Zum Todestag von Hans Fallada

In dem in Buchform 2012 publizierten Essay „Der Schein, das Sein und das Nichts“ habe ich Bücher und Gestalten von Hans Fallada neu interpretiert: mit Hilfe der Psychologie nämlich. Dabei nahm ich Alice Millers Bücher sowie eigene Definitionen zur Hand. Der Essay ist keine wissenschaftliche Publikation, sondern nur ein literarischer Interpretationsversuch. Heute sehe ich einiges mit anderen Augen und würde den Essay streckenweise anders schreiben bzw. einige Punkte vertiefen und ergänzen. Dennoch ist der Text nach wie vor gut und interessant.

Ní Gudix, 2022

 

aus dem Kapitel „Die ewige Schüler-Lehrer-Mentalität“

(…) Willi Kufalt (aus dem Roman „Wer einmal aus dem Blechnapf frißt“, Anm.d.A.) kommt mit 25 Jahren wegen Unter­schlagung ins Gefängnis. Seine Eltern, seine Lehrer, seine ersten Vorgesetzten werden nahtlos abgelöst von den Knast­wärtern, dem Gefängnisdirektor und dem Pastor. In der Schule, besonders in der autoritären mit Rohrstock, aber auch noch lange danach, gibt es meist gewisse Schubladen, in die die Schüler einsortiert werden. Es gibt den Streber, der ganz vorn sitzt, alles weiß und die anderen verpetzt; es gibt den Lümmel, der ganz hinten sitzt, immer für Ärger sorgt und es meist auf den Streber abgesehen hat sowie auf die, die ähnlich sind; es gibt den Schüchternen, den Eitlen, den Bücherwurm, den Dicken, den Dummen usw. sowie Mitläufer zu der einen oder anderen Schublade, wobei aber alle Schubladen künstlich sind und mit dem Sein der Schü­ler mitunter wenig zu tun haben; und ganz oben in dieser Hierarchie sitzt der Lehrer, den es zwar auch in mehreren Typen gibt (den Pauker, den Rumbrüller, den Selbstver­liebten, das Opfer, den Verständigen usw.), der aber doch so oder so der Boß ist. Der, der über Gedeih und Verderb eines Schülers entscheidet.

Was man in der Schule daher zuerst lernte, war Dis­kriminierung und Darwins Gesetz: der Stärkere überlebt, und der Stärkere ist der, der sich behauptet, der die Schwä­cheren wegbeißt und sich dem Boß am besten andient. Und da die Regeln der Schule den meisten schon vom Vater be­kannt waren – wer aufmuckt, fliegt raus oder kriegt den Stock zu spüren –, blieben sie bei den meisten auch nach der Schule drin. Und es waren daher auch die Normen der Ge­sellschaft, denn die autoritär Erzogenen waren ja keine gestörte Minderheit, sondern sie bildeten die Mehrheit.

Für Kufalt ist der Knast somit zwar eine Regression in die Schulhierarchie, aber er kommt im Grunde ganz gut damit klar, zumal er sich in die Schublade des Strebers ge­setzt hat, der sich bei den Beamten beliebt macht und gele­gentlich Mithäftlinge in die Pfanne haut oder erpreßt. Er hat zwar auch Freunde, es ist ihm auch um gerechte Behand­lung zu tun, aber im allgemeinen geht er vielen auf die Nerven, da er ständig auf sein Recht, auf die Strafvollzugs­ordnung pocht und alles besser weiß. In der Knasthierarchie hat er sich jedenfalls beharrlich nach oben gearbeitet und nimmt nun an, daß er auf diesem Level „draußen“ weiter­kommt. Doch er vergißt, daß „Knast“ in der Hierarchie „draußen“ per se „ganz unten“ bedeutet, und daß es für ihn nun heißt: „Alles auf Anfang.“ Er ist ein neuer Schüler, der in die Klasse kommt – in die Welt „draußen“ –, und alles, was er an seiner alten Schule – dem Gefängnis – gegolten hat, ist nun nichts mehr wert. Er ist „der Neue“, den die „Lehrer“ anlernen und anschnauzen und den die „Mit­schüler“ dissen und hänseln.

Die ewige Schüler-Lehrer-Mentalität fällt einem wirklich auf: „Vater Seidenzopf“, der Leiter des Heimes für die Strafentlassenen, trägt seinen Beinamen völlig zu recht, da er sich wirklich aufführt wie ein Vater, der seinen verzo­genen Gören Recht und Ordnung einbleut. Er kontrolliert ihr Geld, er kontrolliert ihr Ein- und Ausgehen aus dem Heim, er stellt ihnen einen Aufpasser zur Seite, er sagt ihnen, wie und wo sie zu gehen, zu stehen, zu sitzen und zu atmen haben – nur daß diese „Gören“ keine Kinder mehr sind, sondern in Lohn und Brot stehende 30jährige. Und auch der Schreibstubenvorsteher Jauch ist nichts weiter als ein Lehrer, der sich seine Klasse zurechtformt: es gibt den Streber, den Lehrerliebling, den Unterwürfigen sowie den Stänkerer, den Lümmel und den Halbstarken, wobei Kufalt teilweise übergangslos zwischen den Schubladen oszilliert. Es ist wie in der Schule, wie im Knast, es ist ein ewiger Kampf um den Schein und seine künstlichen Phalloi Ruf, Ruhm, Image, es ist ein ewiges pubertäres Strampeln um Anerkennung, Respekt, Aufnahme in die „Clique“, ein ewiges Hecheln nach guten Noten, nach guten Bewer­tungen, ein ewiges Beweisen- und Prüfen-lassen-Müssen – aber von Reife nicht die Spur.

Was wunder, daß sich Kufalt am Ende in den Knast zurücksehnt, in seine alte Schulklasse – da war er wenig­stens wer!

Fragt sich nur, wer – er selbst nicht.

 

 

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Der Schein, das Sein und das Nichts: Gedanken zum Menschen und zur Menschenwürde anhand der Bücher von Hans Fallada, BoD 2012 – Gern weist KUNO auf die Bestellmöglichkeit des Buches hin.

Es ist nicht übertrieben, wenn man Ní Gudix als Fallada-Expertin bezeichnet. Daher weist die KUNO-Redaktion gern auf ihr Taschenbuch „Der Schein, das Sein und das Nichts: Gedanken zum Menschen und zur Menschenwürde anhand der Bücher von Hans Fallada“ hin, das in 2012 erschienen ist. Die Autorin setzt sich in dem 120 seitigen Essay für diesen „Volksschriftsteller“ ein. Sie liest seine Werke – vor allem Kleiner Mann – was nun? oder Der eiserne Gustav – nicht als „unpolitische“, „volkstümliche“ Unterhaltungsromane. Für Gudix war Fallada kein Binsenautor, er schrieb auch keine fröhlichen Reißbrett-Schmonzetten, wie diese Begriffe irrtümlich suggerieren, im Gegenteil – nach ihren Verständnis war er ein Meister der Menschenkenntnis, er sah in die tiefsten menschlichen Abgründe hinab und versuchte in all seinen Büchern, das Wesen der Menschlichkeit festzuhalten. Seinen Gestalten blickt er in die Seele und macht sie so zeitlos; seine Werke sind deshalb verstörend, weil sich die Leser in ihnen selbst wiederfinden. Ní Gudix bringt auch Falladas widersprüchliche Haltung zur Sprache, schildert dessen Unentschlossenheit und inneren Kämpfe, die schließlich in Alkoholismus, Gewalttätigkeit und körperlichem Verfall münden. Dieses Buch ist sowohl als Selbstkritik wie auch als Kritik an all jenen zu verstehen, die weggesehen oder mitgemacht haben. Fallada war mit Sicherheit kein Nazi, aber man findet in seiner Prosa – wenn man genau hineinliest – die Ursachen des Holocaust dargelegt: Mangel an Empathie, Lebensangst, die soziale Kälte, ein Sich-Verschanzen hinter der Moral. Ní Gudix versucht Hans Fallada die Größe zurückzugeben, die er verdient hat.

Weiterführend →

Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango).