Der Vater ist der Strafende. Ihn zieht die Schuld wie die Gerichtsbeamten an. Viel deutet darauf hin, dass die Beamtenwelt und die Welt der Väter für Kafka die gleiche ist. Die Ähnlichkeit ist nicht zu ihrer Ehre. Stumpfheit, Verkommenheit, Schmutz macht sie aus. Die Uniform des Vaters ist über und über fleckig; seine Unterwäsche ist unsauber. Schmutz ist das Lebenselement der Beamten. »Es war ihr unverständlich, wozu es überhaupt Parteienverkehr gab. „Um vorn die Haustreppe schmutzig zu machen“, hatte ihr einmal ein Beamter auf ihre Frage, wahrscheinlich im Ärger, gesagt, ihr aber war das sehr einleuchtend gewesen«. In dem Grade ist Unsauberkeit das Attribut der Beamten, dass man sie geradezu als riesenhafte Parasiten ansehen könnte. Das betrifft natürlich nicht die wirtschaftlichen Zusammenhänge, sondern die Kräfte der Vernunft und der Menschlichkeit, von denen diese Sippe ihr Leben fristet. So fristet aber auch der Vater in den sonderbaren Familien Kafkas von dem Sohn sein Leben, liegt wie ein ungeheurer Parasit auf ihm. Er zehrt nicht nur an seiner Kraft, er zehrt an seinem Rechte da zu sein. Der Vater, der der Strafende ist, ist zugleich auch der Ankläger.

Die Sünde, deren er den Sohn bezichtigt, scheint eine Art von Erbsünde zu sein. Denn wen trifft die Bestimmung, welche Kafka von ihr gegeben hat, mehr als den Sohn: »Die Erbsünde, das alte Unrecht, das der Mensch begangen hat, besteht in dem Vorwurf, den der Mensch macht und von dem er nicht ablässt, dass ihm ein Unrecht geschehen ist, dass an ihm die Erbsünde begangen wurde.« Wer aber wird dieser Erbsünde der Sünde einen Erben gemacht zu haben bezichtigt wenn nicht der Vater durch den Sohn? Somit wäre der Sündige der Sohn. Nicht aber darf man aus dem Satze Kafkas schließen, dass die Bezichtigunglosigkeit, aus der sich K. fortwährend, aber vergeblich zu retten suchte, paar Schritte weit, schlugen dumpf an Klamms Tür und lagen dann in den kleinen Pfützen Biers und dem sonstigen Unrat, von dem der Boden bedeckt war. Dort vergingen Stunden, … in denen K. immerfort das Gefühl hatte, er verirre sich oder er sei so weit in der Fremde, wie vor ihm noch kein Mensch, eine Fremde, in der selbst die Luft keinen Bestandteil der Heimatluft habe, in der man vor Fremdheit ersticken müsse und in deren unsinnigen Verlockungen man doch nichts tun könne als weiter gehen, weiter sich verirren.« Von dieser Fremde werden wir noch hören. Bemerkenswert ist aber, dass diese hurenhaften Frauen nie schön erscheinen. Vielmehr taucht Schönheit in der Welt von Kafka nur an den verstecktesten Stellen auf: bei den Angeklagten zum Beispiel. »„Das allerdings ist eine merkwürdige, gewissermaßen naturwissenschaftliche Erscheinung … Es kann nicht die Schuld sein, die sie schön macht … es kann auch nicht die richtige Strafe sein, die sie jetzt schon schön macht … es kann also nur an dem gegen sie erhobenen Verfahren liegen, das ihnen irgendwie anhaftet.«„

Aus dem Prozeß lässt sich entnehmen, dass dieses Verfahren hoffnungslos für die Angeklagten zu sein pflegt selbst dann hoffnungslos, wenn ihnen die Hoffnung auf Freispruch bleibt. Diese Hoffnungslosigkeit mag es sein, die an ihnen als den einzigen Kafkaschen Kreaturen Schönheit zum Vorschein bringt. Zumindest würde das sehr gut mit einem Gesprächsfragment übereinstimmen, das durch Max Brod überliefert wurde. »Ich entsinne mich«, schreibt er, »eines Gesprächs mit Kafka, das vom heutigen Europa und dem Verfall der Menschheit ausging. „Wir sind“, so sagte er, „nihilistische Gedanken, Selbstmordgedanken, die in Gottes Kopf aufsteigen.“ Mich erinnerte das zuerst an das Weltbild der Gnosis: Gott als böser Demiurg, die Welt sein Sündenfall. „Oh nein“, meinte er, „unsere Weit ist nur eine schlechte Laune Gottes, ein schlechter Tag.“ „So gäbe es außerhalb dieser Erscheinungsform Weit, die wir kennen, Hoffnung?“ Er lächelte: Oh, Hoffnung genug, unendlich viel Hoffnung nur nicht für uns.“ Diese Worte schlagen eine Brücke zu jenen sonderbarsten Gestalten Kafkas, die als einzige dem Schoße der Familie entronnen sind und für die es vielleicht Hoffnung gibt. Das sind nicht die Tiere, nicht einmal jene Kreuzungen oder Gespinstwesen, wie das Katzenlamm oder Odradek.

Alle diese vielmehr leben noch im Bann der Familie. Nicht umsonst erwacht Gregor Samsa gerade in der elterlichen Wohnung als Ungeziefer, nicht umsonst ist das eigentümliche Tier, halb Kätzchen, halb Lamm, ein Erbstück aus des Vaters Besitz, nicht umsonst Odradek die Sorge des Hausvaters. Die Gehilfen aber fallen in der Tat aus diesem Ringe heraus. Diese Gehilfen gehören einem Gestaltenkreis an, der das ganze Werk Kafkas durchzieht. Von ihrer Sippe ist so gut der Bauernfänger, der in der Betrachtung entlarvt wird, wie der Student, der nachts auf dem Balkon als Nachbar Karl Roßmanns zum Vorschein kommt, wie auch die Narren, die in jener Stadt im Süden wohnen und nicht müde werden. Das Zwielicht über ihrem Dasein erinnert an die schwankende Beleuchtung, in der die kleinen Stücke Robert Walsers Verfasser des Romans »Der Gehülfe«, den Kafka sehr geliebt hat ihre Figuren erscheinen lassen. Indische Sagen kennen die Gandharwe, unfertige Geschöpfe, Wesen im Nebelstadium. Von ihrer Art sind die Gehilfen Kafkas; keinem der anderen GestaItenkreise zugehörig, keinem fremd: die Boten, die zwischen ihnen geschäftig sind. Sie sehen, wie Kafka sagt, dem Barnabas ähnlich, und der ist ein Bote. Noch sind sie aus dem Mutterschoße der Natur nicht voll entlassen und haben darum »sich in einer Ecke auf dem Boden auf zwei alten Frauenröcken eingerichtet. Es war … ihr Ehrgeiz, … möglichst wenig Raum zu brauchen, sie machten in Franz Kafka dieser Hinsicht, immer freilich unter Lispeln und Kichern, verschiedene Versuche, verschränkten Arme und Beine, kauerten sich gemeinsam zusammen, in der Dämmerung sah man in ihrer Ecke nur ein großes Knäuel.« Für sie und ihresgleichen, die Unfertigen und Ungeschickten, ist die Hoffnung da. Was zart unverbindlicher am Walten dieser Boten erkennbar wird, das ist auf lastende und düstere Art Gesetz für diese ganze Welt von Kreaturen. Keine hat ihre feste Stelle, ihren festen, nicht eintauschbaren Umriss: keine die nicht im Steigen oder Fallen begriffen ist; keine die nicht mit ihrem Feinde oder Nachbarn tauscht; keine welche nicht ihre Zeit vollbracht und dennoch unreif, keine welche nicht tief erschöpft und dennoch erst am Anfang einer langen Dauer wäre. Von Ordnungen und Hierarchien zu sprechen, ist hier nicht möglich. Die Welt des Mythos, die das nahelegt, ist unvergleichlich jünger als Kafkas Welt, der schon der Mythos die Erlösung versprochen hat. Wissen wir aber eins, so ist es dies: dass Kafka seiner Lockung nicht gefolgt ist. Ein anderer Odysseus, ließ er sie »an seinen in die Ferne gerichteten Blicken« abgleiten, „,die Sirenen verschwanden förmlich vor seiner Entschlossenheit, und gerade als er ihnen am nächsten war, wusste er nichts mehr von ihnen.«

