Einer der geht

Wie er, schmal und gerade, die staubigen Holzstufen des alten Kreuzberger Fabrikgeländes Stockwerk für Stockwerk zu seinem Atelier emporsteigt. 

 

Vorbei, ohne innezuhalten, am abgründigen Käfiggelass des lang schon defekten Aufzugs, Insekten – und Staubfalle, in der Lebensraum sich allmählich auslöscht.

Den Schlüssel hält er schon in der  Hand. Auf der Ebene des vorletzten Stockwerkes ist unvermutet Kindergequengel hinter der Eisentür vernehmbar. Jenseits der von Schmutz und Regen strukturierten Treppenhausfenster verfärbt und wandelt sich sein Berlin unaufhörlich. Unter einem Namensschild auf der Eisentür verkümmert im provinzialischen Topf eine Basilikumpflanze.

Wenn er seine Eisentür  ganz oben endlich hinter sich zugezogen hat, mit vor Anstrengung schmerzenden Organen und Gliedern, zerfallen draußen Symbol und Beweis. Nach dem brutalen Lärm der zugefallenen Tür hört auch die Welt fremder Laute auf. Er durchquert den dämmrigen Vorraum, links gleich das Waschbecken, darunter die Plastikeimer für den Kleister. Er macht kein Licht. Ihn durchströmt  der Geruch nach langer Abwesenheit und jener Schimmelfäulnis, die er mit der Erinnerung an seine frühen ersten Wohnungen und Zimmer verbindet. Gute Erinnerungen, heute. Er hält sie noch ein wenig fest. Ein Raum, für die bald versiegenden Lebenskräfte zu eng, um sich Einzelheiten einprägen zu wollen. Er durchquert, stellt es sich vor, das Durchqueren,  und denkt, dass er an einem Loch vorbeigeht. Er ist ruhig, fühlt sich feinnervig gezeichnet. Er sieht sich, sieht, wie er hierhergehört.

Es gibt keine verletzende Kontur, die Wissen von Gewissen trennt. Die  Umgrenzungen stellen kein Ende dar; sie münden immer in den Anfang.

Wenn er sein Alltagshemd gegen das Arbeitshemd, seine Alltagshose gegen die Arbeitshose, seine Alltagsschuhe gegen die Arbeitsschuhe eingetauscht hat, wenn er jetzt noch seltsam beziehungslos in dem hohen und weiten, vom Staub der Hinterhoffenster vernebelten Raum verweilt, in dem bei Sonne eine sehr materiale Zusammenballung von Staub steht, die man umrunden kann, befindet er sich in einem nahezu reinen Zustand der Erwartung. Nach Relikten gegenwärtigen Zeitgeistes sucht man umsonst in diesem Raum der Erwartung, der nie etwas von der zerstörerischen Unnützlichkeit erfahren wird, wenn andere im Wohlständigen herumlungern, zwischen lieblos und teuer gebauten Ausstattungen für fotografierbare living-rooms.

Ihn nimmt dieser alte, staubstockige, der hölzerne und in ihm nie ganz zu Ende gedachte Raum auf, während er noch steht, unschlüssig steht und schon Sekunden später wie Fassung findend den letzten Rest von Rastlosigkeit mit schwerem Ausatmen  in die feuchte Luft stößt – dann erreicht ihn die erste Welle.

Stetig und langsam kommt sie, kommt an umspült seine Fingerspitzen, die Gesichtssinne, die  aufnahmeoffen liegenden zahllosen Zellen der Wärme und Farben. Aus denen sich der Blick zusammenfügt – erst dann umspült die Welle  seine ersten Schritte, zugehende Schritte auf den letzten Zustand eines seiner riesigen  Bilder, in denen alles pulsierende, gestische Kontur ist.

Bilder, die sich aus den Wänden herausschälen, Bilder, auf die niemand ein Licht richten muss, um gelungene Illusionen zu überprüfen: Die Bilder stellen ja nichts dar spiegeln nichts wider zeigen nichts auf.

Vielleicht vergewissern sich jene Bilder, die die Kunstgeschichte für abbildungswürdig hält, immer zuvor einer Art Rahmen, eines Sockels? Sockel, als Betonung einer Erhöhungist das der Name für jene geweihte, abgezirkelte Fläche, innerhalb derer das Bild einmal bekannt wird, dachte er oft. Er dachte lieber Sockel, statt Rahmen, denn er hatte das Bildhauerhandwerk zuerst gelernt. Weil aber seine frühen Plastiken seit Beginn dieser Mal-Arbeit  den Drang zur Ausdehnung entwickelt hatten, diesen  immer tyrrhanischer entfaltet hatten, wie organisch wachsende Schwämme in den Raum hinein zu wuchern begonnen hatten, hatte er es aufgegeben, greifbares Material in – wenn auch abstrakter –  Formabsicht aneinanderzufügen.

Warum sollen Bilder, nachdem sie zu Orten geworden sind, an fremden Orten angesiedelt werden, die sie doch abstoßen? Seine Bilder nehmen exakt den Raum ein, den die Wandfläche ihnen nennt. Sie sind selber Orte, an denen die Wände, die Räume, die Zeiträume, die Dauerorte ihr Verbleiben entscheiden.

Oder es überwinden werden, so denkt er, jeden Tag.

?Sollte man ein Tuch über diese Bilder werfen, um sich zu vergewissern, dass dann  die Welt aus vielen ungleichgroßen Parzellen des Gedächtnisses bestehend, umso heftiger aus der Erinnerung in das Material eindringt? In einer stofflichen Zusammensetzung, deren elementare Rückführung aus allen nur denkbaren Verbindungen zwei untrennbare Elemente isoliert:

Worte und Taten, die für ihn einen einzigen  Körper darstellten.

Es ist früher Nachmittag, Frühsommer, ein lichter, warmer Berliner Tag, der sich so gleichmäßig trocken über die Stadt ausgebreitet hat, daß jeder Laut, der aus der Hoftiefe hier hinauf dringt, die konzentrierte Stille im Raum mit kleinen Rissen versieht.

Ein melodischer Klingelton signalisiert, dass gleich nebenan telefoniert werden wird. Ein offenes Fenster schlägt sofort danach heftig gegen einen Rahmen, dem der verhalten ausgestoßene Fluch einer dunklen weiblichen Stimme folgt, und als sei dies alles,  als eine Choreografie der Laute, abgesprochen, fegt plötzlich ein Stück Zeitungspapier einige Meter weit  über den Betonboden hinweg mit einem knisternden Flattern. Im ursachelos Getriebenwerden, bleibt es  ebenso ursachelos in der Mitte des Raumes liegen.

Das war an mich gerichtet, denkt er. Noch einmal verlässt er kurz den Raum, um die kleine, undefinierbare Topfpflanze, die immer etwas schräg auf dem gemauerten Fenstersims steht, im Vorraum unter den Wasserhahn zu halten. Die Wasserspur, die zurück zum Fenster führt, verteilt er auf dem Rückweg mit seinen Sohlen, die Schlieren trocknen augenblicklich, und er sieht dabei zu, bis diese von anderen nie so  wahrnehmbare Zeichnung  fertig ist, verschwunden.

Er beugt sich hinab zu den großen Farbeimern, zu den zum Trocknen auf Zeitungspapier ausgelegten Pinseln und Quasten verschiedener Größe und Dicke, zu den kleinen, dichten Aufschichtungen von Zeitungs- und Konsumpapieren- die nach einer undurchschaubaren Ordnung übereinander liegen, und doch so, dass man sofort bemerkt, dass er diese Blätter immer wieder in Händen gehalten hat. Er beugt sich hinab zu den Kleistereimern, den kleinen Behältnissen für Sand, Aschen, Holzabfällen und anderen Oberflächenabkratzungen von Böden und Häusern, die er vor einiger Zeit, sorgfältig in seinem Rucksack in Papiertüten verstaut, mit dem Rad hierher transportiert hatte. All das liegt und steht in einer Reihe der neuen, an der Wand befestigten Bildfläche gegenüber, Zuschauer wie Akteure vor einer Bühne, die auf ihren Einsatz warten. Stoffe, Materialien, die mit den Jahren zu ihm gekommen sind. Oft hat er nicht lange nach ihnen fahnden müssen.

Dinge, die die Welt angefasst hatten, bevor jemand da gewesen war, sie zu fassen. Stoffe, an denen die eingeborene Angst sich erwärmt und in heißes Vertrautsein umgeschlagen ist, einmal. Stoffe, die die Welt in Bilder versetzen können.

Schritte, auf das Bild zu, umspült von jener Welle, eine Strecke, auf der er die Leerstelle einer flüchtigen Bewegung wahrgenommen hat, die er sofort mit seinem Körper füllt.  Er durchmisst den ihm verbleibenden Raum.

Sein Blick wandert über das ausgedehnte Format, dicke Pappe, gestern mit großer Anstrengung plan gegen die Wand geheftet so, dass ihre Dehnung durch Kleisternässe und Trocknung, Zuführen  und Befestigen der Stoffe und Papiere kalkuliert bleibt.

Die Mitte der Welt ist immer dort, wo ein winziger Fehler unaufhaltsame Zerstörungsarbeit in Gang setzt. Jeder unter seinem oft brennenden Blick erkaltende Fehler rettet das Bild, weil er immer dann ein neues Zentrum markiert. Diese Welt leugnet eine sie endgültig umschließende und schützende Haut. Sie lernt mit dem woanders Aufschichten ihrer einstmals freigelegten Oberflächen ihre Tiefe kennen – an einem anderen Ort als an dem, wo der Künstler daran zu zweifeln beginnt, dass  die Welt mit Worten zu bezeichnen wäre.

Alle Sicht auf diese Welt, denkt er während seiner unbeschreibbaren Arbeit zerstörerischen Erneuerns,  ob zufällig oder konzentriert, hält nur ein einziges Bild bereit: das Bild, vor dem die Welt, die er nie wollte, ihre Sprache verlieren wird. Das Bild, das die unfliehbare Folge aller seiner Bewegungen und Anstrengungen als zwingende Antwort auf ihn zurückstrahlen wird.

Einmal gelangt er an den hölzernen alten Tisch, Werkbank, Zeichen- und Esstisch, auf dem eine kleine Tasse ungesüßten schwarzen Tees eine hellgraue Schicht über der immer dunkler und bitter werdenden Flüssigkeit bildet. Blitzschnell zerbricht sein Griff nach der Tasse am Schreckgeräusch aufplatzender Kastanien auf dem eisernen Ofen – aber da war es noch Winter, Februar. Die Kastanien schmeckten herb nach Erde und ließen sich schwer aus der Schale lösen. Nachdem er eine Handvoll davon verzehrt hatte, fühlte er sich ausgetrocknet und enttäuscht, als habe er eine lang bewahrte Erinnerung verloren. Um dieses Gefühl schwindender Erinnerung als eine Botschaft schwindender Kräfte wiederzufinden, braucht er Geräusch und Geschmack der Kastanien nicht mehr in diesem Sommer.

Das  Bild des in Pergament eingewickelten grobkörnigen Brotes flackert später in ihm auf, Brot, das er mit seiner Alltagskleidung sorgfältig im Spind des angrenzenden Gelasses verschlossen hat.

Warum verschließt du das vor dir selber, da du doch alleine bist?

In dem Gelass steht auch das Schlafgestell, die dem Wort gemäße Bettstatt: auf der nackten Matratze liegt eine uralte, schlecht zusammengefaltete Karodecke aus der Nachkriegszeit.  Dieses Bild erinnert an Inbilder jener Herbergen, die man in fremden Regionen nur notgedrungen aufsucht.

Gegenüber der Bettstatt ein alter Vitrinenschrank, auf dessen gläsernen Ablagen wichtige Dinge ruhen: Ein Gebinde Katalogbücher (kordelverschnürt), klarsichtig und chronologisch sortierte Profi-Fotomappen mit den Bildern von Arbeiten, die in 3 Jahrzehnten entstanden waren.  Wie Fundstücke zueinander gestellte kleine Terrakotten, tierhaft, pflanzenhaftes Bewegen; in fremdes Material übersetztes Atemvermögen. Jedes für sich Szene und Insel. Auch Gefäße für undekodierbare Zeichen, Umschalungen für die Ungebrauchsfertigkeit von Erinnerungsverlusten, von Erinnerungen, von Verlusten,  von nahezu denkbarem und fernerhin Natürlichem, wie es sich regt, Laut gibt, schläft.

Die Wange wechselt, wenn der Schläfer erwacht.

Wie er sich, ohne sein Brot anzulangen, in das Brot eingeschrieben hat, sich hineingeschrieben hat ins Weiße, in die Unfarbe Weiß, die sich jeder Maler verdienen muss. Wie er zurast auf sein Bild, nein, auf zwei oder drei Bilder zu, die immer gleichzeitig da sind, die immer enger gegen die Wand gepresst zu sein scheinen, immer wehriger in ihrer papiernen Begrenzung. Wie er immer nur zugeht und geht, geht hin und her ohne ausformbare Gedanken, geht, wie Schrift es tut, wenn sie die Legende ihres Zustandekommens ins Unreine entwirft.  Um am Ende beschämt aufs Schönschreiben zu verzichten.

Kleisternasse Papierstücke, mit schwarzer Farbe verklumptes Relief, die Hände beginnen an diesen Klumpen zu formen, zu modellieren. Nichts verlässt die Hand, was nicht dem Offnen dort auf den Flächen anzufügen wäre, um in Nachbarschaft einer Andeutung seine Eindeutigkeit einzubüßen.

Schriftfetzen, gedruckte Sinnfragmente, die jeder schlüssigen Ankunft im Wiedererkennen höhnen. Und diese große, überlebensgroße Aufspannung, besser: Anspannung von Papier an den Wänden, die ihn beherrscht,   heranholt, herbeizitiert mit einer Geste, die in ihm so etwas wie Tanz auslöst auf den zahllosen Strecken zwischen dem Materialdepot und den Landschaften. Landschaften, die mit dünnen Stahlstiften an der Wand befestigt und vor dem befürchteten Absturz ins Atelier hinein nur fragil gesichert worden sind.

Einmal ist es doch geschehen, er stand gerade vor dem Ausguss und wusch den Quast aus, als er dieses lebendige, reißende Geräusch des Ablösens der steifen Pappe von der Wand vernommen hatte; er hatte sich nicht umgedreht, abwartend, was passieren würde. Eine Sekunde war Ruhe, dann hörte er ein Schaben wie von einem Schneeschieber und gleichzeitig dieses Reißen und dann das schwere, lange lärmende Fallen des Bildes, das schließlich nur noch zur Hälfte lächerlich gegen die Wand lehnte, überall Rissspuren aufwies und in der Mitte mit den beiden erschlafften Bildecken lächerlich eingeknickt war.  Nie hätte er gedacht, dass von der Wand herab fallendes Papier so einen Höllenlärm machen würde. Und einen so erbarmungswürdigen Eindruck machte, dass  er sich  gezwungen gesehen hatte, seinen Mund zu einem Lächeln zu verziehen. Er zeigte sich selbst damit, dass er berührt war.  Ein wenig schadenfroh, auch.

Nebenan das brutale Zuschlagen der Eisentür draußen. Plötzlich ist der Nachmittag mit Dämmerung angefüllt.  Er kocht sich noch einmal Tee auf der rostigen Elektroplatte neben dem Ausguss. Nebenbei isst er ein paar getrocknete Pflaumen. Er schaltet das verstaubte Transistorradio ein. Fast pflichtbewusst sucht er einen Sender mit Wortbeiträgen und stößt auf die Nachrichtenstimme vom Morgen, auf die Nachrichten, deren Abfolge er schon kennt  und an deren Formulierung er sich wieder bitter stoßen wird. Er schaltet ab, bevor die Präzision seines Gedächtnisses ihren Beweis antreten muss und seine Empörung wieder einmal keinen Ausgang findet beim Vernehmen eines Wortes wie absenken.

Er arbeitet weiter ohne Licht. Ohne Netz in diesem schalen Zwielicht, das sein Material ist wie die Farbe der Schwarz-Grau-  und Weißtöne und der organische Klebstoff. Er selber sieht sich dabei als einen unplastischen, aber in sich veränderbaren Stoff.

Wenn die Bedingung gleichmäßig gestreuten Lichtes den entscheidenden Fertigzustand des Bildes erreicht, ist Nacht. Der Strahl der Düsternis trifft das Bild, und erst dann vermag er es ganz zu sehen. Es entbehrt der ersehnten und doch so kunstfeindlichen Fähigkeit, ins Gerüst einer wie auch immer gebauten Sprache verklammert zu werden. Und es entbehrt auch der oft hilfreichen Möglichkeit, aus allen Suchregionen heraus ins Konstrukt einer endgültig kalkulierten Fläche gebunden zu werden.

Jetzt ist er bei dem Bild.

Vielleicht stützen ihn, den im Raum Freistehenden, jene Kastanien-Erinnerungen, gegen die er sich einmal heftig gewehrt hat, als zwischen Auge und Hand alle Vorstellungskraft verloren gegangen war. Als die Hand einziges Organ sehenden Denkens war.

Das Denken aber ohne Bedeutung war.

Seine Zunge ist trocken, gegen das Hungergefühl arbeitet Säure, die gegen die Magenwände schießt.  Er schlürft den lauwarmen Tee. Der Tee steht in seinem Hals wie ein Stock. Im Aufblitzen seiner Erschöpfungssehnsucht sieht er sich als Bittsteller, als einen, der sich langsam vorwärtsbewegt, auf das wenige Stunden alte Bild zu, um Kräfte aufzuladen.

Doch dann beginnt noch einmal dieses Rasen, draußen,- er nennt alles, was außerhalb von ihm geschieht,  draußen –  heftige Störungen, hinausgeschleudert, die hier und da Zentren bilden, mal in diesem, mal in jener Bildsicht. Zerstörerisch arbeitet er an der Abstößigkeit längst ungefälliger Formen weiter. Er verschwendet das sorgsam rationierte Material. Er schlägt mit dem Pinsel Löcher ins Papier; und nicht genug, er legt Schicht um Schicht langer Arbeitszeiten mit einer einzigen Bewegung wieder frei. Er verletzt, vernichtet, was vor wenigen Minuten noch für sein Jasagen zuständig gewesen war.

– Er lacht das Bild aus, er zerreißt das Papier genau an den bejahten Stellen, reißt gerade dort mit einem einzigen Pinselschlag und jenem zerstörerischen Druck gegen das längst getrocknete, so stimmig in der Farbmodulierung getrocknete und verkrustete Material: an genau  der Stelle, wo das glückliche Gelingen vieldeutigen Wiedererkennens in der Regel jedes Bild kunstkürt.

Einmal fällt ihm der leimschwere Quast aus der Hand, Meuterei des Instruments! Kleister, der ihm am Arm entlanggelaufen war, kühl, Fremdberührung. Er hebt das kleine Monster auf, dreht es um und setzt mit der stumpfen Griffspitze an jener Stelle, da er sich aufrichtet, blind am Bild an. Er reißt weite Regionen des Bildes ein. Mit schnellen Bewegungen und entsprechendem Druck ist ein Teil des Bildes einfach weg, und erst die Wand darunter präsentiert die Wunde. Und wieder läuft er vor, in Händen kleisternasses Papier, daran klebt schon die Aufforderung, diese Wunde nicht einfach nur zu  stillen, zu füllen, sondern sie anzuschwärzen.

Etwas wie abendliche Kühle könnte sich jetzt an die Fenster herantasten, die blind sind vor Ignoranz gegen das, was außerhalb des Hauses sich regt.

Da war eine Erinnerung an Feierabend, tatsächlich durch ein wirklich entferntes Glockenläuten ausgelöst. Er, der bis zum abrupten Ende seiner Kindheit gläubig gewesen war, weil er gläubig sein musste (obwohl er bis heute nicht begreift, dass man als Kind  zum Glauben gezwungen werden kann) versteht jetzt, dass einem dieses weit entfernte Geläute Tränen in die Augen treiben kann.

Wenn dich nur noch Fremdes umgibt, das du unter größten Anstrengungen abgesondert hast, besitzt jedes kleine Element erinnerter Geschichte einen  Eigenwert, dessen Wirkung oft überwältigt.  Gefühl, sagt er sich verächtlich,  ist doch nichts anderes als das immer wieder neu entwickelte Modell einer möglichen Antwort auf deine Geschichte. Er schreibt  sich diese Sätze mit einem stumpfen Bleistift auf den Rand einer Zeitung. Dann wirft  er die Zeitung auf den Boden zurück. Er findet diese Sätze im Echo, in ihrer Rekapitulation,  beschämend.

In einem anderen Leben ist er ein politischer Mensch. Ein gehefteter Stapel gedruckter Texte, die eines Kommentars und neuer Aktionen bedürfen, ist sein Gepäck beim Verlassen des Arbeitsortes, wieder in Alltagskleidung.  Er verursacht den brutalen Lärm mit der Eisentür. Er flieht die breiten schmutzigen Treppen hinab.

Im Aufzugschacht flattert eine verirrte Taube.

Fünf Minuten vom Atelier entfernt gibt es beim Türken eine Linsensuppe, ofenwarmes Pidebrot und den sehr süßen starken heißen Tee in kleinen ockerbraunen Gläsern. Dort könnte jemand auf ihn warten, der nicht fragen wird, was in den letzten Stunden geschehen ist. Es ist jemand, der nicht vorsichtig und nicht  einfühlsam ist. Diese Person ist gewohnheitsmäßig gleichgültig aber patent und nicht sonderlich interessiert an dem, was hinter der Eisentür täglich geschieht.

Sie schickt ihm ein Lachen, das erst irritiert, bevor es sein Anschlusslachen hervorruft, das falsch klingen wird.

Mageres weißes Licht über dem gescheuerten Tisch mit Tellern voller Gemüse- und Salatresten. Musik, als Relikt einer Reise, die nie angetreten wurde. Schlaf, der kein Zustandswort, sondern ein Mahnwort ist. Eine handgeschriebene Rechnung, plötzlich erscheint sie als  kaum entzifferbare Botschaft.

Von weither sieht er seine Bilder von einem Spiegel erfasst. Ein Spiegel, der, je ferner er aufgestellt ist, desto präziser die GÄNZE seiner Bilder in allen Einzelheiten festhält und speichert.

Und zurückschickt die Bilder in die Wirklichkeit, vor der die Menschen, den Mund voller Erinnerungssprache, in seinem Namen agieren.

 

 

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In memoriam Jörg Hoffmann, Maler und Akteur, der am 18. Mai 1993 in Berlin starb.

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