Mein Sarg

 

Nach dem Aufwachen am nächsten Morgen erzählte ich meiner Liebe: „Mein Cousin baute für seine Mutter, als sie gestorben war, selber den Sarg.“ Stella fand das merkwürdig und schön. Ich sagte: „Wenn ich sterbe, dann bau aus dem Holz meines Schreibtischs einen Sarg für mich.“ Sie lehnte sich an mich, und ich dachte, sie lacht, als sie sich an mich klammerte und zuckte. Bis ich merkte, sie weint. Ich sagte: „Das war doch nur ein Scherz.“ Sie schluchzte. „Hab ich dich verletzt?“ „Nein“, sagte sie, „ich habe mir vorgestellt, wie du in deinem Schreibtisch …“ Sie weinte und hielt mich noch fester. „Vergessen wir den Schreibtisch“, sagte ich. „Nein“, sagte sie, „er ist doch deine Wohnung.“

Grazie. Ich stelle mir Stella vor. Wie sie ins Eiscafé geht und die Welt testet. Wie sie wirkt. Sie setzt sich an einen Tisch in der Mitte des Raums und schaut durch die Sonnenbrille. Sie schlägt die Beine übereinander und blättert in der Brigitte. Männer lachen und drehen sich um zu ihr, stellen sich vor, wie sie ohne ihre Sonnenbrille aussieht. Ich setze die Brille ab. Nein. Noch nicht. Sie sollen sich vorstellen, wie ich aussehe. Ich sehe gut aus, das weiß ich. Aber ich will ein Geheimnis sein. Die Eisdiele ist überfüllt. Ich weiß, was ich will. Auch am Nebentisch sitzen Beine. So lange Beine habe ich nicht, denkt sie. – Signorina? – Sie bestellt  Espresso und Cassata. Ich liebe halbgefrorenes Eis! Sie denkt ans Kino gestern, den Film, den Kuss, die Wärme in ihr. Endlich schaut er mich an! Mit der Sonnenbrille ist es einfacher. Die Blicke sind mein Spielzeug. Ich stelle mir vor, der Mann kommt zu mir, spricht mich an. Sie lacht. Aber mehr innerlich. Gleich steht er auf … Ich bin ein Mädchen wie jedes andere Mädchen. Nein. Ich höre seinen Schritt auf den Steinplatten. Doch. Ich werde von allen Seiten beobachtet. Sie rutscht auf dem Stuhl etwas höher, die Beine werden länger. Der hält es nicht mehr lange aus, schon wird er unruhig auf seinem Stuhl, ich spüre das. Es ist schön, wenn jetzt eine Katastrophe geschieht. Er schaut zu mir. Katastrophe, mein Lieblingswort. Jetzt steht er auf. Sie nimmt die Brille von der Nase und schließt die Augen. Ohne Katastrophe ist alles so … langweilig … Ich hebe ganz langsam den Kopf, so langsam, dass ich zu ihm aufschaue, wenn er vor mir steht. Sie spürt, wie ihr Blut schlägt. Meine Augen! Ich kann sie nicht öffnen! Verdammt, ich sehe nichts! Sie fühlt seinen Schatten. Dann reißt sie die Augen auf – und sieht durch ihn hindurch, das Blut rauscht, es wird dunkel. – Prego!

 

 

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Gionos Lächeln, ein Fortsetzungsroman von Ulrich Bergmann, KUNO 2022

Vieles bleibt in Gionos Lächeln offen und in der Schwebe, Lücken tun sich auf und Leerstellen, man mag darin einen lyrischen Gestus erkennen. Das Alltägliche wird bei Ulrich Bergmann zum poetischen Ereignis, immer wieder gibt es Passagen, die das Wiederlesen und Nochmallesen lohnen. Poesie ist gerade dann, wenn man sie als Sprache der Wirklichkeit ernst nimmt, kein animistisches, vitalistisches Medium, sondern eine Verlebendigungsmaschine.

Weiterführend →

Eine liebevoll spöttische Einführung zu Gionos Lächeln von Holger Benkel. Er schreib auch zu den Arthurgeschichten von Ulrich Bergmann einen Rezensionsessay. – Eine Einführung in Schlangegeschichten finden Sie hier.