Unter den Ahnen, die Kafka in der Antike hat, den jüdischen und den chinesischen, auf die wir noch stoßen werden, ist dieser griechische nicht zu vergessen. Odysseus steht ja an der Schwelle, die Mythos und Märchen trennt. Vernunft und List hat Finten in den Mythos eingelegt; seine Gewalten hören auf, unbezwinglich zu sein. Das Märchen ist die Überlieferung vom Siege über sie. Und Märchen für Dialektiker schrieb Kafka, wenn er sich Sagen vornahm. Er setzte kleine Tricks in sie hinein; dann las er aus ihnen den Beweis davon, »dass auch unzulängliche, ja kindische Mittel zur Rettung dienen können«. Mit diesen Worten leitet er seine Erzählung von dem »Schweigen der Sirenen« ein. Die Sirenen schweigen nämlich bei ihm; sie haben »eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang, … ihr Schweigen«. Dieses brachten sie bei Odysseus zur Anwendung. Er aber, überlieferte Kafka, »war so listenreich, war ein solcher Fuchs, dass selbst die Schicksalsgöttin nicht in sein Innerstes dringen konnte. Vielleicht hat er, obwohl das mit Menschenverstand nicht mehr zu begreifen ist, wirklich gemerkt, dass die Sirenen schwiegen, und hat ihnen und den Göttern den« überlieferten »Scheinvorgang nur gewissermaßen als Schild entgegengehalten.«

Bei Kafka schweigen die Sirenen. Vielleicht auch darum, weil die Musik und der Gesang bei ihm ein Ausdruck oder wenigstens ein Pfand des Entrinnens sind. Ein Pfand der Hoffnung, das wir aus jener kleinen, zugleich unfertigen und alltäglichen, zugleich tröstlichen und albernen Mittelwelt haben, in welcher die Gehilfen zu Hause sind. Kafka ist wie der Bursche, der auszog, das Fürchten zu lernen. Er ist in Potemkins Palast geraten, zuletzt aber, in dessen Kellerlöchern, auf Josefine, jene singende Maus gestoßen, deren Weise er so beschreibt: »Etwas von der armen kurzen Kindheit ist darin, etwas von verlorenem, nie wieder aufzufindendem Glück, aber auch etwas vom tätigen heutigen Leben ist darin, von seiner kleinen, unbegreiflichen und dennoch bestehenden und nicht zu ertötenden Munterkeit.«

Ein Kinderbild

Es gibt ein Kinderbild von Kafka, selten ist die »arme kurze Kindheit« ergreifender Bild geworden. Es stammt wohl aus einem jener Ateliers des neunzehnten Jahrhunderts, die mit ihren Draperien und Palmen, Gobelins und Staffeleien so zweideutig zwischen Folterkammer und Thronsaal standen. Da stellt sich in einem engen, gleichsam demütigenden, mit Posamenten überladenen Kinderanzug der ungefähr sechsjährige Knabe in einer Art von Wintergartenlandschaft dar. Palmenwedel starren im Hintergrund; Und als gelte es, diese gepolsterten Tropen noch stickiger und schwüler zu machen, trägt das Modell in der Linken einen übermäßig großen Hut mit breiter Krempe, wie ihn Spanier haben. Unermesslich traurige Augen beherrschen die ihnen vorbestimmte Landschaft, in die die Muschel eines großen Ohrs hineinhorcht.

Der inbrünstige Wunsch, Indianer zu werden mag einmal diese große Trauer verzehrt haben: »Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.« Vieles ist in diesem Wunsche enthalten. Die Erfüllung gibt sein Geheimnis preis.

Er findet sie in Amerika. Dass es mit Amerika eine besondere Bewandtnis hat, geht aus dem Namen des Helden hervor. Während in den früheren Romanen der Autor sich nie anders als mit dem gemurmelten Initial ansprach, erlebt er hier mit vollem Namen auf dem neuen Erdteil seine Neugeburt. Er erlebt sie auf dem Naturtheater von Oklahoma. »Karl sah an einer Straßenecke ein Plakat mit folgender Aufschrift: Auf dem Rennplatz in Clayton wird heute von sechs Uhr früh bis Mitternacht Personal für das Theater in Oklahoma aufgenommen! Das große Theater von Oklahoma ruft euch! Es ruft nur heute, nur einmal! Wer jetzt die Gelegenheit versäumt, versäumt sie für immer! Wer an seine Zukunft denkt, gehört zu uns! Jeder ist willkommen! Wer Künstler werden will, melde sich! Wir sind das Theater, das jeden brauchen kann, jeden an seinem Ort! Wer sich für uns entschieden hat, den beglückwünschen wir gleich hier! Aber beeilt euch, damit ihr bis Mitternacht vorgelassen werdet! Um zwölf Uhr wird alles geschlossen und nicht mehr geöffnet! Verflucht sei, wer uns nicht glaubt! Auf nach Clayton!« Der Leser dieser Ankündigung ist Karl Roßmann, die dritte und glücklichere Inkarnation des K., der der Held von Kafkas Romanen ist. Das Glück erwartet ihn auf dem Naturtheater von Oklahoma, das eine wirkliche Rennbahn ist, wie das »Unglücklichsein« ihn einst auf dem schmalen Teppich seines Zimmers befallen hatte, auf dem er »wie in einer Rennbahn« einher lief. Seitdem Kafka seine Betrachtungen zum Nachdenken für Herrenreiter geschrieben hatte, den »neuen Advokaten« »hoch die Schenkel hebend, mit auf dem Marmor aufklingendem Schritt« die Gerichtstreppen hatte hinaufsteigen und seine Kinder auf der Landstraße in großen Sätzen mit verschränkten Armen ins Land hatte traben lassen, ist ihm diese Figur vertraut gewesen und in der Tat kann es auch Karl Roßmann geschehen, »zerstreut infolge seiner Verschlafenheit, oft zu hohe zeitraubende und nutzlose Sprünge« zu machen. Darum also kann es nur eine Rennbahn sein, auf der er ans Ziel seiner Wünsche gelangt.

Diese Rennbahn ist zugleich ein Theater, und das gibt ein Rätsel auf. Der rätselhafte Ort und die ganz rätsellose durchsichtige und lautere Figur des Kar! Roßmann gehören aber zusammen. Durchsichtig, lauter, geradezu charakterlos ist Karl Roßmann in dem Sinne nämlich, in dem Franz ‚Rosenzweig in seinem »Stern der Erlösung« sagt, in China sei der innere Mensch »geradezu charakterlos; der Begriff des Weisen, wie ihn klassisch … Kongfutse verkörpert, wischt über alle mögliche Besonderheit des Charakters hinweg; er ist der wahrhaft charakterlose, nämlich der Durchschnittsmensch … Etwas ganz andres als Charakter ist es, was den chinesischen Menschen auszeichnet: eine ganz elementare Reinheit des Gefühls.« Wie immer man es gedanklich vermitteln mag vielleicht ist diese Reinheit des Gefühls eine ganz besonders feine Waagschale des gestischen Verhaltens in jedem Fall weist das Naturtheater von Oklahoma auf das chinesische Theater zurück, welches ein gestisches ist. Eine der bedeutsamsten Funktionen dieses Naturtheaters ist die Auflösung des Geschehens in das Gestische. Ja man darf weitergehen und sagen, eine ganze Anzahl der kleineren Studien und Geschichten Kafkas treten erst in ihr volles Licht, indem man sie gleichsam als Akte auf das Naturtheater von Oklahoma versetzt. Dann erst wird man mit Sicherheit erkennen, dass Kafkas ganzes Werk einen Kodex von Gesten darstellt, die keineswegs von Hause aus für den Verfasser eine sichere symbolische Bedeutung haben, vielmehr in immer wieder anderen Zusammenhängen und Versuchsanordnungen um eine solche angegangen werden. Das Theater ist der gegebene Ort solcher Versuchsanordnungen. In einem unveröffentlichten Kommentar zum »Brudermord« hat Werner Kraft scharfblickend das Geschehen dieser kleinen Geschichte als ein szenisches durchschaut.

»Das Spiel kann beginnen, und es wird wirklich durch ein Glockenzeichen angekündigt. Dieses entsteht auf die natürlichste Weise, indem Wese das Haus verlässt, in welchem sein Büro liegt. Aber diese Türglocke, heißt es ausdrücklich, ist „zu laut für eine Türglocke“, sie tönt „über die Stadt hin zum Himmel auf“.« Wie diese Glocke, für eine Türglocke zu laut, zum Himmel auf tönt, so sind die Gesten Kafkascher Figuren zu durchschlagend für die gewohnte Umwelt und brechen in eine geräumigere ein. Je weiter Kafkas Meisterschaft gedieh, desto öfter verzichtete er darauf, diese Gebärden üblichen Situationen anzupassen, sie zu erklären. »„Es ist auch eine sonderbare Art,«„ Franz Kafka heißt es in der Verwandlung, »„sich auf das Pult zu setzen und von der Höhe herab mit dem Angestellten zu reden, der überdies wegen der Schwerhörigkeit des Chefs ganz nahe herantreten muss.“ Solche Begründungen hat schon der Prozeß weit hinter sich gelassen. »Bei den ersten Bänken« macht K., im vorletzten Kapitel, »halt, aber dem Geistlichen schien die Entfernung noch zu groß, er streckte die Hand aus und zeigte mit dem scharf gesenkten Zeigefinger auf eine Stelle knapp vor der Kanzel. K. folgte auch darin, er musste auf diesem Platz den Kopf schon weit zurückbeugen, um den Geistlichen noch zu sehn.«

Wenn Max Brod sagt: »Unabsehbar war die Welt der für ihn wichtigen Tatsachen«, so war für Kafka sicher am unabsehbarsten der Gestus. Jeder ist ein Vorgang, ja man könnte sagen ein Drama, für sich. Die Bühne, auf der dieses Drama sich abspielt, ist das Welttheater, dessen Prospekt der Himmel darstellt. Andererseits ist dieser Himmel nur Hintergrund; nach seinem eigenen Gesetz ihn zu durchforschen, hieße den gemalten Hintergrund der Bühne gerahmt in eine Bildergalerie hängen. Kafka reißt hinter jeder Gebärde wie Greco den Himmel auf; aber wie bei Greco der der Schutzpatron der Expressionisten war bleibt das Entscheidende, die Mitte des Geschehens die Gebärde. Gebückt vor Schrecken gehen die Leute, die den Schlag ans Hoftor vernommen haben. So würde ein chinesischer Schauspieler den Schreck darstellen, aber niemand zusammenfahren. An anderer Stelle spielt K. selbst Theater. Halb ohne es zu wissen, nahm er »langsam … mit vorsichtig aufwärts gedrehten Augen … vom Schreibtisch ohne hinzu sehn eines der Papiere, legte es auf die flache Hand und hob es allmählich, während er selbst aufstand, zu den Herren hinauf. Er dachte hierbei an nichts Bestimmtes, sondern handelte nur in dem Gefühl, dass er sich so verhalten müsste, wenn er einmal die große Eingabe fertig gestellt hätte, die ihn gänzlich entlasten sollte.« Die größte Rätselhaftigkeit mit größter Schlichtheit verbindet dieser Gestus als tierischer. Man kann die Tiergeschichten Kafkas auf eine gute Strecke lesen, ohne überhaupt wahrzunehmen, dass es sich gar nicht um Menschen handelt. Stößt man dann auf den Namen des Geschöpfs des Affen, des ‚Hundes oder des Maulwurfs so blickt man erschrocken auf und sieht, dass man vom Kontinent des Menschen schon weit entfernt ist. Doch Kafka ist das immer; der Gebärde des Menschen nimmt er die überkommenen Stützen und hat an ihr dann einen Gegenstand zu Überlegungen, die kein Ende nehmen.

Sie nehmen aber sonderbarerweise auch dann kein Ende, wenn sie von Kafkas Sinngeschichten ausgehen. Man denke an die Parabel Vor dem Gesetz. Der Leser, der ihr im »Landarzt« begegnete, stieß vielleicht auf die wolkige Stelle in ihrem Innern. Aber hätte er die nichtendenwollende Reihe von Erwägungen angestellt, die diesem Gleichnis dort entspringen, wo Kafka seine Auslegung unternimmt? Das geschieht durch den Geistlichen im »Prozeß« und zwar an einer so ausgezeichneten Stelle, dass man vermuten könnte, der Roman sei nichts als die entfaltete Parabel. Das Wort »entfaltet« ist aber doppelsinnig. Entfaltet sich die Knospe zur Blüte, so entfaltet sich das aus Papier gekniffte Boot, das man Kindern zu machen beibringt, zum glatten Blatt. Und diese zweite Art »Entfaltung« ist der Parabel eigentlich angemessen, des Lesers Vergnügen, sie zu glätten, so dass ihre Bedeutung auf der flachen Hand liegt. Kafkas Parabeln entfalten sich aber im ersten Sinne; nämlich wie die Knospe zur Blüte wird. Darum ist ihr Produkt der Dichtung ähnlich. Das hindert nicht, dass seine Stücke nicht gänzlich in die Prosaformen des Abendlandes eingehen und zur Lehre ähnlich wie die Haggadah zur Halacha stehen. Sie sind nicht Gleichnisse und wollen doch auch nicht für sich genommen sein; sie sind derart beschaffen, dass man sie zitieren, zur Erläuterung erzählen kann. Besitzen wir die Lehre aber, die von Kafkas Gleichnissen begleitet und in den Gesten K.’s und den Gebärden seiner Tiere erläutert wird? Sie ist nicht da; wir können höchstens sagen, dass dies und jenes auf sie anspielt. Kafka hätte vielleicht gesagt: als ihr Relikt sie überliefert; wir aber können ebensowohl sagen: sie als ihr Vorläufer vorbereitet. In jedem Falle handelt es sich dabei um die Frage der Organisation des Lebens und der Arbeit in der menschlichen Gemeinschaft. Diese hat Kafka umso stetiger beschäftigt, als sie ihm undurchschaubar geworden ist.

Wenn im berühmten Erfurter Gespräch mit Goethe Napoleon an die Stelle des Fatums die Politik gesetzt hat, so hätte Kafka dieses Wort variierend die Organisation als Schicksal definieren können. Und nicht nur in den ausgebreiteten Beamtenhierarchien des »Prozesses« und des »Schlosses« steht sie ihm vor Augen, sondern greifbarer noch in den schwierigen und unübersehbaren Bauvorhaben, deren ehrwürdiges Modell er im »Bau der Chinesischen Mauer« behandelt hat. »Die Mauer sollte zum Schutz für die Jahrhunderte werden; sorgfältigster Bau, Benutzung der Bauweisheit aller bekannten Zeiten und Völker, dauerndes Gefühl der persönlichen Verantwortung der Bauenden waren deshalb unumgängliche Voraussetzung für die Arbeit. Zu den niederen Arbeiten konnten zwar unwissende Taglöhner aus dem Volke, Männer, Frauen, Kinder, wer sich für gutes Geld anbot, verwendet werden; aber schon zur Leitung von vier Taglöhnern war ein verständiger, im Baufach gebildeter Mann nötig … Wir ich rede hier wohl im Namen vieler haben eigentlich erst im Nachbuchstabieren der Anordnungen der obersten Führerschaft uns selbst kennengelernt und gefunden, dass ohne die Führerschaft weder unsere Schulweisheit noch unser Menschenverstand für das kleine Amt, das wir innerhalb des großen Ganzen hatten, ausgereicht hätte.«

Diese Organisation ähnelt dem Fatum. Metschnikoff, der in seinem berühmten Buch »Die Zivilisation und die großen historischen Flüsse« ihr Schema gezeichnet hat, tut dies mit Wendungen, die von Kafka sein könnten. »Die Kanäle des Jangtse-Kiang und die Dämme des Hoang-ho«, schreibt er, »sind aller Wahrscheinlichkeit nach ein Resultat kunstvoll organisierter gemeinsamer Arbeit von … Generationen … Die kleinste Unachtsamkeit beim Stechen dieses oder jenes Grabens oder beim Stützen irgendeines Dammes, die geringste Nachlässigkeit, ein egoistisches Auftreten seitens eines Menschen oder einer Gruppe von Menschen in der Sache der Erhaltung des gemeinsamen Wasserreichtums, wird unter so ungewöhnlichen Verhältnissen die Quelle sozialer übel und weitreichenden gesellschaftlichen Unglücks. Demnach fordert ein Fluß-Ernährer mit Todesdrohen eine enge und dauernde Solidarität zwischen jenen Massen der Bevölkerung, welche oft einander fremd, ja feindlich sind; er verurteilt Jedermann zu solchen Arbeiten, deren gemeinsame Nützlichkeit sich erst mit der Zeit offenbart, und deren Plan sehr oft einem gewöhnlichen Menschen ganz unverständlich bleibt.«

Kafka wollte sich zu den gewöhnlichen Menschen gerechnet wissen. Die Grenze des Verstehens hat sich ihm auf Schritt und Tritt aufgedrängt. Und gern drängt er sie andern auf. Er scheint manchmal nicht weit entfernt, mit Dostojewski Großinquisitor zu sagen: »So haben wir denn ein Mysterium vor uns, das wir nicht begreifen können. Und eben weil es ein Rätsel ist, so hat en wir das Recht, es zu predigen, den Menschen zu lehren, dass das, woran gelegen ist, weder die Freiheit, noch die Liebe, sondern das Rätsel, das Geheimnis, das Mysterium ist, dem sie sich unterwerfen müssen ohne Nachdenken und auch gegen ihr Gewissen.« Den Versuchungen des Mystizismus ist Kafka nicht immer aus dem Wege gegangen. Von seiner Begegnung mit Rudolf Steiner haben wir eine Tagebuchnotiz, die mindestens in der Gestalt, in der sie publiziert ist, die Stellungnahme Kafkas nicht enthält. Hat er sich ihr entzogen? Sein Verfahren den eigenen Texten gegenüber lässt das keinesfalls als unmöglich erscheinen. Kafka verfügte über eine seltene Kraft, sich Gleichnisse zu schaffen. Trotzdem erschöpft er sich in dem, was deutbar ist, niemals, hat vielmehr alle erdenklichen Vorkehrungen gegen die Auslegung seiner Texte getroffen. Mit Umsicht, mit Behutsamkeit, mit Misstrauen muss man in ihrem Innern sich vorwärts tasten. Man muss sich Kafkas Eigenart zu lesen vor Augen halten, wie er sie in der Auslegung der genannten Parabel handhabt. Man darf auch an sein Testament erinnern. Die Vorschrift, mit der er die Vernichtung einer Hinterlassenschaft anbefahl, ist den näheren Umständen nach ebenso schwer ergründlich, ebenso sorgfältig abzuwägen, wie die Antworten des Türhüters vor dem Gesetz. Vielleicht wollte Kafka, den jeder Tag seines Lebens vor unenträtselbare Verhaltungsweisen und undeutliche Verlautbarungen gestellt hat, im Tode wenigstens seiner Mitwelt mit gleicher Münze heimzahlen.

Kafkas Welt ist ein Welttheater. Ihm steht der Mensch von Haus aus auf der Bühne. Und die Probe auf das Exempel ist: Jeder wird auf dem Naturtheater von Oklahoma eingestellt. Nach welchen Maßstäben die Aufnahme erfolgt, ist nicht zu enträtseln. Die schauspielerische Eignung, an die man zuerst denken sollte, spielt scheinbar gar keine Rolle. Man kann das aber auch so ausdrücken: den Bewerbern wird überhaupt nichts anderes zugetraut, als sich zu spielen. Dass sie im Ernstfall sein könnten, was sie angeben, schaltet aus dem Bereich der Möglichkeit aus. Mit ihren Rollen suchen die Personen ein Unterkommen im Naturtheater wie die sechs Pirandelloschen einen Autor. Beiden ist dieser Ort die letzte Zuflucht; und das schließt nicht aus, dass er die Erlösung ist. Die Erlösung ist keine Prämie auf das Dasein, sondern die letzte Ausflucht eines Menschen, dem, wie Kafka sagt, »sein eigener Stirnknochen … den Weg« verlegt.

Und das Gesetz dieses Theaters ist in dem versteckten Satz enthalten, den der »Bericht für eine Akademie« enthält: » … ich ahmte nach, weil ich einen Ausweg suchte, aus keinem anderen Grund.« K. scheint vor dem Ende seines Prozesses eine Ahnung von diesen Dingen aufzugehen. Er wendet sich plötzlich den beiden Herren im Zylinder zu, welche ihn abholen und fragt: »„An welchem Theater spielen Sie.“ „Theater?“ fragte der eine Herr mit zuckenden Mundwinkeln den andern um Rat. Der andere gebärdete sich wie ein Stummer, der mit dem widerspenstigen Organismus kämpft.« Sie beantworten die Frage nicht, aber manches deutet darauf hin, dass sie von ihr betroffen werden.

An einer langen Bank, die man mit einem weißen Tuch bedeckt hat, werden alle, welche von nun ab am Naturtheater sind, bewirtet. »Alle waren fröhlich und aufgeregt«. Engel werden zur Feier von den Statisten gestellt. Sie stehen auf hohen Postamenten, die von wallenden Gewändern überdeckt in ihrem Innern eine Treppe haben. Die Zurüstungen einer ländlichen Kirmes, vielleicht auch eines Kinderfests, bei dem der eingeschnürte, aufgeputzte Knabe, von dem wir sprachen, die Traurigkeit seines Blicks verloren hätte. Hätten sie nicht die umgebundenen Flügel, so wären diese Engel vielleicht echte. Sie haben ihre Vorläufer bei Kafka. Der Impresario gehört zu ihnen, der zu dem vom »ersten Leid« befallenen Trapezkünstler ins Gepäcknetz steigt, ihn streichelt und sein Gesicht an das eigene drückt, »so dass er auch von des Trapezkünstlers Tränen überflossen wurde.« Ein anderer, ein Schutz-Engel oder Schutz-Mann nimmt sich nach dem »Brudermorde« des Mörders Schmar an, der »den Mund an die Schulter des Schutzmannes gedrückt« leichtfüßig von ihm davongeführt wird. In die ländlichen Zeremonien von Oklahoma klingt der letzte Roman Kafkas aus. »Bei Kafka hat Soma Morgenstern gesagt herrscht Dorfluft wie bei allen großen Religionsstiftern.« Hier darf man um so mehr an die Darstellung der Frömmigkeit durch Laotse erinnern, als Kafka in dem »nächsten Dorfe« ihr die vollkommenste Umschreibung gewidmet hat: »Nachbarländer mögen in Sehweite liegen, | Dass man den Ruf der Hähne und Hunde gegenseitig hören kann: | Und doch sollten die Leute im höchsten Alter sterben, ohne hin und her gereist zu sein.« Soweit Laotse. Kafka war auch ein Paraboliker, aber ein Religionsstifter war er nicht.

Betrachten wir das Dorf, das am Fuße des Schloßbergs liegt, von dem aus K.s vorgebliche Berufung als Landvermesser so rätselhaft und unerwartet bestätigt wird. Brod hat, im Nachwort zu diesem Roman, erwähnt, dass Kafka bei diesem Dorf am Fuße des Schloßbergs eine bestimmte Siedlung, Zürau im Erzgebirge, vorgeschwebt habe. Wir dürfen aber noch ein anderes Dorf in ihm erkennen. Es ist das einer talmudischen Legende, die der Rabbi als Antwort auf die Frage erzählt, warum der Jude am Freitagabend ein Festmahl rüstet. Sie berichtet von einer Prinzessin, die in der Verbannung, von ihren Landsleuten fern, und in einem Dorf, dessen Sprache sie nicht verstehe, schmachte. Zu dieser Prinzessin kommt eines Tages ein Brief, ihr Verlobter habe sie nicht vergessen, habe sich aufgemacht und sei unterwegs zu ihr. Der Verlobte, sagt der Rabbi, ist der Messias, die Prinzessin die Seele, das Dorf aber, in das sie verbannt ist, der Körper. Und weil sie dem Dorf, das ihre Sprache nicht kennt, anders von ihrer Freude nichts mitteilen kann, rüstet sie ihm ein Mahl. Mit diesem Dorf des Talmud sind wir mitten in Kafkas Welt. Denn so wie K. im Dorf am Schloßberg lebt der heutige Mensch in seinem Körper; er entgleitet ihm, ist ihm feindlich. Es kann geschehen, dass der Mensch eines Morgens erwacht, und er ist in ein Ungeziefer verwandelt. Die Fremde seine Fremde ist seiner Herr geworden. Die Luft von diesem Dorf weht bei Kafka, und darum ist er nicht in Versuchung gekommen, Religionsstifter zu werden. Zu diesem Dorf gehört auch der Schweinestall, aus dem die Pferde für den Landarzt hervorkommen, das stickige Hinterzimmer, in welchem Klamm, die Virginia im Munde, vor einem Glas Bier sitzt, und das Hoftor, an das zu schlagen den Untergang mit sich bringt. Die Luft in diesem Dorf ist nicht rein von all dem Ungewordenen und überreifen, das so verderbt sich ineinander mischt. Kafka hat sie sein Lebtag atmen müssen. Er war kein Mantiker und auch kein Religionsstifter. Wie hat er es in ihr ausgehalten?

Das bucklicht Männlein

Knut Hamsun, so erfuhr man vor längerer Zeit, habe die Gepflogenheit, hin und wieder den Briefkasten des Lokalblatts der kleinen Stadt, in deren Nähe er wohnt, mit seinen Ansichten zu beschicken. Es fand vor Jahren in dieser Stadt ein Schwurgerichtsprozeß gegen eine Magd statt, die ihr neugeborenes Kind umgebracht hatte. Sie wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Bald darauf erschien im Lokalblatt eine Meinungsäußerung von Hamsun. Er sagt an, er werde einer Stadt den Rücken kehren, welche für eine Mutter, die ihr Neugeborenes töte, eine andere Strafe kenne als die schwerste; wenn schon nicht den Galgen, dann das lebenslängliche Zuchthaus. Es vergingen einige Jahre … Segen der Erde« erschien und darinnen die Geschichte einer Dienstmagd, die das gleiche Verbrechen begeht, die gleiche Strafe erleidet und, wie der Leser deutlich erkennt, gewiss keine schwerere verdient hatte.
Die nachgelassenen Reflexionen Kafkas, die im Bau der Chinesischen Mauer enthalten sind, geben Anlass, sich dieses Hergangs zu erinnern. Denn kaum war dieser Nachlaßband erschienen, als sich, gestützt auf seine Reflexionen, eine Deutung Kafkas hervortat, die sich in deren Auslegung gefiel, um mit seinen eigentlichen Werken desto weniger Umstände zu machen. Zwei Wege gibt es, Kafkas Schriften grundsätzlich zu verfehlen. Die natürliche Auslegung ist der eine, die übernatürliche ist der andere; am Wesentlichen gehen beide die psychoanalytische wie die theologische in gleicher Weise vorbei. Die erste ist vertreten von Hellmuth Kaiser; die zweite von nun schon zahlreichen Autoren, wie H. J. Schoeps, Bernhard Rang, Groethuysen. Zu ihnen ist auch Willy Haas zu rechnen, der freilich in ferneren Zusammenhängen, auf die wir noch stoßen werden, Aufschlussreiches über Kafka bemerkt hat. Das hat ihn nicht davor bewahren können, das Gesamtwerk im Sinne einer theologischen Schablone auszudeuten. »Die obere Macht,« so schreibt er über Kafka, »den Bereich der Gnade, hat er dargestellt in seinem großen Roman „Das Schloß“, die untere, den Bereich des Gerichts und der Verdammnis, in seinem ebenso großen Roman „Der Prozeß“. Die Erde zwischen beiden, … das irdische Schicksal und seine schwierigen Forderungen hat er in strenger Stilisierung zu geben versucht in einem dritten Roman „Amerika“.«

Das erste Drittel dieser Interpretation kann man, seit Brod, wohl als Gemeingut der Kafka-Interpretation betrachten. In diesem Sinne schreibt z. B. Bernhard Rang: »Sofern man das Schloß als den Sitz der Gnade ansehen darf, so bedeutet, theologisch gesprochen, eben dieses vergebliche Bemühen und Versuchen, dass sich die Gnade Gottes nicht willkürlich und willentlich vom Menschen herbeiführen und erzwingen lässt. Die Unruhe und Ungeduld verhindert und verwirrt nur die erhabene Stille des Göttlichen.« Bequem ist diese Deutung; dass sie unhaltbar ist, erscheint, je weiter sie sich vorwagt, desto klarer. Am klarsten daher vielleicht bei Willy Haas, wenn er erklärt: »Kafka kommt … von Kierkegaard wie von Pascal, man kann ihn wohl den einzigen legitimen Enkel Kierkegaards und Pascals nennen. Alle drei haben das harte, blutig harte religiöse Grundmotiv: dass der Mensch immer im Unrecht ist vor Gott.« Kafkas »Oberwelt, sein sogenanntes „Schloß“ mit seinem unabsehbaren, kleinlichen verzwickten und recht lüsternen Beamtenstab, sein merkwürdiger Himmel treibt ein fürchterliches Spiel mit den Menschen … ; und doch ist der Mensch ganz tief im Unrecht sogar vor diesem Gott.« Diese Theologie fällt weit hinter die Rechtfertigungslehre Anse1ms von Canterbury in barbarische Spekulationen zurück, die im übrigen nicht einmal mit dem Wortlaut des Kafkaschen Textes vereinbar erscheinen.

»„Kann denn«„, heißt es gerade im »Schloß«, »„ein einzelner Beamter verzeihen? Das könnte doch höchstens Sache der Gesamtbehörde sein, aber selbst diese kann wahrscheinlich nicht verzeihen, sondern nur richten.«„ Der Weg, der so beschritten worden ist, hat sich schnell totgelaufen. »Das alles«, sagt Denis de Rougemont, »ist nicht der elende Stand des Menschen, der ohne Gott ist, sondern der Elendsstand des Menschen, der einem Gott verhaftet ist, den er nicht kennt, weil er Christum nicht kennt.« Es ist leichter, aus der nachgelassenen Notizensammlung Kafkas spekulative Schlüsse zu ziehen, als auch nur eines der Motive zu ergründen, die in seinen Geschichten und Romanen auftreten. Aber nur sie geben einigen Aufschluss über die vorweltlichen Gewalten, von denen Kafkas Schaffen beansprucht wurde; Gewalten, die man freilich mit gleichem Recht auch als weltliche unserer Tage betrachten kann. Und wer will sagen, unter welchem Namen sie Kafka selbst erschienen sind. Fest steht nur dies: er hat in ihnen sich nicht zurechtgefunden. Er hat sie nicht gekannt. Er hat nur in dem Spiegel, den die Vorwelt ihm in Gestalt der Schuld entgegenhielt, die Zukunft in Gestalt des Gerichtes erscheinen sehen. Wie man sich dieses aber zu denken hat ist es nicht das Jüngste? macht es nicht aus dem Richter den Angeklagten? ist nicht das Verfahren die Strafe? darauf hat Kafka keine Antwort gegeben. Versprach er sich etwas von ihr? Oder war es ihm nicht vielmehr darum zu tun, sie hintanzuhalten? In den Geschichten, die wir von ihm haben, gewinnt die Epik die Bedeutung wieder, die sie im Mund Scheherazades hat: das Kommende hinauszuschieben. Aufschub ist im »Prozeß« die Hoffnung des Angeklagten ginge nur das Verfahren nicht allmählich ins Urteil über. Dem Erzvater selbst soll Aufschub zugute kommen, und müsste er seinen Platz in der Tradition dafür hergeben. »Ich könnte mir einen andern Abraham denken, der freilich würde er es nicht bis zum Erzvater bringen, nicht einmal bis zum Altkleiderhändler der die Forderung des Opfers sofort, bereitwillig wie ein Kellner zu erfüllen bereit wäre, der das Opfer aber doch nicht zustande brächte, weil ‚er von zuhause nicht fort kann, er ist unentbehrlich, die Wirtschaft benötigt ihn, immerfort ist noch etwas anzuordnen, das Haus ist nicht fertig, aber ohne dass sein Haus fertig ist, ohne diesen Rückhalt kann er nicht fort, das sieht auch die Bibel ein, denn sie sagt: „er bestellte sein Haus“„„. »Bereitwillig wie ein Kellner« erscheint dieser Abraham. Etwas war immer nur im Gestus für Kafka fassbar. Und dieser Gestus, den er nicht verstand, bildet die wolkige Stelle der Parabeln. Aus ihm geht Kafkas Dichtung hervor. Es ist bekannt, wie er mit ihr zurückhielt. Sein Testament befiehlt sie der Vernichtung an. Dies Testament, das keine Befassung mit Kafka umgehen kann, sagt, dass sie ihren Autor nicht zufrieden stellte; dass er seine Bemühungen als verfehlt ansah; dass er sich selbst zu denen rechnete, die scheitern mussten. Gescheitert ist sein großartiger Versuch, die Dichtung in die Lehre zu überführen und als Parabel ihr die Haltbarkeit und die Unscheinbarkeit zurückzugeben, die im Angesicht der Vernunft ihm als die einzig geziemende erschienen ist. Kein Dichter hat das »Du sollst Dir kein Bildnis machen« so genau befolgt.

»Es war, als sollte die Scham ihn überleben« das sind die Worte, die den »Prozeß« beschließen. Die Scham, die seiner »elementaren Reinheit des Gefühls« entspricht, ist die stärkste Gebärde Kafkas. Sie hat aber ein doppeltes Gesicht. Die Scham, die eine intime Reaktion des Menschen ist, ist zugleich eine gesellschaftlich anspruchsvolle. Scham ist nicht nur Scham vor den andern, sondern kann auch Scham für sie sein. So ist Kafkas Scham nicht persönlicher, als das Leben und Denken, das sie regiert und von dem er gesagt hat: »Er lebt nicht wegen seines persönlichen Lebens, er denkt nicht wegen seines persönlichen Denkens. Ihm ist, als lebe und denke er unter der Nötigung einer Familie … Wegen dieser unbekannten Familie … kann er nicht entlassen werden.« Wir wissen nicht, wie diese unbekannte Familie aus Menschen und aus Tieren sich zusammensetzt. Nur soviel ist klar, dass sie es ist, die Kafka zwingt, Weltalter im Schreiben zu bewegen. Dem Geheiß dieser Familie folgend, wälzt er den Block des geschichtlichen Geschehens wie Sisyphos den Stein. Dabei geschieht es, dass dessen untere Seite ans Licht gerät. Sie ist nicht angenehm zu sehen. Doch Kafka ist imstande, ihren Anblick zu ertragen. »An Fortschritt glauben heißt nicht glauben, dass ein Fortschritt schon geschehen ist. Das wäre kein Glauben.« Das Zeitalter, in dem Kafka lebt, bedeutet ihm keinen Fortschritt über die Uranfänge; Seine Romane spielen in einer Sumpfwelt. Die Kreatur erscheint bei ihm auf der Stufe, die Bachofen als die hetärische bezeichnet. Dass diese Stufe vergessen ist, besagt nicht, dass sie in die Gegenwart nicht hineinragt. Vielmehr: gegenwärtig ist sie durch diese Vergessenheit. Eine Erfahrung, die tiefer geht als die des Durchschnittsbürgers, trifft auf sie auf. »Ich habe Erfahrung,« lautet eine der frühesten Aufzeichnungen Kafkas, »und es ist nicht scherzend gemeint, wenn ich sage, dass es eine Seekrankheit auf festem Lande ist.« Nicht umsonst erfolgt die erste »Betrachtung« von einer Schaukel aus. Und unerschöpflich ergeht sich Kafka über die schwankende Natur der Erfahrungen. Jede gibt nach, jede vermischt sich mit der entgegengesetzten. »Es war im Sommer,« so beginnt der »Schlag ans Hoftor«, »ein heißer Tag. Ich kam auf dem Nachhauseweg mit meiner Schwester an einem Hoftor vorüber. Ich weiß nicht, schlug sie aus Mutwillen ans Tor oder aus Zerstreutheit oder drohte sie nur mit der Faust und schlug gar nicht.« Die bloße Möglichkeit des an der dritten Stelle erwähnten Vorgangs lässt die vorangehenden, die zunächst harmlos erschienen, in ein anderes Licht treten. Es ist der Moorboden solcher Erfahrungen, aus denen die Kafkaschen Frauengestalten aufsteigen. Sie sind Sumpfgeschöpfe wie Leni, die »den Mittel und Ringfinger ihrer rechten Hand« auseinanderspannt, »zwischen denen das Verbindungshäutchen fast bis zum obersten Gelenk der kurzen Finger« reicht. »„Schöne Zeiten,«„ erinnert die zweideutige Frieda sich ihres Vorlebens, „»du hast mich niemals nach meiner Vergangenheit gefragt.«„ Diese führt eben in den finsteren Schoß der Tiefe zurück, wo sich jene Paarung vollzieht, »deren regellose Üppigkeit«, um mit Bachofen zu reden, »den reinen Mächten des himmlischen Lichts verhasst ist und die Bezeichnung luteae voluptates, deren sich Arnobius bedient, rechtfertigt.«

Von hier aus erst lässt sich die Technik, die Kafka als Erzähler hat, begreifen. Wenn andere Romanfiguren dem K. etwas zu sagen haben, so tun sie das mag es das Wichtigste, mag es das Überraschendste sein beiläufig und auf eine Weise, als müsste er es im Grunde längst gewusst haben. Es ist als wäre da nichts Neues, als ergehe nur unauffällig an den Helden die Aufforderung, sich doch einfallen zu lassen, was er vergessen habe. In diesem Sinn hat Willy Haas mit Recht den Hergang des »Prozesses« verstehen wollen und ausgesprochen, »dass der Gegenstand dieses Prozesses, ja der eigentliche Held dieses unglaublichen Buches, das Vergessen ist, … dessen … Haupteigenschaft ja ist, dass er sich selbst vergisst … Es ist hier selbst geradezu stumme Gestalt geworden in dieser Figur des Angeklagten, und zwar Gestalt von großartigster Intensität.« Dass »dieses geheimnisvolle Zentrum … der jüdischen Religion« entstammt, ist wohl nicht von der Hand zu weisen. »Hier spielt das Gedächtnis als Frömmigkeit eine ganz geheimnisvolle Rolle. Es ist … nicht eine, sondern die tiefste Eigenschaft sogar Jehovas, dass er gedenkt, dass er ein untrügliches Gedächtnis „bis ins dritte und vierte Geschlecht“, ja bis ins hundertste“ bewahrt; der heiligste … Akt des … Ritus ist die Auslöschung der Sünden aus dem Buch des Gedächtnisses.«

Das Vergessene mit dieser Erkenntnis stehen wir vor einer weiteren Schwelle von Kafkas Werk ist niemals ein nur individuelles. Jedes Vergessene mischt sich mit dem Vergessenen der Vorwelt, geht mit ihm zahllose, ungewisse, wechselnde Verbindungen zu immer wieder neuen Ausgeburten ein. Vergessenheit ist das Behältnis, aus dem die unerschöpfliche Zwischenwelt in Kafkas Geschichten ans Licht drängt. »Ihm gilt grade die Fülle der Welt als das allein Wirkliche. Aller Geist muss dinglich, besonders sein, um hier Platz und Daseinsrecht zu bekommen ‚« Das Geistige, insofern es noch eine Rolle spielt, wird zu Geistern. Die Geister werden zu ganz individuellen Individuen, selber benannt und dem Namen des Verehrers aufs besonderste verbunden ‚« Unbedenklich wird mit ihrer Fülle die Fülle der Welt noch überfüllt … Unbekümmert mehrt sich hier das Gedränge der Geister; .. , immer neue zu den alten, alle eigennamentlich voneinander geschieden.« Es ist nun freilich nicht Kafka, von dem hier die Rede ist es ist China. So beschreibt Franz Rosenzweig im »Stern der Erlösung« den chinesischen Ahnenkult. Unabsehbar wie die Welt der für ihn wichtigen Tatsachen aber war für Kafka auch die seiner Ahnen und gewiss ist, dass sie, wie die Totembäume der Primitiven, zu den Tieren hinunterführte. übrigens sind die Tiere nicht allein bei Kafka Behältnisse des Vergessenen. Im tiefsinnigen »Blonden Eckbert« Tiecks steht der vergessene Name eines Hündchens Strohmianals Chiffre einer rätselhaften Schuld. So kann man verstehen, dass Kafka nicht müde wurde, den Tieren das Vergessene abzulauschen.

Sie sind wohl nicht das Ziel; aber ohne sie geht es nicht. Man denke an den »Hungerkünstler«, der »genau genommen, nur ein Hindernis auf dem Weg zu den Ställen war.« Sieht man das Tier im »Bau« oder den »Riesenmaulwurf« nicht grübeln, wie man sie wühlen sieht? Und doch ist auf der anderen Seite dieses Denken wiederum etwas sehr Zerfahrenes. Unschlüssig schaukelt es von Entstellung, dem Buckligen. Unter den Gebärden Kafkascher Erzählungen‘ begegnet keine häufiger als die des Mannes, der den Kopf tief auf die Brust herunterbeugt. Das ist die Müdigkeit bei den Gerichtsherren, der Lärm bei den Portiers in dem Hotel, die niedere Decke bei den Galeriebesuchern. In der »Strafkolonie« aber bedienen sich die Gewalthaber einer altertümlichen Maschinerie, die verschnörkelte Lettern in den Rücken der Schuldigen eingraviert, die Stiche mehrt, die Ornamente häuft solange, bis der Rücken der Schuldigen hellsehend wird, selber die Schrift entziffern kann, aus deren Lettern er den Namen seiner unbekannten Schuld entnehmen muss. Es ist also der Rücken, dem es aufliegt. Und ihm liegt es bei Kafka seit jeher auf. So in der frühen Tagebuchnotiz: »Um möglichst schwer zu sein, was ich für das Einschlafen für gut halte, hatte ich die Arme gekreuzt und die Hände auf die Schulter gelegt, so dass ich dalag wie ein bepackter Soldat.« Handgreiflich geht hier das Beladensein mit dem Vergessen des Schlafenden zusammen. Im »Bucklichen Männlein« hat das Volkslied das Gleiche versinnbildlicht. Dies Männlein ist der Insasse des entstellten Lebens; es wird verschwinden, wenn der Messias kommt, von dem ein großer Rabbi gesagt hat, dass er nicht mit Gewalt die Welt verändern wolle, sondern nur um ein Geringes sie zurechtstellen werde.

»Geh ich in mein Kämmerlein, | Will mein Bettlein machen; I Steht ein bucklicht Männlein da, | Fängt als an zu lachen.« Das ist das Lachen Odradeks, von dem es heißt: »Es klingt etwa so, wie das Rascheln in gefallenen Blättern.« »Wenn ich an mein Bänklein knie, | Will ein bißlein beten; | Steht ein bucklicht Männlein da, I Fängt als an zu reden. | Liebes Kindlein, ach ich bitt, | Bet‘ für’s bucklicht Männlein mit!« So endet das Volkslied. In seiner Tiefe berührt Kafka den Grund, den weder das »mythische Ahnungswissen« noch die »existenzielle Theologie« ihm gibt. Es ist der Grund des deutschen Volkstums so gut wie des jüdischen. Wenn Kafka nicht gebetet hat was wir nicht wissen so war ihm doch aufs höchste eigen, was Malebranche »das natürliche Gebet der Seele« nennt die Aufmerksamkeit. Und in sie hat er, wie die Heiligen in ihre Gebete, alle Kreatur eingeschlossen.

Sancho Pansa

In einem chassidischen Dorf, so erzählt man, saßen eines Abends zu Sabbath-Ausgang in einer ärmlichen Wirtschaft die Juden. Ansässige waren es, bis auf einen, den keiner kannte, einen ganz ärmlichen, zerlumpten, der im Hintergrunde im Dunkeln einer Ecke kauerte. Hin und her waren die Gespräche gegangen. Da brachte einer auf, was sich wohl jeder zu wünschen dächte, wenn er einen Wunsch frei hätte. Der eine wollte Geld, der andere einen Schwiegersohn, der dritte eine neue Hobelbank, und so ging es die Runde herum. Als jeder zu Worte gekommen war, blieb noch der Bettler in der dunklen Ecke. Widerwillig und zögernd gab er den Fragern nach: »Ich wollte, ich wäre ein großmächtiger König und herrschte in einem weiten Lande und läge nachts und schliefe in meinem Palast und von der Grenze bräche der Feind herein und ehe es dämmerte wären die Berittenen bis vor mein Schloß gedrungen und keinen Widerstand gäbe es und aus dem Schlaf geschreckt, nicht Zeit mich auch nur zu bekleiden, und im Hemd, hätte ich meine Flucht antreten müssen und sei durch Berg und Tal und über Wald und Hügel und ohne Ruhe Tag und Nacht gejagt, bis ich hier auf -der Bank in eurer Ecke gerettet angekommen wäre. Das wünsche ich mir.« Verständnislos sahen die andern einander an. »Und was hättest du von diesem Wunsch?« fragte einer. »Ein Hemd« war die Antwort. Diese Geschichte führt tief in den Haushalt von Kafkas Welt. Niemand sagt ja, die Entstellungen, die der Messias zurechtzurücken einst erscheinen werde, seien nur solche unseres Raums. Sie sind gewiss auch solche unserer Zeit. Bestimmt hat das Kafka gedacht. Und aus solcher Gewissheit seinen Großvater sagen lassen: »„Das Leben ist erstaunlich kurz. Jetzt in der Erinnerung drängt es sich mir so zusammen, dass ich zum Beispiel kaum begreife, wie ein junger Mensch sich entschließen kann ins nächste Dorf zu reiten, ohne zu fürchten, dass von unglücklichen Zufällen ganz abgesehen schon die Zeit des gewöhnlichen, glücklich ablaufenden Lebens für einen solchen Ritt bei weitem nicht hinreicht.“„„ Ein Bruder dieses Alten ist der Bettler, der in seinem »gewöhnlichen, glücklich ablaufenden« Leben nicht einmal Zeit zu einem Wunsche findet, dem ungewöhnlichen, unglücklichen der Flucht aber, in die er sich mit seiner Geschichte hineinbegibt, dieses Wunsches überhoben ist und ihn für die Erfüllung eintauscht. Es gibt nun unter den Geschöpfen Kafkas eine Sippe, die auf eigentümliche Weise mit der Kürze des Lebens rechnet. Sie stammt aus der »Stadt im Süden … , von der es … hieß: „Dort sind Leute! Denkt Euch, die schlafen nicht!“ „Und warum denn nicht?“ „Weil sie nicht müde werden.“ „Und warum denn nicht?“ „Weil sie Narren sind.“ „Werden denn Narren nicht müde?“ „Wie könnten Narren müde werden!«„ Man sieht, die Narren sind mit den nimmermüden Gehilfen verwandt. Es geht aber mit dieser Sippe noch höher hinaus. Beiläufig hörte man von den Gesichtern der Gehilfen, sie ließen »„auf Erwachsene, ja fast auf Studenten schließen«„. Und in der Tat sind die Studenten, die bei Kafka an den sonderbarsten Stellen zum Vorschein kommen, die Wortführer und Regenten dieses Geschlechts. „Aber wann schlafen Sie?“ fragte Karl und sah den Studenten verwundert an. „Ja, schlafen!“ sagte der Student. „Schlafen werde ich, wenn ich mit meinem Studium fertig bin.«„ Man muss an die Kinder denken: wie ungern gehen sie zu Bett! während sie schlafen, könnte doch etwas vorkommen, was sie beansprucht. »Vergiss das Beste nicht!« lautet eine Bemerkung, »die uns aus einer unklaren Fülle alter Erzählungen geläufig ist, trotzdem sie vielleicht in keiner vorkommt.«

Aber das Vergessen betrifft immer das Beste, denn es betrifft die Möglichkeit der Erlösung. „Der Gedanke, mir helfen zu wollen,“ sagt ironisch der ruhelos irrende Geist des Jägers Gracchus» „ist eine Krankheit und muss im Bett geheilt werden.«„ Bei ihren Studien wachen die Studenten, und vielleicht ist es die beste Tugend der Studien, sie wachzuhalten. Der Hungerkünstler fastet, der Türhüter schweigt und die Studenten wachen. So versteckt wirken bei Kafka die großen Regeln der Askese. Das Studium ist ihre Krone. Mit Andacht bringt Kafka sie aus den versunkenen Knabenjahren an den Tag. »Nicht viel anders jetzt war es schon lange her war Karl zu Hause am Tisch der Eltern gesessen und hatte seine Aufgaben geschrieben, während der Vater die Zeitung las oder Bucheintragungen und Korrespondenzen für einen Verein erledigte und die Mutter mit einer Näharbeit beschäftigt war und hoch den Faden aus dem Stoffe zog. Um den Vater nicht zu belästigen, hatte Karl nur das Heft und das Schreibzeug auf den Tisch gelegt, während er die nötigen Bücher rechts und links von sich auf Sesseln angeordnet hatte. Wie still war es dort gewesen! Wie selten waren fremde Leute in jenes Zimmer gekommen!« Vielleicht sind diese Studien ein Nichts gewesen. Sie stehen aber jenem Nichts sehr nahe, dass das Etwas erst brauchbar macht dem Tao nämlich.

Ihm ging Kafka mit seinem Wunsch nach, »einen Tisch mit peinlich ordentlicher Handwerksmäßigkeit zusammenzuhämmern und dabei gleichzeitig nichts zu tun und zwar nicht so, dass man sagen könnte: „Ihm ist das Hämmern ein Nichts“, sondern „Ihm ist das Hämmern ein wirkliches Hämmern und gleichzeitig auch ein Nichts“, wodurch ja das Hämmern noch kühner, noch entschlossener, noch wirklicher und, wenn du willst, noch irrsinniger geworden wäre.« Und eine so entschlossene, so fanatische Gebärde haben die Studierenden beim Studium. Sie kann nicht sonderbarer gedacht werden. Die Schreiber, die Studenten sind außer Atem. Sie jagen nur so dahin. »„Oft diktiert der Beamte so leise, dass der Schreiber es sitzend gar nicht hören kann, dann muss er immer aufspringen, das Diktierte auffangen, schnell sich setzen und es aufschreiben, dann wieder aufspringen und so weiter. Wie merkwürdig das ist! Es ist fast unverständlich.

«Vielleicht versteht man es aber besser, wenn man an die Schauspieler des Naturtheaters zurückdenkt. Schauspieler müssen blitzschnell auf ihr Stichwort aufpassen. Und sie ähneln diesen Beflissenen auch sonst. Für sie ist in der Tat »das Hämmern ein wirkliches Hämmern und gleichzeitig auch ein Nichts« wenn es nämlich in ihrer Rolle steht. Diese Rolle studieren sie; der wäre ein schlechter Schauspieler, der ein Wort oder einen Gestus aus ihr vergäße. Für die Glieder der Truppe von Oklahoma aber ist sie ihr früheres Leben. Daher die »Natur« dieses Naturtheaters. Seine Schauspieler sind erlöst. Der Student aber ist es noch nicht, dem Karl nachts auf dem Balkon stumm zusieht, wie er in seinem Buche liest, »die Blätter wendete, hie und da in einem andern Buche, das er immer mit Blitzesschnelle ergriff, irgend etwas nachschlug und öfters Notizen in ein Heft eintrug, wobei er immer überraschend tief das Gesicht zu dem Hefte senkte.«

Den Gestus derart zu vergegenwärtigen ist Kafka unermüdlich. Aber das geschieht nie anders als mit Staunen. Man hat K. mit Recht dem Schweyk verglichen; den einen wundert alles, den andern nichts. Im Zeitalter der aufs Höchste gesteigerten Entfremdung der Menschen voneinander, der unabsehbar vermittelten Beziehungen, die ihre einzigen wurden, sind Film und Grammophon erfunden worden. Im Film erkennt der Mensch den eigenen Gang nicht, im Grammophon nicht die eigene Stimme. Experimente beweisen das. Die Lage der Versuchsperson in diesen Experimenten ist Kafkas Lage. Sie ist es, die ihn auf das Studium anweist. Vielleicht stößt er dabei auf Fragmente des eigenen Daseins, welche noch im Zusammenhang der Rolle stehen. Er würde den verlorenen Gestus zu fassen bekommen wie Peter Schlemihl seinen verkauften Schatten. Er würde sich verstehen, aber wie riesenhaft wäre die Anstrengung! Denn es ist ja ein Sturm, der aus dem Vergessen herweht. Und das Studium ein Ritt, der dagegen angeht. So reitet auf der Ofenbank der Bettler seiner Vergangenheit entgegen, um in der Gestalt des fliehenden Königs seiner selbst habhaft zu werden. Dem Leben, das für einen Ritt zu kurz ist, entspricht dieser Ritt, der lang genug für das Leben ist, » … bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.« So geht die Phantasie vom seligen Reiter in Erfüllung, der der Vergangenheit auf leerer, fröhlicher Reise entgegenbraust und seinem Renner keine Last mehr ist. Unselig aber der Reiter, der an seine Mähre gekettet ist, weil er das Zukunftsziel sich vorgesetzt hat und sei es auch das nächste: der Kohlenkeller. Unselig auch sein Tier, unselig beide: der Kübel und der Reiter. »Als Kübelreiter, die Hand oben am Griff, dem einfachsten Zaumzeug, drehe ich mich beschwerlich die Treppe hinab; unten aber steigt mein Kübel auf, prächtig, prächtig; Kamele, niedrig am Boden hingelagert, steigen, sich schüttelnd unter dem Stock des Führers, nicht schöner auf.« Hoffnungsloser öffnet sich keine Gegend als »die Regionen der Eisgebirge«, in denen der Kübelreiter sich auf Nimmerwiedersehen verliert. Aus »den untersten Regionen des Todes« bläst der Wind, der ihm günstig ist derselbe, der bei Kafka so oft aus der Vorwelt weht, und von dem auch der Kahn des Jägers Gracchus sich treiben lässt. »überall«, sagt Plutarch, »wird bei Mysterien und Opfern, sowohl unter Griechen als unter Barbaren, gelehrt, … dass es zwei besondere Grundwesen und einander entgegengesetzte Kräfte geben müsse, von denen das eine rechter Hand und geradeaus führt, das andere aber umlenkt und wieder zurücktreibt.« Umkehr ist die Richtung des Studiums, die das Dasein in Schrift verwandelt. Ihr Lehrmeister ist jener Bucephalus, der »neue Advokat«, der ohne den gewaltigen Alexander und das heißt: des vorwärtsstürmenden Eroberers ledig den Weg zurück nimmt. »Frei, unbedrückt die Seiten von den Lenden des Reiters, bei stiller Lampe, fern dem Getöse der Alexanderschlacht, liest und wendet er die Blätter unserer alten Bücher.« Diese Geschichte ist vor einiger Zeit durch Werner Kraft zum Gegenstand der Deutung gemacht worden. Nachdem der Interpret mit Sorgfalt jeder Einzelheit des Textes sich gewidmet hat, bemerkt er: »Nirgendwo in der Literatur gibt es eine so gewaltige, so durchschlagende Kritik des Mythos in seinem ganzen Umfang, wie hier.« Das Wort »Gerechtigkeit « so meint der Ausleger braucht Kafka nicht; trotzdem sei es die Gerechtigkeit, von der aus die Kritik am Mythos statt hat. Sind wir aber so weit einmal gegangen, so geraten wir in Gefahr, Kafka zu verfehlen, indem wir hier haltmachen. Ist es denn wirklich das Recht, das so, im Namen der Gerechtigkeit, gegen den Mythos aufgeboten werden könnte? Nein, als Rechtsgelehrter bleibt der Bucephalus seinem Ursprung treu. Nur scheint er darin dürfte im Sinne Kafkas das Neue für den Bucephalus und für die Advokatur liegen nicht zu praktizieren. Das Recht, das nicht mehr praktiziert und nur studiert wird, das ist die Pforte der Gerechtigkeit. Die Pforte der Gerechtigkeit ist das Studium. Und doch wagt Kafka nicht, an dieses Studium die Verheißungen zu knüpfen, welche die Überlieferung an das der Thora geschlossen hat. Seine Gehilfen sind Gemeindediener, denen das Bethaus, seine Studenten Schüler, denen die Schrift abhanden kam. Nun hält sie nichts mehr auf der »leeren fröhlichen Fahrt«. Kafka aber hat das Gesetz der seinen gefunden; ein einziges Mal zumindest, als es ihm glückte, ihre atemraubende Schnelligkeit einem epischen Paßschritt anzugleichen, wie er ihn wohl sein Lebtag gesucht hat. Er hat es einer Niederschrift anvertraut, die nicht nur darum seine vollendetste wurde, weil sie eine Auslegung ist. »Sancho Pansa, der sich übrigens dessen nie gerühmt hat, gelang es im Laufe der Jahre, durch Beistellung einer Menge Ritter und Räuberromane in den Abend und Nachtstunden seinen Teufel, dem er später den Namen Don Quixote gab, derart von sich abzulenken, dass dieser dann haltlos die verrücktesten Taten aufführte, die aber mangels eines vorbestimmten Gegenstandes, der eben Sancho Pansa hätte sein sollen, niemandem schadeten. Sancho Pansa, ein freier Mann, folgte gleichmütig, vielleicht aus einem gewissen Verantwortlichkeitsgefühl dem Don Quixote auf seinen Zügen und hatte davon eine große und nützliche Unterhaltung bis an sein Ende.« Gesetzter Narr und unbeholfener Gehilfe, hat Sancho Pansa seinen Reiter voran geschickt. Bucephalus hat den seinigen überlebt. Ob Mensch, ob Pferd ist nicht mehr so wichtig, wenn nur die Last vom Rücken genommen ist.

 

***

Zum 70. Todestag von Walter Benjamin erinnert KUNO an diesen undogmatischen Denker und läßt die Originalität und Einzigartigkeit seiner Gedanken aufscheinen. Bei KUNO präsentieren wir Essays über den Zwischenraum von Denken und Dichten, wobei das Denken von der Sprache kaum zu lösen ist. Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung des Essays.

Weiterführend → ein weiterer Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur.