„Wenn er zu Hause ist, ist wieder alles zu Ende“

 

Es ist nun schon eine Weile her, dass die Langversion von Falladas Bestseller „Kleiner Mann – was nun?“ beim Aufbauverlag erschienen ist.  Ich musste das Buch mehrmals lesen und zwischendurch das Gelesene sacken lassen, um eine Meinung bilden zu können.

„Kleiner Mann – was nun?“ von Hans Fallada war 1932 ein Weltbestseller, es hatte dem damals jungen Schriftsteller unerwartet Geld und Ruhm eingebracht. Aber Fallada selbst sah den „Kleinen Mann“ zeitlebens als sein „schwächstes Buch“ an.

Jeder kennt die Story: Johannes Pinneberg und seine Emma, genannt Lämmchen, heiraten und ziehen zusammen, weil Lämmchen schwanger ist. Zuerst leben sie in Ducherow in Pommern, dann ziehen sie um nach Berlin. Hier, im Berlin der Weltwirtschaftskrise, kommt dann das Kind, der Murkel, auf die Welt, und Pinneberg wird, wie so viele, arbeitslos. Doch er hat sein Lämmchen; das ganze Buch ist eigentlich eine Liebesgeschichte, eine Geschichte, die sich ganz eng nur um ein Paar dreht und in der sich dieses Paar immerzu nur um sich selbst dreht.

Der „Kleine Mann“, so, wie ich ihn kannte, war ein relativ dünner Roman, die Szenen und die Dialoge nur angedeutet, angezeichnet, vorskizziert, vorschraffiert, aber nicht ausgemalt, alles blieb irgendwie vage und im Symbolischen, um dieses Duozentrische zu erhalten: Pinneberg und sein Lämmchen, kein Blatt passt dazwischen.

Eigentlich, so begriff ich später, als ich Falladas weitere Romane las, ist dies nicht typisch für ihn, dieses Anskizzieren und Nicht-Ausführen der Szenen. Fallada war kein Bleistiftzeichner, der alles schwarzweiß angedeutet stehenließ; Fallada nahm für gewöhnlich Wasserfarben und Pinsel zur Hand und malte jede Szene, auch die kleinste, detailgetreu aus.

Und in diesem Sinn ist die Long Version von „Kleiner Mann – was nun?“ nun tatsächlich ein richtiger Fallada. Es handelt sich dabei um das Originalmanuskript, das Fallada 1932 bei Rowohlt abgegeben hatte und das dann Opfer wurde von sehr umfangreichen Streichungen. In dem Buch, wie es dann gedruckt und zum Bestseller wurde, fehlte mindestens ein Viertel des Textes aus Falladas handschriftlichem Manuskript.

Erst jetzt hat der Aufbauverlag das ganze Manuskript, ohne Kürzungen und Streichungen, publiziert. Und wenn man es genau liest, merkt man: nicht nur die Szenen im Berliner Nachtleben sind neu, in denen Pinneberg und Lämmchen mit Jachmann um die Häuser ziehen und mit denen der Verlag am meisten Werbung macht – nein, auf jeder Seite gibt es Neues zu entdecken, bei jedem Dialog ist mindestens die Hälfte neu, und auch in den erzählenden Teilen kommen dem Leser oft ganze Seiten unbekannt vor.

Vor allem hat Johannes Pinneberg an Format gewonnen. Er, der in der bisher bekannten Version oft nur als „talmieleganter Garnichts“ rüberkommt, als ein Weichei ohne Rückgrat, ohne Geschichte, ohne Eigenschaften, der wird in der Long Version endlich zum Mann. Er ist nicht mehr so auf sein Lämmchen fixiert, er betrinkt sich auch mal, ärgert sich über seine Frau, wir lernen sein Vorleben kennen, seine Wünsche, seine Träume, seine Kindheit, seine sexuellen Eskapaden; und als ihn der Kollege Keßler mobbt, schnappt Pinneberg auch nicht mehr nur hilflos nach Luft, sondern schnappt sich Keßler und haut ihm eine runter. Immerhin: Johannes Pinneberg soll ja Berliner sein, und daher fand ich es früher seltsam, dass er so blass gezeichnet war, so sünden- und erfahrungslos. Er kam rüber als ein Mickerling, ein schlechter Verkäufer und noch schlechterer Buchhalter in Ducherow, der nur durch das Madonnenhafte seiner Frau hell erschien – er selbst schien gar kein inneres Leuchten zu haben, so neurotisch, verklemmt, angespannt und ängstlich war er. Erst Lämmchen schien ihm den Lebensatem einzuhauchen. In der Long Version nun bekommt Pinneberg endlich Charakter und Reife.

Im Gegenzug verliert Lämmchen ihren Madonnenstatus, und durch die viel ausführlicheren Gesprächsszenen zeigt sich, dass sie durchaus nicht heiliggesprochen werden muss, wie sie dies von der Rezeption teilweise wurde. Sie wurde oft charakterisiert als ein Vorbild an Empathie und innerer Größe, und es wurde oft geschrieben, dass es eigentlich Lämmchen sei, die ihren Mann gradehielte und vor dem Schlimmsten bewahre, weil sie so unneurotisch und so „lebensklug“ sei.

Beim Lesen der Long Version hat sich dieses Bild für mich von Grund auf gewandelt. Mir kommt Lämmchen nicht lebensklug und empathisch, sondern emotional, naiv, sentimental vor, und die Sichtweise muss erlaubt sein: nicht sie ist es, die Pinneberg durch ihre Güte und Liebe vor dem Schlimmsten bewahrt, sondern durch ihre weltfremde Naivität und Verliebtheit rutscht Pinneberg hingegen immer tiefer hinein in den sozialen Abstieg.

Lämmchens ständig wiederholtes Mantra hinsichtlich der Arbeitslosigkeit („was andere können, können wir auch“), deutet Carsten Gansel im Nachwort als „Vertrauen in die gemeinsame Kraft“, aber für mich ist das weniger Vertrauen, sondern vielmehr Ausdruck von Naivität und verliebter Realitätsblindheit. Vor allem, da deutlich wird, dass es eben Lämmchen ist, die nicht kann, „was alle können“.

Lämmchen ist es, die nicht haushalten kann; Lämmchen ist es, dank der das Gehalt am 21. des Monats alle ist; Lämmchen ist es, die ohne seine Einwilligung an seine Mutter schreibt; Lämmchen ist es auch, die dann in Berlin die unmögliche Wohnung mietet, durch die man ständig Angst haben muss, dass die Polizei dahinterkommt; Lämmchen ist es, die ihrem Mann irrationale Träume ins Hirn setzt (Stichwort Frisierkommode); Lämmchen ist es, die sich nicht entschließen kann, wegzuziehen, auch als ihr Mann arbeitslos ist; und Lämmchen ist es dann, die ihrem Mann draußen in der Laube am Ende des Buches verbietet, mit Kumpels zum Holzholen (= Holzklauen) zu gehen. Lämmchen und ihre hohe Moral.

Lämmchen ist tatsächlich nicht sehr lebenspraktisch, sondern verträumt, unrealistisch und romantisch und bringt so ihren Mann nicht gerade vorwärts, im Gegenteil: sie ist oft ein Hemmschuh. Am Ende, als Pinneberg in Berlin seine Stütze abgeholt hat und wieder auf den Zug nach Hause in die Laube müsste, da will er nun nicht nach Hause, denn: „Wenn er zu Hause ist, ist wieder alles zu Ende.“ Und er überlegt, ob er es sich leisten kann, zu einer Nutte zu gehen, weil er mal wieder mit jemandem reden muss.

Sicher: Pinneberg liebt sein Lämmchen, und er verteidigt sie auch energisch – aber dadurch, dass die beiden in der langen Version viel mehr miteinander reden, hat man jetzt nicht mehr den Eindruck, dass sie über allem steht. Früher dachte ich oft: armer Pinneberg, ohne Lämmchen fällst du zusammen wie eine Gummiente, aus der man die Luft rausgelassen hat – hier hat man eher den Gedanken, dass Lämmchen Pinneberg zu einer Gummiente macht, indem sie ihm Luft entzieht.  Lämmchens Sätze wirken durch die Redundanz nicht mehr so sehr wie weise Worte einer weisen Frau, sondern eben wie das verliebte Gewäsch eines jungen, unerfahrenen Mädchens vom Lande.

Interessant ist hier noch etwas, das bisher kaum in der Rezeption auftauchte: Der Murkel, das Kind von Pinneberg und seinem Lämmchen, wird nach den damals üblichen autoritären Erziehungsmaßstäben erzogen, und es wird im Roman sehr deutlich, wie Eltern, die eigentlich alles richtig machen möchten bei ihrem Kind, von Anfang an alles falsch machen. Sie lassen das Kind brüllen; sie wickeln und füttern es rigoros nach Zeitplan und nicht nach den Bedürfnissen des Kindes; und die Art, wie sie über das Baby denken, zeigt, wie unmenschlich die damalige „schwarze Pädagogik“ war: „Der Murkel ist erst ein gutes halbes Jahr alt, der sieht noch nichts, der hört noch nichts, der spielt noch mit nichts.“

Es ist interessant, dass im Zusammenhang mit dem Murkel kaum Textkürzungen gemacht wurden. Bei den Passagen im Berliner Nachtleben und denen in der Berliner FKK-Szene, bei den Beschreibungen des Nazis Lauterbach und bei denen über Pinnebergs sexuelles Vorleben: da schien man der Ansicht zu sein, möglicherweise Leser zu verprellen, weshalb man hier tüchtig kürzte; bei den Beschreibungen, wie Pinnebergs mit ihrem Baby umgehen, sah man hingegen keinen Stein des Anstoßes.

Es ist schade, dass die Originalversion von „Kleiner Mann – was nun?“ vom Aufbauverlag Berlin herausgebracht wird. Dieser Verlag reitet seit dem Welterfolg von „Jeder stirbt für sich allein“ 2011 auf der Fallada-Welle und hat sämtliche Werke Falladas neu herausgegeben – allerdings unsauber redigiert, mit lächerlichen, unrichtigen, sensationsheischenden Klappentexten versehen und ohne jedes kritisch-editorische Beiwerk. So ist leider auch dieses Buch eine literaturwissenschaftlich schlampige Arbeit geworden. Das Manuskript wurde durch den Scanner gejagt, anschließend wurde die neue Rechtschreibung drübergedroschen, und was von der Software nicht erkannt wird, weil es fehlerhaft eingescannt wurde, bleibt so stehen – fertig ist der neue Fallada. Auch wenn dies überspitzt klingt, so ist doch auch bei diesem Buch deutlich, dass sich der Aufbauverlag im Zusammenhang mit Hans Fallada wenig um literaturwissenschaftliche und historische Genauigkeit schert. Es wird nirgends vermerkt, was neu ist und was nicht – Fußnoten und ein kritisch-editorischer Anhang scheinen beim Aufbauverlag unbekannt zu sein. Das weitschweifige Nachwort von Carsten Gansel macht das nicht wett – Gansel quatscht von Charlie Chaplin, Robinson Crusoe und „Clärchens Ballhaus“ (Dinge, die in der Long Version des Romans auftauchen), er quatscht auch lang und breit über Falladas Leben, aber was wichtig gewesen wäre, fehlt wie immer: ein literaturwissenschaftlich-kritisches Nachwort.Wer genau wissen will, wo der neue „Kleine Mann“ anders ist als der alte, muss notgedrungen beide Ausgaben nebeneinanderlegen und parallel Seite um Seite prüfen. Es wäre sinnvoll gewesen, wenn der Aufbauverlag hier gleich eine kommentierte und mit Anmerkungen versehene Edition erarbeitet hätte, in der man auch die Änderungen der neuen Rechtschreibung hätte kenntlich machen können. Dadurch, dass der Aufbauverlag dies penetrant unterlässt, geht er mit Hans Falladas Werk genauso respektlos um, wie es auch in früheren Jahrzehnten der Rezeption geschehen ist – frei nach dem Motto: Hans Fallada ist ein „Volksschriftsteller“ und daher einer historisch-kritischen Werksedition nicht würdig. Traurig.

Trotzdem empfehle ich die Lektüre von „Kleiner Mann – was nun?“, dem Longplayer, jedem Fallada-Freund und dem, der es werden möchte.

 

 

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Kleiner Mann – was nun?, von Hans Fallada. Aufbau-Verlag Berlin 2016

Erstmals in der Langversion veröffentlicht

Weiterführend → Es ist nicht übertrieben, wenn man Ní Gudix als Fallada-Expertin bezeichnet. Daher weist die KUNO-Redaktion gern auf ihr Taschenbuch „Der Schein, das Sein und das Nichts: Gedanken zum Menschen und zur Menschenwürde anhand der Bücher von Hans Fallada“ hin, das in 2012 erschienen ist. Die Autorin setzt sich in dem 120 seitigen Essay für diesen „Volksschriftsteller“ ein. Sie liest seine Werke – vor allem Kleiner Mann – was nun? oder Der eiserne Gustav – nicht als „unpolitische“, „volkstümliche“ Unterhaltungsromane. Für Gudix war Fallada kein Binsenautor, er schrieb auch keine fröhlichen Reißbrett-Schmonzetten, wie diese Begriffe irrtümlich suggerieren, im Gegenteil – nach ihren Verständnis war er ein Meister der Menschenkenntnis, er sah in die tiefsten menschlichen Abgründe hinab und versuchte in all seinen Büchern, das Wesen der Menschlichkeit festzuhalten. Seinen Gestalten blickt er in die Seele und macht sie so zeitlos; seine Werke sind deshalb verstörend, weil sich die Leser in ihnen selbst wiederfinden. Auch findet man darin – wenn man genau hinliest – die Ursachen des Holocaust dargelegt: Mangel an Empathie, Lebensangst, die soziale Kälte, ein Sich-Verschanzen hinter der Moral. Ní Gudix versucht Hans Fallada die Größe zurückzugeben, die er verdient hat.

→ Wir begreifen die Gattung des Essays auf KUNO als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen.