Lyrische Novelle 18

 

Nachher wurde ich krank. Eigentlich hatte ich das Schlimmste schon überstanden, als ich bei Irmgard schlief. Ich schlief zwölf Stunden hintereinander, dann kam ein Mädchen und brachte mir zu essen, und ich dachte, es sei Frühstück, aber es war schon fünf Uhr abends. Ich wollte aufstehen, da drehte sich alles um mich, und ich hatte keine Kraft in den Gliedern. Irmgard kam herein und führte ihr kleines Mädchen an der Hand. Ich legte mich wieder hin und ass, und die Kleine sah mir zu. Ich liebte Irmgard sehr und sah von Zeit zu Zeit zu ihr hinüber, aber sie beschäftigte sich mit dem Kind. Später badete ich und zog mich an, ich fühlte mich besser und fand es unnötig, dass Irmgard einen Chauffeur bestellt hatte, um mich in meinem Wagen nach Hause zu bringen.

Es war ziemlich kalt gewesen, und der Wagen lief nicht an. Wir versuchten es lange, aber dann musste ich doch ein Taxi nehmen. Der Chauffeur versprach mir, meinen Wagen vorsichtig zu behandeln und in die Garage zu bringen. Um neun Uhr brachte er mir die Schlüssel, und gleich darauf telephonierte Irmgard und wünschte mir gute Nacht. Ich war schon im Bett und wusste genau, dass ich jetzt liegen bleiben und krank sein würde, und ich war sehr zufrieden. Das Dienstmädchen kam mit der Post, und ich erzählte ihr irgend etwas, um ihr zu erklären, warum ich nicht zu Hause geschlafen hatte. Es war für mich telephoniert worden, aber ich interessierte mich nicht dafür. Ich hatte kein Fieber, sondern Untertemperatur und Kopfschmerzen und Schwindel, und wenn ich ganz still lag, ging es mir gut. Irmgard besuchte mich am nächsten Tag, und am Abend kam sie wieder. Sie küsste mich immer und sass die ganze Zeit so nah von mir, dass ich sie mit der Hand erreichen konnte.

Am dritten oder vierten Tag kam Willy. Er sah ordentlich aus und sagte dem Portier, dass er eine Bestellung machen müsse. Ich erschrak sehr, als er an die Tür klopfte, obwohl ich nicht wissen konnte, wer es war.

»Guten Tag, Willy«, sagte ich.

Er setzte sich und hatte eine Flasche Wermut unter dem Arm. Es war nicht Cinzano oder Cora, sondern eine besondere Marke, die Sibylle immer für sich bestellte.

Wir tranken, und Willy erzählte mir, dass er nicht mehr bei den Wagen aufpassen wolle. Er würde einen Beruf lernen, sagte er. Ich sagte: »Wenn ich meinem Vater schreibe, bekomme ich vielleicht ein wenig Geld für dich, dann kannst du dich richtig ausbilden.« Aber er schüttelte den Kopf, und ich sah, dass ich ihn beleidigt hatte.

»Wie geht es Sibylle?« fragte ich. Ich hatte ihre Photographie neben mein Bett gestellt, und Willy sah sie unentwegt an.

»Vor drei Tagen hatte sie Streit«, sagte er. »Das kann sie nicht vertragen.«

»Vor drei Tagen habe ich sie selbst nach Hause gebracht«, sagte ich und rechnete nach.

»Ja«, sagte er. »Nachher traf ich sie in der Chauffeurkneipe – sie hatte Hunger.«

»Und dann?«

»Sie schickte mich weg. Sie hatte Streit mit dem Chauffeur. Ich wartete auf der Strasse bis sieben Uhr. Dann fuhr uns der Chauffeur nach Hause.«

»Was sagte sie dir?«

»Nichts. Sie sagt nie etwas. Aber sie weinte, als sie auf die Strasse hinauskam.«

Ich richtete mich im Bett auf.

»Sie hat geweint?« fragte ich.

Willy nickte und goss Wermut in mein Glas.

»Trink schon«, sagte er. Er hatte anscheinend Mitleid mit mir.

»Aber du hättest merken müssen, dass sie in dieser Nacht nicht allein sein wollte. Ich merke es ihr immer an. Dann bleibe ich, auch wenn sie mich wegschickt.«

»Sie hat mich nicht weggeschickt«, sagte ich. »Ich war zu müde.«

Willy sagte darauf nichts mehr.

Es war ungefähr zehn Uhr abends, als er ging. Ich schlief früh ein und wachte in der Nacht gegen zwei Uhr wieder auf. Ich hatte von Sibylle geträumt. Ich zog mich an, es war sehr unangenehm, und ich weinte beinahe vor Anstrengung. In der Garage war es sehr warm und beklemmend, man hatte meinen Wagen gewaschen, und als ich Licht machte, spiegelte der dunkle Lack.

Ich fuhr zum Walltheater, stellte den Wagen in die Seitenstrasse und ging hinein. Der Portier grüsste. Ich ging zu meinem Tisch und sah Sibylle schon von weitem. Es war furchtbar, die Knie wankten mir, und alle Leute sahen mich erstaunt an. Nur Sibylle nicht. Sie gab mir die Hand und sagte: »Da bist du ja«, mit einer ganz trockenen, fernen, warmen Stimme.

»Ich war krank«, sagte ich.

Sie legte ihre Hand auf meine.

Als ich Whisky bestellte, sagte sie:

»Dreh dich nicht um. Herr von Niehoff sitzt hinter uns.«

Die Bühne war schon dunkel, die Gäste gingen fort. Der Chef kam an unseren Tisch, begrüsste mich und klopfte Sibylle auf die Schulter.

»Ich habe etwas für Sie«, sagte er und zog Photographien aus der Tasche. Sibylle, hinter einem blassen Schleier, die Züge unwirklich entrückt, und die Augen schimmerten aus grosser Tiefe wie blasse Blumen.

»Heute darfst du mich nicht nach Hause bringen«, sagte sie.

Wir standen neben meinem Wagen, und Willy hielt die Tür offen. Sibylle nahm mich an den Schultern, drehte mich langsam um und sah mich ununterbrochen forschend an. Dann beugte sie meinen Kopf ein wenig und presste ihre Stirn, ihre Schläfen, ihre Wangen, ihr Kinn fest und liebkosend gegen mein Gesicht.

Ich kam um vier Uhr morgens völlig erschöpft in mein Zimmer.

Erik sass am Schreibtisch.

»Frau von Niehoff hat angerufen«, sagte er. »Sie sagte mir, dass du krank bist.«

»Es geht besser«, sagte ich.

»Ich möchte dich etwas fragen«, sagte er. »Aber ich werde sehr indiskret sein müssen.«

»Bitte«, sagte ich.

»Wie stehst du mit Sibylle? Wie denkst du, dass ich mit ihr stehe? Wir sind doch vernünftige Menschen.«

»Ich weiss nicht«, sagte ich, und plötzlich, als ich Erik ansah, begriff ich etwas und sagte: »Du bist weitergekommen als ich. Du kennst sie länger und dich hat sie geliebt. Mich liebt sie nicht.«

»Das weisst du also«, sagte er beinahe streng.

»Wenn es nötig für mich wäre, würde sie mit mir auch schlafen«, sagte ich und war sehr verletzt. Wir waren ganz verfeindet.

»Du lügst ja«, sagte Erik. »Armer Junge. Irmgard von Niehoff sagt, dir sei nicht zu helfen. Man müsste dich einfach mitnehmen, und dafür hat sie keine Zeit.«

»Sie haben nie Zeit, wenn es nötig ist.«

»Verstehst du, es steht dir nicht, einer Varietésängerin hörig zu sein«, sagte Erik. »Es ist schlechter Stil. Es verdirbt dich. Mein Gott, ich will dir keine Vorwürfe machen, aber du bist doch so verwöhnt, du könntest es herrlich haben.«

»Sibylle sagt aber, ich solle einmal lernen, dass es Wichtigeres gibt als den guten Ruf. Ich solle nicht verwöhnt sein. Sie meint, es sei schade um mich.«

»Was will sie denn aus dir machen? Ja, bei Gott, es ist schade um dich. Siehst du denn nicht ein, dass man Sibylle nicht helfen kann?«

»Wenn man sich für sie einsetzen würde . . .«, sagte ich. »Vielleicht hat sie einen Menschen nötig.«

Erik antwortete darauf:

»Wir haben alle einen Menschen nötig.«

Er ging weg, und entsetzliche Trostlosigkeit überfiel mich. Auf dem Schreibtisch lag ein Brief, es war eine Einladung für einen Empfang beim englischen Gesandten, und Magnus hatte dazu geschrieben, man habe ihn nach meiner Adresse gefragt. Ich hatte also wohl frühere Einladungen unbeantwortet gelassen. Er schrieb, ich müsse unbedingt an diesen Empfang gehen, es sei sicher die letzte Möglichkeit für mich.

Ich ging im Zimmer umher und stellte mir vor, dass ich einen Frack anziehen müsse, dass ich tausend Bekannten begegnen würde, und die Vorstellung war mir unerträglich. Dann rief ich Sibylle an, und ihre warme, vom Schlaf ganz befangene Stimme beruhigte mich.

»Du sollst doch schlafen«, sagte sie. Ihre Stimme war kaum hörbar.

»Ich werde schlafen«, sagte ich.

»Du brauchst nicht traurig zu sein«, sagte Sibylle. »Ich bin ja da. Ich weiss, wann du mich nötig hast. Ich bin da. Alles ist gut.«

Ihre Stimme war weg.

Vielleicht war sie eingeschlafen.

Ich zog mich aus und war beinahe froh.

Dann verkrampfte sich etwas in mir, ich konnte nicht schlafen, und es schüttelte mich von Zeit zu Zeit. »Ich werde nicht mehr in das Walltheater gehen«, dachte ich. »Ich werde nicht mehr trinken. Aber das wird mir gar nichts helfen. Sibylle wird einfach denken, dass ich ebenso bin wie alle anderen und dass ich auch versagt habe. Sie wird denken, dass ich es mir leicht mache und Angst habe, meine Karriere zu gefährden. Und es ist wahr, und sie ist stärker als ich. Ich habe nur die Wahl, auszuhalten oder sie zu verlieren.«

Dann schlief ich ein. Ich erinnere mich genau an den Traum, den ich hatte. Ich träumte von Sibylle. Plötzlich sah ich ihr Gesicht, es war erstaunlich nahe, jemand hämmerte mir ihre Gegenwart ein, jemand hielt mein Herz und sagte Sibylles Namen so, dass es aufhörte zu schlagen, jemand erhellte für Sekunden mein Gehirn, befreite es von jedem Gedanken und lehrte es, Sibylle zu begreifen. Meine Nerven erbebten wie gespannte Saiten unter der Berührung.

Mein nüchterner Körper wurde davon erschüttert und ergriff bereitwillig Sibylles zärtliche Anschmiegung.

Die Sekunde ging vorüber, auch diese Sekunde ging vorüber, Sibylle presste mit einem unvergleichlichen Lächeln ihr Gesicht gegen meinen Hals, ich sah erbleichend ihre geschminkten, wissenden und mattschimmernden Augen.

Erbleichend, sage ich, denn im nächsten Augenblick empfing ich den Stoss des Erwachens, es war sehr schwer, jedes Gefühl wich von mir ausser dem eines unerträglichen Schmerzes in der Herzgegend, ich lag plötzlich nach vorne geworfen, fassungslos über meinen geballten Händen.

 

 

 

***

Lyrische Novelle, von Annemarie Schwarzenbach, Erstdruck: Berlin, Rowohlt 1933

Annemarie Schwarzenbach: Selbstporträt mit ihrer zweiäugigen Rolleiflex Standard 621-Kamera (entstanden in den 1930er Jahren)

Die im Frühling 1933 erstmals erschienene Lyrische Novelle stand im Schatten von Hitlers kurz zuvor erfolgter Machtergreifung. Die Aufnahme und Verbreitung des Buches wurde dadurch stark erschwert. Aber schon damals rühmte die Kritik die Musikalität und moderne Sachlichkeit der Sprache. Noch stärker als in jener Zeit zieht der Text heute eine besondere Aufmerksamkeit auf sich: als eine frühe literarische Darstellung von lesbischer Liebe. Das Buch erzählt zwar von der unglücklichen Liebe eines Mannes zu einer Frau. Doch die Autorin bekannte nach der Veröffentlichung: Zum besseren Verständnis der Geschichte „hätte man eingestehen müssen“, dass der Held „kein Jüngling, sondern ein Mädchen“ sei.

Weiterführend →

In 2022 widmet sich KUNO der Kunstform Novelle. Diese Gattung lebt von der Schilderung der Realität im Bruchstück.