heimwehen

 

»heimwehe« hat gegenüber dem vorherigen gedichtband »herzecho. lyrische sonogramme« von 2016 noch an substanz gewonnen, indem die textkörper komplexer und vielschichtiger geworden sind und das phantastische darin, über das spielerisch experimentelle hinaus, immer stärker prägend wurde. anfangs waren die imaginationen ausundaufbrüche aus dem normierten und begrenzten alltag. inzwischen betrachtet werner weimar-mazur alltägliches vielfach von vornherein aus oder in einer gegenwelt. außerdem wurden langgedichte häufiger.

die neuen gedichte heißen »gesänge«. texte und musik werden im gehirn ähnlich verarbeitet. das wort lyrik kommt bekanntlich vom altgriechischen lýra = laute, oder leier, zum spiel der laute gehörig, und nachfolgenden lateinischen lyra = laute, dichtung, lied, gesang von oden und hymnen zum spiel der laute, sternbild lyra. laut römischer legende erfand merkur, der gott der träume und götterbote, die laute. ein ausholender tonfall trägt die langgedichte und läßt sie strömen, in einer fließenden sprechweise, »in einem gebetsmühlenartigen, undulierenden auf und ab der sprache«, wie »heimwehe ‒ ein exposé« erklärt. undulation ist eine wellenbewegung und schwingung, geologisch die faltung einer schichtfolge. so überträgt der geologe weimar-mazur geologische strukturen auf literarische formen.

am anfang des buches zitiert er die brasilianische schriftstellerin clarice lispector: »“Schön sind deine Gedichte, mein Kleines. Wie macht man eigentlich so schöne Gedichte?“ „Das ist nicht schwer, man braucht nur zu sprechen und dann kommt’s von alleine.“« bei lesungen antwortete ich, wenn ich gefragt wurde, wann und wie literarische texte entstehen, das gute komme in kreativen momenten, die man nicht programmieren und erzwingen könne, meist von allein. und erläuterte dann, man sollte dafür die wirklichkeit wach und tief wahrnehmen und beständig seinen horizont erweitern, viel selber denken und beharrlich die sprache hinterfragen und worte in ihrem ursprung erkunden, das heißt gehirn und seele mit materialien, stoffen, motiven und ideen versorgen, so daß sie damit arbeiten können, sobald der schöpferische augenblick gekommen sei.

werner weimar-mazur aus waldkirch nahe freiburg im breisgau, als werner mazur in weimar geboren, verband den namen seines polnischen vaters mit dem seiner geburtsstadt. ähnlich nannte sich halldór laxness nach dem ort seiner geburt, oder max hermann-neiße, als max hermann in neiße geboren. weimar-mazur selbst sagt, er beschreibe, in »chiffren, codes, netzmustern«, verortungen, die heimwehe auslösen, oder heimwehen, im lyrischen ich, das sich mit seinem lyrischen du zu einem wir vereint, sowie im leser oder zuhörer. paul zech, geboren im pommerschen briesen, heute wąbrzeźno, wo die türen knarren, schrieb: »Das Du in mir, das Ich in Dir / lebt ungetrennt // fortzeugend noch, bis wir / vorwärts in heiligen Scharen / gemündet sind als Waldung oder Tier, / und wiederkehren nach Millionen Jahren.«

der buchtitel klingt nach schmerzhafter sehnsucht. der autor stellt seinen gedichten die zeilen »wir tragen mehrere heimaten in uns, / also haben wir auch allerlei heimwehe« voran. novalis formulierte: »Die Philosophie ist eigentlich Heimweh, ein Trieb, überall zu Hause zu sein.« der einer heimat, die auch ideell, erfunden, utopisch, jenseitig sein kann, ferne oder entfremdete hat heimweh, ein sehnen der seele nach abwesendem vertrautem, ja urvertrautem, oder unbekanntem, das man erträumt und begehrt, wenn das gute, das man braucht, nur anderswo zu finden ist oder scheint.

bei friedrich hölderlin lesen wir: »Das erfuhrst du nicht in frohen Tagen, / Daß so ferne dir die Heimat liegt, / Armes Herz, du wirst sie nie erfragen, / Wenn dir nicht ein Traum von ihr genügt.« karl kraus kannte ein jenseits, das mit dem tod endet. mascha kaléko wußte: »Jene Sehnsucht nach der alten Heimat / Ist (wer hätte das nicht schon erfahren!) / Nur ein Drittel Heimweh nach dem Lande / Und zwo Drittel nach vergangenen Jahren.« max frisch sprach vom modernen »Heimweh nach der Fremde«.

das wort heimweh, das anfangs eine psychische erkrankung meinte, entstand in der schweiz, erstmals nachgewiesen 1569, ausgelöst offenbar durch die schwermütige sehnsucht nach der heimat bei schweizer soldaten im krieg. melancholie und nostalgie hießen »Schweizer Krankheit«, morvus helveticus. weimar-mazur kennt die schweiz, wo er auch drei jahre wohnte, durch seine jahrelange arbeit als geologe dort. englisch homesick bedeutet heimwehkrank. weh, verwandt mit weinen, bezeichnet seelische schmerzen. weh sein heißt (seelen)schmerz empfinden, wehmütig, traurig, betrübt sein, weh tun zugleich schmerz zufügen. wehklage ist die laute klage. wehen heißen die schmerzen der gebärenden bei der geburt. auch das eintreten in eine unbekannte welt kann einer geburt gleichen.

schließlich verbreitete sich heimweh, nun unabhängig von der medizinischen bedeutung, im deutschen. zu beginn des 19. jahrhunderts wurde nostalgie zum gelehrten synonym für heimweh, zurückgehend aufs französische nostalgie = nostalgie, sehnsucht, abgeleitet vom lateinischen nostalgia, das auf griechisch nostalgia basiert, zusammengesetzt aus nóstos = rückkehr, heimkehr und álgos = schmerz, not, trauer, und ein schmerzhaftes verlangen nach heimkehr bezeichnet. heute meint deutsch nostalgie, das in meinem etymologischen wörterbuch zwischen norne und not steht, vor allem die zugleich melancholische und verklärende rückwendung zu vergangenem. nostalgie, verwandt mit genesen, wird häufig ausgelöst durch unerfüllte frühere hoffnungen und ein unbehagen an der gegenwart.

heimweh entsteht auch durch die entfernung und entfremdung von ursprüngen und anfängen. walter benjamin erklärte: »Was die Lust am Schönen unstillbar macht, ist das Bild der Vorwelt, die Baudelaire durch die Tränen des Heimwehs verschleiert nennt.«, gaston bachelard: »Unsere Vergangenheit ist in einem Anderswo, und eine Unwirklichkeit durchtränkt die Orte und die Zeiten. Es scheint, als halte man sich in den Vorhöfen des Seins auf. Und der Dichter und der Träumer können Zeilen schreiben, die ein Metaphysiker des Seins mit Gewinn meditieren würde.«

die motivwelt des dichters weimar-mazur ist vielfältig und stammt aus unterschiedlichsten bereichen: mythen, religionen, kulturgeschichte, märchen, literatur, kunst, reisen, geologie, biologie, medizin, fernsehnachrichten und alltagserfahrungen verschiedenster art, bis in die eigene kindheit und jugend zurück. dabei versteckt er sich nicht hinter seinen bildern, sondern wird persönlich darin erkennbar. wir finden im ich und du ein wir mit einem überindividuellen, ja menschheitlichen horizont, der in einer gespaltenen und zersplitterten welt meist fehlt.

zu den besonderheiten seiner lyrik gehört das vielfache verflechten und zusammenschauen von zeiten und räumen. die gedichte verbinden nahes und fernes genauso wie alltägliches und ungewöhnliches. das lyrische ich aus dem anthropozän, der menschenzeit, erinnert an zeitfernen orten eigenes leben und begegnet, indem es sich ins ferne und ausheimische einfühlt und hineindenkt, früheren erdbewohnern, lebt unter ihnen und verwandelt sich ihnen an.

in »Heimwehe« fügt er zeitlich und räumlich weit entfernte details aus schichten der erdundkulturgeschichte zusammen, bis ins prähistorische und vormenschliche hinein. seine erfahrungen als geologe und sein geologisches fachwissen verschaffen ihm entsprechende motive, die auch an die arbeit eines archäologen erinnern, der vergangenes entdeckt, freilegt und birgt. so verknüpft und vernetzt er, in großen bögen und kleinen schnitten, assoziativ metaphern, die im speziellen dort, wo sie elementar, archetypisch sind, magisches wahrnehmen aufscheinen lassen. zeit und raum entgrenzend nähert sich seine lyrik universellem erleben, das vermutlich das ursprüngliche, originäre ist.

in »gesang sieben« des zweiten kapitels »neue gesänge« lesen wir: »ein mammut überlebte / im permafrost wurde es besungen / bis in unsere zeit / eiskalt / zogen in zottigen gewändern / dichter und großwildjäger / in die bärlappwälder flohen die fasane / erlaubten die automobile am nahen golfplatz / einen geordneten rückzug«, in »gesang fünf«: »im rücken eines wals zuckte eine harpune / wir zogen uns zurück in die steinkohlenwälder / wo gingko und schachtelhalme mit baumfarnen um die wette sangen / erstrahlte dein antlitz in den straßen / blieben alle autos stehen«. die frühwelt der natur bremst autos, attribute des gottes der geschwindigkeit einer spätzeit, das heißt der gegenwart. zu sagen, daß hier auch ein ökologisches bewußtsein anklingt, ist angesichts der bilder fast banal, aber nötig. historisch betrachtet flogen speere und harpunen der tierjagd, letztere mit widerhaken, einer menschentechnikkralle, torpedos und raketen des menschenkriegs voran. in einigen texten kommen, bereits vor dem ukraine-krieg, vergangene und gegenwärtige kriege und bürgerkriege aus anderen weltregionen plötzlich bedrohlich nahe, so aus südamerika und der türkei.

friedrich nietzsche postulierte, also forderte hoffend, und hoffte fordernd: »Wollten doch die Dichter wieder werden, was sie einstmals gewesen sein sollen: – Seher, die uns etwas von dem Möglichen erzählen!« aber das mögliche verlangt mut. ganzheitliche erfahrungen sind als grenzerfahrungen ambivalent und können, wenn man sie real erlebt, traumatisch wirken. zugleich hilft das wahrnehmen frühzeitlicher welten als refugium gegenüber zumutungen der jetztzeit. matthias hagedorn notierte: »Um Poesie zu machen, die sich dezidiert über jede Norm hinwegsetzt, muß man einen mentalen Raum schaffen, der sich im Schwebezustand zwischen Tod und Leben, zwischen Traum und Wachen befindet.«

im ersten kapitel »zwölf gesänge + thirteen« schreibt weimar-mazur in »vogelmenschen«: »in einem früheren leben war ich vogelmensch / und flog durch kristalline gebirge / war schmetterlingsfrau und tauchte / in eine subduktionsszone / war fisch der schwamm über geosynklinalen / mächtige klastische sedimente / die falten decken bildeten / und sich schoben über eine frühere zeit / war traum gedicht / und heimwehe in einem wort / war zeuge und verschwand«, in »Seidengesänge« des gleichnamigen dritten kapitels: »erklommen wir in unseren träumen wortkaskaden aus dem altai«. jean paul kannte »Berge und Bergketten von Büchern.« benjamin meinte, man solle nicht nur die gipfel der literaturgeschichte erkunden, sondern auch »die geologische Struktur des Buchgebirges«.

die meisten gebirge der erde liegen unter wasser. im gesang »isenheim«, mit dem der band beginnt, erfährt der leser: »wir richteten uns ein im bauch eines wales / und hofften er würde uns wieder ausspeien / nach seinen tauchgängen im marianengraben / seinen flügen über wellenberge / hieltest du licht in den händen / antworteten dir stimmen und erinnerungen / hörten wir die nächte zu zählen auf / die jahre / das unglück«. im walbauch erleben das lyrische ich und du szenen aus ihrem leben und der vorwelt. jona sinkt biblisch im wal gefangen in die unterwelt hinab. durch gebete wird er errettet. der tonfall mancher gedichte weimar-mazurs kommt gebeten nahe. der fischbauch kann ein jenseits sein, in dem man lebt, was an das kind im mutterkörper denken läßt. das ausgespiehenwerden könnte einer wiedergeburt gleichen. das gedicht endet jedoch mit dem schlag einer schwanzflosse im netz der fischer und den worten: »schien mir / nur ein zittern auf dem wasser noch / an einen tod zu erinnern«.

c.g. jung formulierte, die welt des wassers sei das reich der seele alles lebendigen, »wo ich untrennbar dieses und jenes bin, wo ich den anderen in mir erlebe und der andere als Ich mich erlebt.«, also das reich der archetypen, der urbilder, des kollektiven unbewußten, egon friedell: »Raum und Zeit lassen sich quantitativ messen, die Lebensäußerungen der Seele nicht; im Raum herrscht das Nebeneinander, in der Zeit das Nacheinander, in der Seele das Ineinander.« und: »je ferner wir einer Sache stehen, desto tiefer wirkt sie auf uns, desto ästhetischer mutet sie uns an. Eine Pflanze erscheint uns poetischer als ein Tier, ein Kind poetischer als ein Erwachsener, ein Toter poetischer als ein Lebender.«

seine poetischen reisen führen ihn von island über spanien und griechenland bis zum orient, sozusagen an den säulen des herakles vorüber, laut pindar das westliche ende der antiken welt. man weiß nicht immer ganz genau, ob er lebensreale oder imaginierte reisemomente beschreibt, die auch ineinander übergehen können. nicht wenige orte der gedichte, odessa, teheran, kabul, liegen im süden und osten, richtung mittelmeer, kaukasus, altai, also in landschaften, aus denen jüngst der schakal, konkret der goldschakal, auch afrikanischer goldwolf genannt, als wild lebendes tier nach deutschland kam. infolge der klimakatastrophe, die klimawandel heißt, kommen vielleicht bald auch kentauren, minotauren, lemuren, gorgonen, sirenen und satyren, was eine bereicherung wäre. unglücksahnungen, eine domäne der traumatisierten, regen die phantasie an. hier fällt mir friedrich schillers »Was sich nie und nirgends hat begeben, das allein ist Poesie!« ein.

die tiere in den gedichten weimar-mazurs sind etwas weniger geworden, während erdgeschichtliche und kulturhistorische motive zunehmen. auf odysseus und die sirenen kommt er mehrfach zurück. doch auch in diesem gedichtband treten wieder zahlreiche tiere auf, denen der autor begegnet, gewissermaßen in einem lyrischen tierpark. vögel wurden wohl sogar häufiger, während sie in der realität weniger werden, ausgenommen krähen und elstern, also allesfresser.

bereits die nennung der tiere führt in zusammenhänge seiner lyrik hinein. manche sind längst ausgestorben, wie die trilobiten vor 250 millionen jahren, praktisch alle haben durch die ausbreitung des menschen lebensräume verloren, viele gelten als bedroht, schneeleopard, antilope, schwarzstorch, waldrapp, der großschnäblige lateinamerikanische tukan aus der ordnung der spechte und die (meeres)schildkröte. einige erscheinen als wesen einer gegenwelt oder vermittler zwischen realwelt und fiktion oder sind phantasiewesen wie drache, minotaurus und sirenen. drache, elefant, löwe, bär, schmetterling, käfer, spinne und fisch galten c.g. jung als symbole des selbst.

am ende des buches dankt werner weimar-mazur dem 2020 verstorbenen freiburger dichter christoph meckel, der das manuskript von »Heimwehe« gelesen und ihm rat dazu gegeben hat, nachdem er schon zuvor seine literarische entwicklung angeregt und befördert hatte. der lyriker josé f.a. oliver verschafft ihm mit seinem nachwortgedicht »heimverweh:ende ins wort der w:orte / für W.W.-M.«, neben worten wie »w:erde«, »w:ort«, »n:irgendorts«, »ge:zeiten«, »ge:schichten« und »b:leibender«, indem die doppelpunkte die worte und deren sinnteile, die er zerlegt, zugleich trennen und verbinden, noch ein leuchtend helles blau in seinem namen, das ans mittelmeer denken läßt: »M:azurleser«, und damit eine farbe der sehnsucht, die das heimweh stimuliert, das auch ein fernweh sein kann.

 

 

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heimwehe. gesänge. von Werner Weimar-Mazur. Dortmund (Edition Offenes Feld, Hrsg. Jürgen Brôcan). 2022.

Weiterführend → Eine Würdigung von hautsterben durch Ulrich Bergmann finden Sie hier. Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Auf KUNO lesen Sie u.a. einen Rezensionsessay von Holger Benkel über Werner Weimar-Mazur. Wir begreifen den Essay auf KUNO als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen.