Monolog im Leserstrahl oder Eine Pistole für den Schattenmann

 

Ich gebe es rundheraus zu: Seit einiger Zeit hege ich den vagen Verdacht, dass ich mein Leben nicht mehr selbst in der Hand habe. Meine Realität, dachte ich bisher, sei allein meine Sache, – und da lag schon der Fehler, sie als „Sache“ zu bezeichnen. An der Struktur dieser Form des Daseins, die wir Realität nennen, die ich seit 3, 4 oder 5 Jahrzehnten gefügt und gebaut habe,  zweifle ich längst.  Wie auch  an der Wirkung, die mein Dasein auf das ausübt, was ich meine Realität nenne. Ich frage mich ein paar Mal am Tag: Gibt es mich überhaupt noch? Nein, ich beschwöre mit dieser simpel anmutenden Frage, mit der viele Literaturen sich philosophisch tarnen,  nicht den Verlust eines Idealbildes vom Ichsein herauf. Noch sinne ich wehleidig  dem Verbleib meiner x-beliebigen Identität nach. X-beliebig für wen? Für einen einzigen, sage ich, für einen einzigen, der ein Niemand ist, ich, niemand, der Andere, Mannomann, alter Hut für geschulte Geister, nicht wahr? Ich verspreche allen, dass sich die Frage, diese drängende Frage, in ihrer ganzen gleich zu schildernden Entfaltung nicht  am Konsens professioneller Fragesteller orientieren wird.

Ich hab mich, wenn es um mich ging, aus der bildlichen Sprache herausgehalten, ich finde Sinnbilder, Beispiele und Symbole für etwas so Eindeutiges, wie es der Mensch und dann noch der Mann darstellt, lächerlich, belanglos und peinlich. Oh, ich pflege Umgang mit einigen sehr unterschiedlichen Charakteren, die erstaunlicherweise jedoch alle eines gemeinsam haben: Sie sehen mich nicht. Darauf bestehe ich, das exakt so zu sagen: Sie sehen mich nicht. Nur so kann ich weitersprechen.

Seit einiger Zeit nimmt niemand mehr ausdrücklich Bezug auf mich, obwohl ich immer noch regelmäßig Besuche erhalte und selbst oft und gerne Überraschungsbesuche abstatte. Ich b i n  ein SACHVERHALT, zu dem man  sich auf fatale Weise verhält. Sieht man mich an, sieht man an meinem Ich vorbei, hört man mir zu, hört man nur die Worte und Sätze, pariert darauf, aber nicht auf meine Sätze. Meine Anwesenheit – mit anderen zusammen in einem Raum – ist Fläche – Schablone, ein Stück Möbel, das man zwischen sich schiebt, um einander besser wahrnehmen zu können im Reiz der Abständigkeit, ich bin Hindurchgang, Anschub und Vorlauf, Transit. Fatal, sage ich und weiß doch, dass dies mein Wort der Hilflosigkeit ist…

Fatal, ist das ein Wort für mich? Schon jetzt ertappe ich mich dabei, dass ich mich aus Sentimentalität immer noch der ALTEN Sprache bediene,  als ob sich für jemanden in meiner Lage noch ein persönliches Schicksal bereithielte … ! Immerhin wird mir niemand meinen Verdacht verdenken, wenn er sich bestätigen wird zum Ende meiner Erzählung. Aber ich beklage mich jetzt nicht, und selbst wenn man mir die folgenden Schilderungen als wehleidig auslegen sollte, werde ich mich nicht beleidigt zurückziehen. Ich werde alles, was mir noch bleibt, auf die Karte der Verächtlichkeit setzen und meine Unteilbarkeit weiterleben!

Während ich meinen Verdacht zu entdecken  und zu erhärten suche, um ihn auf schriftlichem Wege aus mir hinaus zu bergen, hinauszuräumen, hinauszuschaffen, hinauszudrängen, zu pressen, weg, nur hinaus, bitte, pardon,  habe ich gleichzeitig eine Kriminalgeschichte über den als reaktionär eingestuften Ethnologen Vierkandt im Kopf, dessen gedankliche Anstrengungen sich einstmals ins Tragische verkehrten, als er als grundlegendes Kennzeichen der Gemeinschaft die Ausweitung, Ausdehnung des Ich über die unmittelbaren Bedürfnisse und Belange der eigenen Person hinaus erkannte, für sich formulierte und für die Nachwelt niederschrieb. Recherchieren Sie zwischendurch, was man alles wissen muss, um biografische Eckpunkte ganz zu verstehen!

Die Grenze des Ich ist der Andere! Was für ein naiver Satz!  Traumtänzersatz! Wo ende ich denn und wo beginnt der Andere, mutmaßlich andere? Wer beweist mir denn, dass der Andere, an den ich stoße oder an dem ich mich stoße,  nicht noch, immer noch Ich ist, mein Ich, versteht sich!?

Was meinen Verdacht des von fremden, unberechenbaren Mächten Gehandeltwerdens angeht, so ist er (in seiner geradezu trügerischen Unbeschwertheit) ja gar nicht von so weit hergeholt, wird er doch täglich von allen Medien hinausposaunt, von allen Wissenschaften in alle Richtungen hin und zurück verrissen und bewiesen und am Ende doch wieder unter Pseudonym in gebundenen Machwerken zusammengestückelt, und man raunt ihn sich schamlos in meiner beruflichen und privaten Nachbarschaft zu wie einen bedeutungslos gewordenen Code. Ich betone: Das betrifft die Allgemeine Lage, sie schließt uns alle sozusagen ungewollt solidarisch zusammen. Wir haben Grund genug, anzunehmen, dass Unser Verdacht sich zu einer robusten, höchst bedrohlichen Zukunftstatsache auswachsen wird, deren Erkenntnisfundus uns schließlich aus Kopf und Händen gleiten wird, noch ehe wir alles aufschreiben können.

Sich selbst nicht mehr in der Hand haben, gehandelt werden, hin- und hergeschoben, Spielball fremder Bedürfnisse sein! Doch ist dies heute nicht die Stunde und der Ort für solche Scheinenthüllungen von Statuen der Kunstlust, denen die europäische Kreativität nach Jahrhunderte lang erfolgreich bewerkstelligter Bloßstellung schließlich doch wieder eine Verkleidung, Maskierung anhängen will?

Ich entscheide mich für ein Sprachtransportunternehmen, das es ein wenig anders weiß, weil die zur Verfügung stehenden Worte dafür entweder viel zu schön oder viel zu schrecklich sind. Die Worte, ach, die muss man sich erst wieder neu ausdenken!  Das Virtuelle ihrer Ausdehnungen hat sie längst angelöst, abgelöst, erlöst! Nein, aufgelöst. Das Phantastische braucht neue Flügel, um die Flächen und Folien voller mutwilliger und gleichgültiger Verbrauchsspuren zu fliehen!

Das Phantastische setzt sich (beim unredlichsten Berufsliteraten und  gegen den edelst und ehrlichst bezahlten Auftrag) zum Glück immer noch durch, wer aber bemerkt das noch? Und die vielversprechende, vielbejammerte Verdämmerung der Fiction (sprich Fikschn) bei den  digital beflissenen Berufsworttransporteuren tröstet jene, die jetzt noch davon überzeugt sind, sich geistig in der Hand zu haben, über das unwiderlegbare Morgengrauenhafte unserer anfangslos dahinplätschernden Tage hinweg. Fiction überzieht jede in die Nüchternheit wieder zurück gezwungene Erscheinung mit dem faden Anhauch eines Geheimnisses. Fiction, das ist weder Garantie für Qualität noch für Kreativität.

Geheimnisse sind umso schöner, je länger man mit ihrer Entdeckung, Erklärung, Aufklärung wartet, zuwartet, aufwartet. Solche koketten Geheimnisse verweisen oft genug dann gnädig auf eine oder mehrere noch unbekannte Persönlichkeiten, die es besser wissen, besser noch: die es wissen, wissen müssen. Zu schildern in einer Sprache, die für die Erklärung unseres Allgemeinen Verdachtes noch in den Anfängen ihrer Entwicklung dahinkümmert. Sie orientiert  sich noch allzu gläubig an den konventionellen Grenzen der BESCHREIBUNG. Zaghaft spekuliert sie auf eine gelungene schriftliche lnstallierung von Gefühlen, Endzeitängsten, die durch erstaunlich einfache Techniken zu bewältigen wären.

 

Vertraue Dir!

Heile dich selbst!

Wehre dich!

Sei aufrichtig!

Manno!

Yeah!

 

Ich traue der exotisch anmutenden, kurzlebigen Suggestion solcher Worte nicht, die mit ihrer baldigen persönlichen Verderblichkeit und schließlich Verelendung wie Verendung auch die Menschheit untergehen lassen wollen, untergehen lassen werden, untergehen lassen werden müssen! Jetzt ist es heraus. Aber Menschheit beiseite!

 

Angesichts dieser, – eigentlich doch recht anspruchslosen –  Perspektive besitzt m e i n Verdacht, der Selbstbestimmung allmählich entbunden oder entbunden worden zu sein, einen eher dekorativen Charakter. Da es keine Ideologien mehr gibt, denen man zustimmen oder denen man widersagen kann, ist jedes ans Menschenwürdige grenzende Grenzgefühl medientauglich, sprich: dekorativ. Ich wehre mich in meinem Unbehagen, nicht mehr allein ich selbst zu sein, nicht dagegen, mit solchen Gedanken als wichtigtuerischer Besserwisser (nur aufgrund zunehmend intellektuell stärker empfundener Langeweile) zu gelten. Dieser Gedankensatz, buchstabiere ich ihn mir inhaltlich noch einmal nach, ist schon ein Relikt  jenes Unbehagens. Wie kann man solche Sätze formulieren, wer soll sie verstehen, auch, wenn sie sachlich mit dem übereinstimmen, was man mir – als Gemeintes – unterstellen könnte?

Noch sollen mir Philosophie und Sprache zum Ausdruck meines Verdachts verhelfen. In den Augen einer gesellschaftlich anerkannten Täterschaft aller – was immer – Besitzenden genießt jeder schriftlich geäußerte Gedanke eines besitzlosen Opfers über die Rettung seines nackten Lebens hinaus schließlich einen eher kunstgewerblichen Ruf. (Um jetzt das Dekorative zu umkreisen.) Aber auch das Dekorative ist ja nicht bloßer Zusatz, schönsinniges Geplänkel in den todernsten Pausen des Daseinskampfes, kein allein nur gesprächiges Zufallsprodukt einer versachlichten Einstellung zur Welt –  öffentlich gemacht vor aller Augen.

Sag es mit Literatur: Ein paar helle Köpfe; zum Teil in blühender Unkenntnis des Ernstes ihrer Lage von stets unauffälligen Dunkelmännern unterstützt, berufen das offenbar Zweckfreie, das lebenslogisch Abwegige, in die Notwendigkeit ihrer Existenz, sie locken es auf eine, nicht nur ihre, auf die Lebensleitlinie!

MEIN Verdacht gestaltet sich weitaus unkomplizierter, solange ich glaube, mein Leben selbst nicht mehr in der Hand zu haben. Ich bin kein, wie man in der Schule einstmals in den 60ern lernte, manipulierter Mensch! Manisch poliert, das vielleicht, würde jene Stimme in mir sagen, die zu einem sarkastischen Selbsthumor neigt. Dieses winzige Gebiet meines einstmals persönlichen Daseins kann mir niemand entreißen, es ist ein verödetes Stück Niemandsland, und dieser Verdacht, “gehandelt zu werden“, gar von mir selbst, ist wie eine Brache, für die sich niemand interessiert und auf der niemand etwas bauen kann. Ich schäme mich verdammt noch mal für dieses Bild.

Ich bin ohnmächtig, kann mich nicht stützen auf das, was uns alle erwartet, kann mich nicht ausreichend orientieren an den zweifellos zunehmenden Beschränkungen „von oben“, wo immer dieses Oben auch anzusiedeln ist.  Nein, diese Empfindung von der vergleichbaren Ausdehnung und dauernden Wirkung eines akupunktuell kalkulierten Nadelstichs (wohin) befiehlt keine Handlungen, wünscht und verwünscht keine Konsequenzen im weiten Gebiet meiner Lebensgegend.

Ja, ich hätte diese Empfindung vielleicht gar nicht ausmachen können, griffe nicht etwas zweites, weitaus Spürbareres in diese winzige Verödung, Verkümmerung, woraufhin es irgendwo in mir, im verdichteten Raum meines Körpers,  anfängt, sich Unwohlsein zu bereiten und sich auszubreiten über Blutbahnen in Gewebe, Haut und Knochen: ähnlich wie zu Beginn einer Grippe.  Nichts besonders Schmerzliches,-  du sagst Dir: Sichtbarkeit, Ansprechbarkeit, verzichte drauf, – der Mangel daran begegnet einem ja alle Tage. Gute wie ungute Dichter nähren sich davon.

Ich litt nicht einmal, es fiel mir bei dem Besuch einer Kultur-Veranstaltung mit Freunden zum ersten Mal auf, oder darf ich sagen, es fiel auf mich? Eine Erschütterung? Nein, wenn, dann habe ich sie nicht wahrgenommen, kein Aufprall, keine Intrige, nichts von OBEN inszeniert. Ich will ein paar Begriffe gebrauchen, die man gegeneinander setzen könnte, wenn man den Regeln und ihren wahrheitsergebenen Reflexen treu bleiben will.

Und so wähle ich auf dieser Kirmes der Selbstbezichtigung die billigste Schießbude für meine unbändig von mir besitzergreifende Zerstreuungswut. Ja, so will ich mich an die Einkreisung meiner zunehmenden Passivität heranmachen.

Es gibt in dieser Bude vier ziemlich farblose Figuren: 2 Paare,  die man beschießen muss. Oh, es geht auch noch einfacher: Man nimmt eine kleine Bleikugel in den Mund, versammelt den verfügbaren Speichel daherum und spuckt die 4 Figuren gezielt an. Ich denke da an die 4 symbolischen Figuren Wahlfreiheit, Versäumnis,  Erinnerung und Melancholie. Sie alle haben in der Geschichte künstlerischer Darstellungen eine passable Figürlichkeit, darin etwas Statuarisches angenommen.  Alle 4 sind klassische Einheiten des Menschendaseins, Befindlichkeiten, und irgendwo zeigten sie für mich immer ein bisschen Prostitutionsbereitschaft, egal, zu welcher Geschichte sie sich verhielten. Schließlich will ich sie haben, will sie mir nehmen und sie nicht brav entdecken. Ich will sie haben, die zwei Paare will ich haben. Sie sind aneinandergekettet, triffst du eines, hast du das andere mitgetroffen. mitgewonnen. Mitgefangen. Das erste Paar Wahlfreiheit und Versäumnis verbietet sich sentimentale Vor- und Rückblicke auf Dauer, ich treffe es  beim zweiten Mal mit meiner Bleikugelspucke wie ein Paar Plüschtiere. Niemand protestiert, dass sie erstmal nebeneinander  weiter in der Schießbude stehenbleiben sollen, denn ohne sie macht das Schießen keinen Sinn mehr, tönt der Schießbudenmann.  Ich aber widerspreche: Die beiden sind zu allgemein und als solche schnell in der Vorstellung des Schießenden reproduzierbar. Also her damit und weitergezielt!

Das andere Paar Erinnerung und Melancholie entbehrt nicht jener Sensibilität, die sogar den angeblich durchblickenden Menschen auszeichnet, der sich den Sinn für Formulierungen von Unstimmigkeiten, Unentschiedenheiten, Vagheiten und  Indifferenzen bewahrt hat. Als Einzel-Figuren geben sie von sich aus irritierende Töne ab. Töne zu einer schon bekannten Melodie aus schillerndem Farbenspiel, was man im Allgemeinen kitschig oder deja vu nennt. Sowas greift das Herz an, das nichts Schöneres kennt, außer sein rhythmisches, oh so ersehnt gesundes Schlagen. Lass ich sie mit äußerstem Vorbehalt aneinander  klingen, geben sie falsche Töne ab. Indem ich mich für das zweite Paar, Erinnerung und Melancholie,  starkmache, nähere ich mich, verfolgt vom Versäumnis (die treueste Figur in dem Spiel) und angeführt von der Wahlfreiheit (sie legt es darauf an, einem ständig etwas auszuwischen) diesem eigentümlich blassen Kreis meiner Passivität.

Und da schleicht sich der Verdacht ausgerechnet so heran, dass nur ich ihn wahrzunehmen vermag, denn für die Anderen bin ich einer, der ich immer war, ohne, dass es jemand in Zweifel ziehen könnte, da niemand mich kennt: Im Zentrum dieser lähmenden Schau agiert noch jemand. Aber ich will ihn nicht sehen, ich will ihn nicht ansprechen. Ich kann ihn nicht anfassen. Er ist Ich. Ich bin er. Er ist grau und schwächlich. Deshalb nehmen wir einander kaum wahr. Deshalb kann die Geschichte beginnen.

Ein riesiger Raum, einstiger Festsaal irgendeines Vereins oder einer untergegangenen Partei, menschenleer die ansteigende Zuschauertribüne. Geruch von kaltem Rauch, feuchtem Holz, saurem Schweiß, Pfefferminzkaugummi, nasser Wolle, nassem Tierfell (woher).

Ein Abend Ende September, heftige Regenschauer peitschen das gewölbte Holzdach mit der aufgenagelten Dachpappe. Zwischen den mobilen hölzernen Sitzbänken, wie man sie von Bierfesten kennt, ist der unebene Holzboden mit Abfällen bedeckt.  Noch speichern die Sitze Körperwärme und Geruchsmarken von Hunderten, die kurz zuvor gesessen, gelacht, geklatscht und geschrien, sich unterhalten, geraucht, ja gegessen, getrunken, gesungen und geweint haben. Ein sehr feiner Nebel steht über den unordentlich verrückten hölzernen Sitzreihen, was ihnen etwas Personelles zu verleihen scheint, es ist die immer noch lesbare Handschrift der Masse. Zusammengeknüllte Chipstüten dehnen sich knisternd aus, mit einem heftigen Windzug durch die Ritzen scheppert eine Coladose eine ausgetretene Holzstufe hinab. Bier- und Limonadenrinnsale treffen sich in kleinen Bächen, münden ich größeren, süßlich dünstenden Pfützen, vermischt mit jenem undefinierbaren Stoff, den der Sprachverliebte hilflos Schmutz zu nennen gezwungen ist. Irgendwo weit hinten geht ein übervoller Abfallbehälter sekundenkurz in Flammen auf. Das Feuer erlischt schnell – die Atmosphäre ist zu feucht für einen Brand. Jetzt riecht es anders, dieser Brandgeruch hat die Menschenausdünstungen geschluckt. Der Blickweg vom Perron zu dieser Person ist kurz, umschweifelos. Und da ist er.

Der Mann ohne Aussehen, ohne Alter, ohne ein erinnerbares Gesicht, ohne eine unnachahmbare Stimme, noch ohne einen Ichgeruch, ohne Bewegungen, die ihn auch von hinten wiedererkennbar machen, der das Podium leichtfüßig hinabgestiegen ist, um einen Ausgang zu suchen, vor dem er sich verabredet hat. Dieser Mann, der Spiegel, Schatten, Duplikat, alter ego und ein Clown ist, steht  im Lichtkreis des einzigen, jetzt noch eingeschalteten Scheinwerfers. Dieser Mensch ist so unauffällig in seiner kleinen Clownhaftigkeit, dass ein Beobachter sich anstrengen müsste, nicht durch das Eigenleben des Saales unablässig von ihm abgelenkt zu werden. Dieser Mann kann nicht gefährlich, nicht bemitleidenswert sein.  An jeder seiner Bewegungen fehlt die Entschiedenheit, aber es fehlt ihm auch an Vorsicht, jener Vorsicht, für die man sich in der Regel entschuldigt, wenn man weiß, dass man auf Dauer für jeden Anderen kein Fremder bleiben wird. Dafür zeigt er eine gewisse überraschende, normelle sprich gewöhnliche Selbstgefälligkeit, aufgrund derer sich wohl fast jeder in einer gewissen Anspannung für unansprechbar hält. Ein Spießertyp von der Sorte der Selbstherrlichen jedoch ist er nicht.

Das Vorhandensein dieses Mannes scheint den Zufall ohne Berechnung auszuschalten. Seine wie natürlich wirkende Unentschiedenheit passt sich den unbedeutenden, nie enden wollenden kleinen Vorkommnissen im Saal an. Um das herauszufinden muss man seinen eigenen Blick fast vergewaltigen.  Damit er an ihm, dem Unentschiedenen, der seine Präsenz wortlos behauptet, haften bleibt. Wessen Blick übrigens?

Kameraauge, das sich langsam, unerbittlich  sein Objekt heranholt.

Hat man ihn, oder hat vielleicht er sich in Trance versetzt? Vielleicht löst er sich jeden Moment ebenso unentschieden wie selbstgefällig wieder auf? Vielleicht aber hab ich zu spät angefangen, ihn ins Auge zu fassen, da muss ich Geduld haben, Geduld, Geduld, mein Lieber, bis es zu spät ist. Der das alles sieht oder liest, muss den Kerl einfach ignorieren, gewissermaßen mit ihm im Augenwinkel weiter existieren, weiter denken, weiter tun,  bevor der dämonische Züge annimmt.

Die Hervorbringung des Besonderen an diesem Menschen besorgt endlich das Licht, das plötzlich, plötzlich, plötzlich, aus großer Höhe auf ihn herab fällt! Der Lichtstrahl, Laserstrahl, Lichtschwall, Lichtkreis, Lichtkegel konzentriert sich auf die obere Körperpartie, ungefähr bis zur Hüfte, je nachdem, von wo aus man ihn ab jetzt, (mein Leserlein, mein Leserchen, pardon, Laserlein, Laserchen),  beobachten will. Der Mittelpunkt des Lichtes, der übersensible Kern, ruht auf dem Allerwelts- und Zickzackscheitel des Mannes. Jedes Haar, jede Schuppe lebt auf diesen Biotop menschlicher Um- und Mitexistenzen ganz für sich – eine unverblümte Abständigkeit, schreibt ein Prosaiker später zu einem ähnlichen Bild. Warum hat er sich mit dem Begriff so abgequält? Wir wollen es in einer anderen Geschichte, die wir unter Einfluss der Bakterien dieser Geschichte noch ein wenig gären lassen wollen,  genauestens erfahren. Wenn wir wollen. Aber wir wollen nicht. Wir werden niemals etwas so Niederträchtiges wollen. Wer wir? Die Grenze des Beschreibbaren unterliegt dem Ja oder Nein dessen, für den wir diese Beschreibung anstrengen wollen. Aber wer ist gemeint? Jemandes Geschichte, die sie immer wieder in den Anfängen erstickt. Und die sich dann von selbst zu Ende erzählt.

Von der Taille abwärts knickt der Schatten des Mannes, knickt ein menschlicher, männlicher Schatten im rechten Winkel ab. Der plötzlich abgekämpft wirkende Mensch scheint seinen armen Schatten hinter sich herzuziehen wie der tragische Clown im frühen Stummfilm, er zieht ihn, je näher er zu den ersten Bänken kommt, immer länger. Er zieht ihn nadeldünn, zieht ihn nach Unendlich, zieht ihn ins Unsichtbare. Obwohl er kleine Schritte nach vorn macht, verlässt der Mann den Mittelpunkt des Lichtkreises nicht. Es gelingt ihm einfach nicht. Da weiß er, dass noch jemand da ist.

Erst traut er seinem Gehör nicht, aber unverkennbar ertönt hoch über ihm eine leise Mitternachtsmusik, amerikanischer Verschnitt, ein eher trister Sound aus den fünfziger Jahren, doch Ohrwurm. Gleichmütig einschläfernd fließende Melodie, die man einschaltet und nie mehr vergisst: Stimmungsbegleitung, wenn etwas nicht einmal einschneidend Unangenehmes zu Ende geht. Wenn man in gedanklichen Vorbereitungen zum Aufbruch wartend im Nirgendwo steht. Wenn man, weiß der Himmel wohin, schon unterwegs ist. Das Unterwegsgefühl und diese trügerisch beliebige Musik gehören am Ende zusammen.

Der Mann lauscht diesen mal angestrengt flotten, mal seichten, den wegen schlechter Wiedergabe krächzenden Klängen und Klanganimositäten gern. Noch weiß er nicht, was er als das wenige Nichts, als das er sich einschätzt, nennt und kennt, soeben vollendet hat, weiß nicht, wohin er aufbrechen will oder seit wann er – vielleicht immer schon ? –  unterwegs ist. (Wir wissen es, müssen es wissen, als Laser/Leserschaft, Laser/Leserschaftsschaffer, als jene Beleuchtung, die das, was nun geschehen soll, erst sichtbar, lesbar, erinnerbar macht.)

Und zum ersten Mal denkt er, der Clown, oder sollten wir besser schreiben, lesen, denken, uns vorstellen: der, den sie (wer sie?) verdoppelt haben.  Denkt er bewusst an einen Anderen, den er gar nicht kennt? Er stellt sich vor, wie ein anderer Mann da oben, ein technischer Angestellter, ein Beleuchter vielleicht, unter einer kleinen flackernden Glühbirne eine abgegriffene Ledertasche verschließt. In dieser Tasche liegen ein Schraubenzieher, ein Prüfstab für elektrische Angelegenheiten, ein Reservebeutel mit trockenem Zigarettentabak (der frische befindet sich in der Hosentasche), ein Stück sorgfältig zusammengelegte Alufolie und: in einer Streichholzschachtel ein kleines Kügelchen Alufolie. Als der Mann seiner Vorstellung nichts mehr hinzuzufügen weiß, erschrickt er. Warum fühlt er sich so unsäglich angestrengt, ausgelaugt, müde? Sein körperlicher Zustand befremdet ihn, als er sicher ist, dass der Fremde dort oben sehr langsame Bewegungen (ein Ritual) vollzieht, um eine Erschöpfung zu rechtfertigen, vor ihm, vor wem?

Südseite der Halle, südlicher Ausgang, hämmert es in seinem Gehirn, dann wirst du es wissen. Er findet die unzählbaren leeren und unordentlich verlassenen Zuschauerreihen unerträglich, und er blickt nach oben, in ein kompliziertes Gerüst aus Metallstützen- und Pfeilern, Holzverstrebungen und provisorisch aufmontierten Wegen aus Brettern, und da noch feiner hineingewebt ein verwirrendes Gespinst aus elektrischen Leitungen, Kabeln, Drähten, die zu Scheinwerfern führen und zu mannsgroßen Lautsprechern. Sie blockieren den Durchblick bis unters Dach.

Dort oben existiert eine andere Welt, sie ist von der dort unten völlig verschieden. Ein Kameraschwenk in halbklassigen Krimis zeigt gerne ein solches Milieu, und die berechenbarsten Verfolgungsfilme spielen fast immer in solchem Ambiente, weil es genügend Orte dieser Prägung gibt, die man nicht bauen, nicht herstellen, nicht gestalten und arrangieren muss. Für Albträume dekorierte mietbare Orte.

Man könnte den Saal einfach auf den Kopf stellen,- die eigene Situation erschiene wirklicher, nachsichtiger, ja, vertrauter. Solange der Befremdete, der Nichtsmensch, der Unterwegsmensch, der Lichtkreismensch, den Kopf weit nach hinten gebeugt, die Hände gegen die Hüfte gestemmt, sich anstrengt, die Wege der Kabel und Gerüste auseinanderzuhalten, weiß er es wieder, weiß er es ganz genau, dass diese bedrückende Lautlosigkeit, in der die Mitternachtsmusik zu ersticken droht, nur deshalb da ist, weil vorher ein unbeschreiblicher Lärm diese Halle erfüllt haben musste. Die leise, lächerlich einschmeichelnde Musik ist eingeschmolzen in eine riesige, gepresste Lärmkugel aus tausenden von Klängen und Stimmen, ist in eine Hülle der stumpfen Nachklänge gepresst, die, dünn wie die Flügel der Insekten, in kleinste Zwischenräume dringt. Ist er dabei gewesen? Ja? Nein? War er der Akteur? Ein Zuschauer, Pressemann,  Bühnenarbeiter?

Aus seinem halbgeöffneten Hemd steigt ihm Schweißgeruch in die Nase, befremdend erreicht ihn dieser fast beißende Geruch eines Mannes, der innerhalb kürzester Zeit sehr viel Energie verloren hat.  Er senkt den Kopf, taumelt ein wenig in leichtem Schwindel, er knöpft sein Hemd unter dem grauen Sakko ganz auf, zieht sich – kindisch und gespielt animalisch –  das Unterhemd über die Nase, schnuppert, atmet tief, heftig, gierig den eigenen Geruch ein, den er als seltsam, erschreckend, ordinär fremd, und wieder als äußerst exotisch, erotisch, anregend wahrnimmt. Er zieht das Hemd noch höher, über die Augen, die Stirn, sein Kopf verschwindet fast darin. Er bandagiert sich mit dem Hemd, dem Hemdgeruch, dem Ichgeruch dessen, der zu sein und sich darin auszudehnen, auszuleben er vorher nie gewagt hätte.  Er gibt eine komische, kopflose Figur ab, mit ein paar fransigen, Haarbüscheln die aus der Hemdöffnung wachsen. Er sieht sich vor seinem inwendigen Blick als Karikatur eines anderen. Er sieht sich mit den vertrauten Augen eines Fremden, den fremden Augen eines Vertrauten. Die Schultern hängen schlapp, mit leicht vom Körper abgewinkelten Armen hinunter. Dem Mann gefällt es sehr, so in sich, im eigenen Hemd zu stehen, es ist sogar erleuchtet drinnen:  der Scheinwerfer ist so stark, dass er durch das Hemd hindurch sogar die Konturen der Saaleinrichtung erkennen kann. Er selbst fühlt sich gewissermaßen erleuchtet. Sein Gesicht glüht, Schweiß rinnt ihm über Wangen und Kinn auf die nackte Brust hinunter bis zum Bauch, was ihn schaudern lässt. Langsam dreht er sich einmal um die eigene Achse. Er will sich an etwas erinnern, denn er lacht durch die Stoffschichten hindurch auf einmal dumpf auf, dann wiederholt er das Lachen, wiederholt es nochmal, und nochmal. Als imitiere er sich selbst, wieder und wieder, bis aus dem Lachen ein Wimmern, ein Weinen wird, filmreif.

Als sein Kopf aus der Hemdöffnung hervor taucht, sind die typisierten Konturen seines Gesichtes ausgelöscht. Ein durchdringender, erstickter Schrei von oben, ein Poltern, etwas Metallisches stürzt scheppernd in die Tiefe, schlägt auf die Kante einer Holzbank, die splittert, alles in einem unberechenbaren Sekundenspiel, für das der Begriff Kettenreaktion nicht ausreicht, weil etwas Zwingendes und Zwanghaftes die Geschehnisse lenkte.  Der Mann im Leserstrahl,  steht noch immer da, in unordentlicher, aufgebauschter Kleidung. Ein Windzug streift das erhitzte Gesicht. Er fühlt sich sehr krank, aber – er spürt es an der Entspannung seiner Glieder –  auch irgendwie geborgen, über das Schlimmste hinweggetragen.

Er geht langsam auf den metallischen Gegenstand zu.  Der von unsichtbarer Hand gelenkte Scheinwerfer begleitet ihn. Das metallische  Ding liegt in einer Bierlache, es ist dunkel, schwarz, kompakt, handklein, rechtwinklig gebogen wie die Miniatur seines eigenen Schattens, erzeugt Herzklopfen bei dem, der langsam erkennt, worin sich Gefahr definiert.  Es ist eine Pistole. Schwer und klebrig liegt sie ihm auch schon in der Hand. Er selbst ist noch einmal beschwert um sein eigenes Gewicht. Noch nie fühlte er etwas ähnliches. Er rennt nicht davon, nicht zum Südausgang und zu der Verabredung.  Er wundert sich nicht im geringsten.  Er weiß ja gar nicht, was hier gespielt wird. Vorsichtig legt er die Pistole wieder in die Bierpfütze zurück und fühlt sich leichter. Darin blitzt sie kurz auf, als wolle sie signalisieren: Du hast mich versäumt, hast mich für immer verloren!

Dann streift sein Blick über die Abfälle auf den Bänken. Er ignoriert das leise Stöhnen über ihm auf dem Gerüst, das zweifellos und gewollt echt, also unecht klingt,- dort oben hat sich einer verschanzt, der Mist gebaut hat, denkt er. Wie kann man so etwas denken? Was für ein Mensch ist einer, der in einer solchen Situation, hier angekommen in einer Geschichte mit offenem Ende, so denkt? Wo bin ich, aus der Zeit, als es noch um mich ging, wessen Lenkung ist meine Lähmung ausgeliefert? Wenn Zeit sich von den Dingen scheidet, zerbricht ihr Klang in Nichts.

Augenblicklich streicht er in Gedanken die abgegriffene Aktentasche aus hellbraunem Leder samt Inhalt erstmal durch, Alltagsutensil, das jahrelang viel Raum in seinem Affairen eingenommen hatte. Er platziert an ihre Stelle einen polierten Metallkoffer mit Holzbeschlägen und mit zwei Sicherheitsschlössern. Darin  kann er doch noch seine alte  Aktenmappe mit einer Menge unordentlich aufgeklebter Fotos in einem Kunstlederalbum, einen Beutel mit später zu beschreibendem Inhalt  und seine Sofortbildcamera unterbringen. Mit knappen Bildunterschriften sind die Fotos versehen: „Beim Stöhnen reißt man den Mund zu zwei Dritteln auf, zieht die Luft mit geringem Geräuschaufwand sehr lange nach innen und stößt sie heftig, doch unter monotoner Ton- und Lautbegleitung, wieder hinaus. Wiederholung bis Wirkung eintritt.“ Dieser Wortlaut zum Halbportrait eines typisierten (gut gekämmten) männlichen Modells im weißen Oberhemd mit zu zwei Dritteln geöffnetem Mund und verzerrtem Gesichtsausdruck. Wie jemand, der sich nach einem epileptischen Anfall der Wirkung einer starken Spritze überlässt. Gespielt.

Dann wundert sich der Mann zum ersten Mal in dieser Nacht: Seine Wahrnehmung hat sich verschärft, Blicktotale. Statt des fahrig wahrgenommenen  Mülls liegt tatsächlich allerlei kleintechnisches Gerät verstreut auf und unter den Sitzbänken herum. Kleine Mikrofone, winzige Stenoretten, Polaroidcameras, Opern- und Ferngläser verschiedener Qualität. Eine gläserne Sprühflasche mit der reißerischen Aufschrift —

Damit Sie alles

bekommen,

was lhnen zusteht —

erregt seine Aufmerksamkeit. Die Müdigkeit scheint von ihm genommen, ein Tuch, von einer Statue gerissen, um sie einzuweihen, zu feiern. Der Mann fühlt sich stimmig, rund und klug.  Er sprüht sich das Zeug, das Erfolg garantieren soll,  nirgendwohin. Aber er richtet einen kräftigen Strahl nach oben, gegen das Stöhnen dort oben, und er springt dann schnell zur Seite, um von den herabsprühenden Partikeln nicht selbst erreicht zu werden, weil er parfümierte Gerüche an sich  selbst verabscheut. Eine Minute lang atmet er vorsichtig durch sein Taschentuch weiter, betrachtet die Vielfalt der glänzenden kleinen technischen Teile und Utensilien, genießt seine geschärften Sinne, während oben der Andere weiter leise stöhnt.

Draußen zerrt der Sturm wütend an den klapprigen Türen der Ein- und Ausgänge.  Schnee schickt er zu den Ritzen herein. Ein schöner Teppichkranz aus leuchtendem Schnee breitet sich an den Rändern des Saales aus. Und feine Stäubchen einer alten Stille verharren in den lichten Bildern unseres Tuns. „Schnee“, denkt der Mann fast  wehmütig, „Schnee im September … “ Und ohne Übergang: „Das muss man gleich wieder kaputtmachen.“

Auf diese Weise enthüllt er einen unsympathischen Wesenszug. Beim Anblick des Schnees haucht er sich im Reflex auf seine glühenden Hände, er hüpft ein paar mal auf der Stelle wie gegen die Kälte ankämpfend, schlägt sich mit überkreuzten Armen auf die Schultern. „Haha!“ lacht er, – und von oben kommt zwischen dem Stöhnen eben dieses gleiche HAHA hämisch zurück. Er starrt hinauf, einen Augenblick glaubt er, im Dunkeln zu stehen, der Scheinwerfer ist für Sekundenbruchteile dort oben in schwindelnder Höhe auf einen Mann gerichtet, der über dem Abgrund auf einer Holzbohle sitzend mit den Beinen baumelt und sich ebenfalls auf die beschriebene Weise auf die Schultern klopft. „Schnee!“, ruft der Mann unten trotzig und wie nicht ganz gegenwärtig, aber ein gewisser, abwartender Unterton lauert doch in seiner Stimme. „Schnee!“ kommt es trotzig zurück. „Wer sind Sie!“ ruft er unwillig von unten herauf,

„‚Wer sind Sie“, ruft der oben unwillig zurück. Und betont nicht etwa das letzte Wort, um die Antwort als Gegenfrage zu formulieren. Unten wie oben werden Schritte gemacht. Blitzschnell zieht der Mann unten jetzt ein schwarzes Foto aus der Öffnung einer Polaroidcamera, die er, ohne, dass wir es bemerkt haben, aus Metallkoffer oder Aktenmappe hervorgeholt hat. Er zieht mit grausamer Langsamkeit die Entwicklerfolie ab. Ohne das Ergebnis abzuwarten, wendet er sich dem Südausgang zu. Dabei überlegt er :“Mit wem war ich verabredet ?- und was soll dieses phantastische Echospielen wie in billigen Filmen ?“ , und irgendwie gehören diese beiden Fragen für ihn zusammen. Vor dem Südausgang verteilt und zertrampelt er den schönen Schneerand solange , bis er mit den Zigarettenstummeln und Papierabfällen eine matschigbraune Verbindung eingeht. „Das war Schnee“, murmelt er befriedigt ein paarmal vor sich hin, und auch da ganz oben echot jemand unaufhörlich Geräusche, Atemzüge und Worte.

Sicheren Schrittes kehrt er zur Sprühdose zurück. Während er mit angehaltenem Atem den Rest aus der Flasche nach oben hin versprüht, setzt das Stöhnen wieder ein, er sagt „Aha“ und kein Aha kommt mehr zurück, nur das Stöhnen begleitet die leise Musik weiter. Er könnte sich jetzt fühlen wie in einem Theaterstück, in dem die Schauspieler ihr Darstellungsbedürfnis auf ein Minimum reduzieren müssen. Aber er ist erleichtert, er weiß nicht, warum eigentlich. Hat er nicht ein lästiges Monster – Insekt unschädlich gemacht? Ohne die Wirkung abzuwarten, läuft er eilig zu den Bänken zurück. Dass er sich mit der idiotischen Sprüherei seine Verabredung verscherzt hat, und dass er diesen Ausgang wird nicht mehr benutzen können, ist ihm klar. Er fühlt sich trotzdem frisch und tatendurstig.

Er würde jetzt gerne mit Menschen zusammenkommen, mit einem Dutzend mindestens in gemütlicher Atmosphäre angeregt plaudern, dazugehören wollen. Ihm genügt allein der Gedanke daran, und der versetzt ihn in eine unverletzbar heitere Stimmung. Man braucht erinnerbare Orte, um Gefühle in sich wiederzubeleben.

Er wird seinen Aufenthalt hier so lange wie möglich hinauszögern. Bald wird ohnehin eine Aufsicht mit dem Schlüssel kommen, eine Putzkolonne. Solange der Scheinwerfer brennt und der Kerl dort oben nicht aufhört, zu stöhnen, ist seine Situation für uns nicht eindeutig.

Das Foto! Er hatte es ganz vergessen. Oder sollte ich sagen: „Ich hatte…“

Er hatte es achtlos in die Jackentasche gesteckt. Das Foto ist in ausgezeichneter, technischer wie künstlerischer Qualität. Was es zeigt, versetzt ihn in sofortige Panik, und er sucht in den Jackentaschen nach einem zweiten Foto, das exakt das darstellt, was er, mutmaßlich, soeben fotografiert hat.  Dieses jedoch zeigt jetzt einen rückwärtigen Ausschnitt aus einer Menschenmenge, vermutlich in einer Großveranstaltung, man sitzt dicht beieinander. Die Gruppe zeigt ausnahmslos Hinterkopf. Im Zentrum gibt es ein Rückenportrait von ihm, ja, von ihm leibhaftig, wie er da mit seinem Kopf im Unterhemd steckt, eingekeilt zwischen zwei bunt behemdeten Gestalten. Über der Menschenmenge in Höhe einer Kinoleinwand ist ein riesiger Spiegel (oder doch eine Leinwand?) angebracht, auf dem er noch einmal von vorne zu sehen ist, ein Menschenbündel Verzweiflung, in sich ertrinkend, zwanghaft vollkommen auf sich bezogen. Einige der Rückenfronten haben eine Camera, ein Fernglas auf ihn gerichtet, einige halten Mikrofone in seine Richtung (was gab es dabei zu hören?), einige rauchen (Profil), führen weichbraune Würstchen und metallische Coladosen zum Mund (Profil). gestochen scharf wie auf einem guten Bildschirm erkennt er jedes Detail. Und sich.  „Das soll ich sein!“ Es schreit sich der Satz aus ihm hinaus und nach oben, hin zu den Kabeln, zu der Welt dort oben hinauf. Er lacht über seine eigenen Worte.

„Ach was,“ beruhigt er sich so laut, als schreie er sich selbst in die Ohren und habe das Stöhnen und das Pfeifen des Windes zu übertönen: Er stemmt die Hände in die Hüften und richtet seine Sätze an den irgendwo versteckten Kerl da oben zwischen den Kabeln: „Dieses verdorbene Pack ist gar nicht mehr in der Lage, irgendwas im Original aufzunehmen. Die können doch nur auf die Scheibe starren, oder auch eine Scheibe abhören, immer wieder nur Scheiben, um hinterher behaupten zu können, dass sie dabei gewesen sind.“

„Die Augen haben sich schon an die Fläche, die Zweidimensionalität  gewöhnt, die Bewegungen und alle nur vorstellbaren Erscheinungen in reproduzierter Forman ihre Oberfläche presst, ja, so sehr sind die verödeten Sinne daran gewöhnt, daß sie jede Art von Geschehen nur noch im übertragenen, reproduzierten Sinne erfassen können!“ hört er eine sachliche Männerstimme von oben. Er bellt erschrocken zurück: „Erscheinungen?“ Und er wirft das Foto angewidert in die Bierlache zu der Pistole. „Simulant!“, brüllt er hinauf ins Ungewisse, „Ich befehle dir: Komm sofort herunter!“ Aufgebracht, mit im Rücken verschränkten Armen, gefolgt von seinem Knickschatten, geht der Mann im Scheinwerferlicht kurze Schritte hin und her, und der Schatten beginnt sich zu vervielfältigen, er kann sich nach der Gefaßtheit der letzten Minuten so schnell nicht an neue Orte auf grell erleuchteten Flächen gewöhnen, verharrt also, aber sein Original reißt sich noch los, wirft einen neuen Schatten.  Es umgibt, umringt sich mit seinen immer gleichen Schatten. Das Original läuft so lange hin und her, bis alle hellen Zwischenräume ausgefüllt sind und es, als eine selbst  voll strahlende Erscheinung, vom eigenen Dunkel ganz umgeben ist. So jedenfalls wünscht sich einer zu agieren, den die Geisteskräfte zu verlassen beginnen, während die physischen noch funktionieren.  Eilig, nein, hurtig klettert der Simulant genannte von einer Strickleiter oder Notleiter herab. Der Schattenwerfer sieht, wie der Andere sich beeilt, und er denkt: „Hurtig, warum?“ Hurtig ist ein schlechtes Wort für die Weise schnellen Handelns, man spricht es mit dem süßlich-sadistischen Unterton kinderlos gebliebener Tanten aus, denen es nicht zusteht, mit Händen zu schlagen, sondern nur mit Worten. Der von seinen eigenen Schatten umdrängte  Mann findet dieses Wort passend.  „In Extremsituationen bewährt sich mit dem Wort „hurtig“ ein feines Sprachgefühl.“, fügt er rechtfertigend hinzu.  Fremde Sprachen beherrscht er nur unzureichend, aber heute weiß er genau, was diese hurtigen Schritte hinab zu ihm in ihm verursachen können: Sie verletzen ihn,  je näher sie  ihm kommen.

Der Simulant ist ein Gespenst von einem Menschen. Von den letzten Leitersprossen lässt er sich einfach fallen und zwar direkt auf den Metallkoffer. Ein durchscheinendes, Männchen rappelt sich mit verquälten Bewegungen auf, um auf die Erscheinung zuzukriechen, die vollkommen im Dunkeln steht. „Ist das dein Musterkoffer“, fragt der Simulant kläglich und deutet mit seinem überlang wirkenden Zeigefinger auf den durch seinen Sturz zerbeulten Koffer, zeigt länger darauf, als seine Frage dauert und zeigt damit seine rhetorische Unterlegenheit.

Der Erlebnisraum ist nun ganz klein geworden, eine winzige Stelle in den Ausmaßen des ehemaligen Scheinwerferkreises, vier Schritt Strahlung nach allen Seiten. Der Septembersturm wirft sich immer noch unnachgiebig gegen die Architektur. Jämmerlich und flehend blickt der Simulant zu dem Mann, den wir einmal Clown genannt haben,  von unten zu ihm  herauf. „Es liegt wieder Schnee vor dem Südausgang“, singt er jedoch überraschend diesen halblyrischen Satz. Der gespenstisch wirkende Simulant rappelt sich gespielt mühselig hoch, das Original stößt in das trübe Auge des Kleineren seinen säuerlichen Atem und schnüffelt an ihm.

„Der Kerl riecht nach Determination, hm.“  Er reißt sich zusammen, kann aber nicht an sich halten und herrscht den vermutlich Schwächern an:

„Und!? Die Fotos, ha! Die Mikros, ha!? Die  Ferngläser, die Stummel, Würstchen, ha?!- Die Pistole! Die Pistole!“

„Sie sind der Boss„, flüstert der Simulant ergeben.

„Was sagst du zu der Pistole?! Schieß los, du Fax!“

Der Simulant meidet das Gesicht des Anderen, in dem ohnehin nichts geschrieben steht, was er schon kennt und blickt auf die Hosenbeine des Anderen. Er sieht  im Nachbild des Gesichtes nur die zwei lichtlosen zusammengekniffenen Pupillenlöcher nebeneinander und ein viel größeres, klaffend darunter, schlechte Dämpfe verströmend,

„Sie haben heute Abend ne Show abgerissen. Jetzt ist niemand mehr da, aber Sie sind immer noch da.“

„Aus gutem Grund“, sagt der schmächtige Mann vage, aber er kriegt sich wieder in die Hand. Wer sich in der Hand hat, hat sich noch lange nicht im Griff, denkt der Andere, der spürt, was abgeht.  Richtig hinterhältig blickt der Simulant auf die Stelle, wo einmal die Füße des Gegenübers gestanden sind, Schrittattrappen in Fußbehältern, die sich noch nie entscheiden konnten, weiß er. „Wenn Sie laufen, merkt man nicht, dass Sie überhaupt ein Gesicht haben, ich meine, man muss immer auf Ihre Füße sehen“, bemerkt der Simulant, irgendwie unentschieden, aber mutig.

„Meine Füße weisen auf mein Gesicht,“ antwortet ihm selbstgefällig der, an den wir uns als das Original gewöhnt haben.“

„Wie bei einem Clown mit spitzen Schuhen.“, pariert der Simulant.

„Bei  einem, der immer die Wahrheit sagt“, fügt der Originale unnötigerweise noch hinzu. Wie überhaupt dieser Dialog so redundant ununterhaltsam bleibt wie einer in staatlich geförderten Filmen.

„Nein, nein…“ sagt der Simulant sehr ruhig und bestimmt, dann lässt er sich einfach wieder fallen und stöhnt sein vertrautes Stöhnen. Diesmal klingt es, Tatsache,  echt. „Gut, gut, von mir aus. Ich geh jetzt los und du wünschst dir dein Teil …. Es ist mir unangenehm.“  Mit übertriebener Gestik schreitet der von seinen Schatten hofierte Originale auf den Südausgang zu, er genießt seine Darbietung. „Darbietung?“ denkt er erstaunt, „Wie kann ich mich dafür hergeben?‘ Der Simulant kniet schon in der Bierlache. Blitzschnell greift er sich die Pistole, zielt, stöhnt, drückt ab, jeweils gleich zwei mal, und: trifft.

 

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Lesen Sie auch das Kollegengespräch, das A.J. Weigoni mit Angelika Janz über den Zyklus fern, fern geführt hat. Vertiefend ein Porträt über ihre interdisziplinäre Tätigkeit, sowie einen Essay der Fragmenttexterin.