Der fünfte Oktober

 

Am 5. Oktober sollten die Brotkarren aus der Provence nach Paris kommen. Der Stadtrat hatte es an allen Straßenecken in seinen großen roten Lettern anschlagen lassen. Und das Volk trieb sich den ganzen Tag vor ihnen herum wie vor den Toren einer neuen und ungeheuren Offenbarung. Ausgehungert bis in die Knochen träumte es da von Paradiesen der Sättigung, ungeheuren Weizenfladen, weißen Mehlpasteten, die in allen Garküchen prasseln würden.

Alle Schlote sollen rauchen. Man wird die Bäcker an die Laternen hängen, man wird selber braten, man wird seinen Arm bis über die Ellenbogen in Mehl tauchen. Das weiße Zeug wird die Straßen wie ein fruchtbarer Schnee überziehen, der Wind wird es vor der Sonne hintreiben wie eine dicke Wolke.

Auf allen Straßen werden große Tische aufgestellt werden, Paris wird ein großes, gemeinsames Mahl abhalten, einen gewaltigen Sabbat.

Die Menschen drängten sich vor den verschlossenen Kellern der Bäckereien und schielten herab auf die leeren Backtröge, die hinter den Gitterfenstern standen, sie sahen vergnügt auf die schwarzen Mäuler der riesigen Backöfen, die ohne Feuer standen und, wie sie, nach Brot hungerten.

An einer Straße eines Viertels am Mont Parnasse wurde eine Bäckerei erbrochen, mehr aus langer Weile, um sich die Zeit zu vertreiben, als aus der Hoffnung, in den Kästen noch Brot zu finden.

Drei Mann, Kohlenträger aus St. Antoine, brachten den Bäcker heraus. Sie warfen ihm seine weiße Perücke hinunter und stellten ihn unter die verbogene Lampe seiner Tür. Der eine riß seinen Hosenbund ab, drehte eine Schlinge und warf sie dem Bäcker um den Hals. Dann hielt er ihm seine schwarze Faust unter das Gesicht und schrie ihn an: »Du verfluchter Mehlwurm, jetzt werden wir dich aufhängen.«

Der Bäcker fing an zu jammern, und sah sich unter den Umstehenden nach Beistand um. Aber er sah nur lauter grinsende Gesichter.

Der Schuster Jacobus trat vor und sagte zu den Vorstädtern: »Meine Herren, wir wollen das Schwein laufen lassen, aber er muß mir erst ein Gebet nachsprechen.«

»Ja, ein Gebet nachsprechen«, wimmerte der Bäcker. »Lassen Sie mich ein Gebet nachsprechen.«

Jacobus fing an: »Ich bin der verfluchte Saubäcker.«

Der Bäcker sprach nach: »Ich bin der verfluchte Saubäcker.«

Jacobus: »Ich bin der schwarze Mehljude, ich stinke auf tausend Meter.«

Der Bäcker: »Ich bin der schwarze Mehljude, ich stinke auf tausend Meter.«

Jacobus: »Ich bete alle Tage zu den vierzehn Nothelfern, daß niemand merken soll, was ich alles in das Brot tue.«

Der Bäcker wiederholte auch das.

Das Publikum wieherte. Eine alte Frau setzte sich auf die Treppenstufen und gackerte vor Lachen wie eine alte Henne beim Eierlegen.

Jacobus konnte selber vor Lachen nicht mehr weiter.

Eine Weile ging dieses komische Anathema noch fort, zuletzt wurde die erbärmliche Gestalt den Leuten zu langweilig. Man ließ ihn stehen mit seinem Strick um den Hals.

Es begann stark zu regnen, die Leute traten unter die Dächer. Der Bäcker war fort. Nur seine weiße Perücke lag noch mitten auf dem Platze und begann, sich im Regen aufzulösen. Ein Hund nahm sie in das Maul und schleppte sie fort.

Allmählich ließ der Regen nach, und die Menschen traten wieder auf die Straße. Der Hunger begann sie wieder zu beißen. Ein Kind fiel in Krämpfe, die Umstehenden sahen zu und gaben gute Ratschläge.

Auf einmal hieß es: »Die Brotkarren sind da! Die Brotkarren sind da!« Die ganze Straße hinab lief das Geschrei. Und die ganze Straße begann, sich aus den Toren hinauszudrängen. Sie kamen an das Land, in die kahlen Felder, sie sahen einen verlassenen Himmel und die lange Reihe von Pappelbäumen der Chaussee, die hinten in dem armseligen Horizont der Ebenen untertauchten. Ein Stoß Raben flog über sie vor dem Winde her, den Städten zu.

Die Menschenströme gossen sich in die Felder. Manche hatten leere Säcke auf den Schultern, andere Fleischermollen, Kessel, um das Brot fortzubringen.

Und sie warteten auf die Karren, den Rand des Himmels durchforschend, wie ein Volk Astronome, das nach einem neuen Gestirn sucht.

Sie harrten und harrten, aber sie sahen nichts als den Wolkenhimmel und den Sturm, der die hohen Bäume hin- und herbog.

Von einer Kirche schlug es in die stummen Massen langsam die Mittagsstunde. Da begannen sie, sich zu besinnen, daß sie sonst um diese Zeit um volle Tische gesessen hatten, auf deren Mitte wie ein dicker König ein weißer Laib Brotes geprangt hatte. Und das Wort »Pain« zwang sich mit seiner ganzen Weiße, seiner Fette, in das Gehirn der Masse, und lag darin wie ein Stein in der Sonne, riesig, groß, knusprig, zum Anschneiden. Sie schlossen die Augenlider, und sie fühlten den Saft des Weizens über ihre Hände tröpfeln. Sie fühlten die Wärme, die heilige Wolke der Backöfen, eine rosige Flamme, die die weißen Brotlaibe röstete und schwärzte.

Und ihre Hände zitterten vor Verlangen nach dem Mehl. Sie fröstelten vor Hunger, und ihre Zungen begannen im leeren Munde zu kauen, sie begannen die Luft zu schlucken, und ihre Zähne schlugen willenlos aufeinander, als zermalmten sie die weißen Bissen.

Manchen hingen ihre Sacktücher aus dem Munde, und ihre großen Zähne kauten darauf herum, langsam wie Maschinen. Sie hatten ihr eingefallenes Auge geschlossen und wiegten ihre Köpfe über ihren Zulp im Takte einer geheimnisvollen, quälerischen Musik.

Andere saßen auf den Prellsteinen an der Straße und weinten vor Hunger, während sich um ihre Knie große magere Hunde herumtrieben, denen die Knochen fast durch das Fell stachen.

Eine schreckliche Müdigkeit befiel die regungslosen Massen, eine ungeheure Apathie fiel lähmend wie eine dicke Decke auf ihre weißen Gesichter.

Ach, sie hatten keinen Willen mehr. Der Hunger begann ihn langsam zu ersticken und sie in einem schrecklichen Schlaf und der Marter seiner Träume zu entmannen.

Weit um sie herum lief die Ebene Frankreichs herab, verzäumt von gespenstigen Mühlen, die rings um den Horizont standen wie Türme oder riesige Gottheiten des Kornes, die mit den Armen ihrer großen Flügel Mehlwolken aufstäubten, als dampfe Weihrauch um ihre großen Häupter.

Ungeheure Tafeln standen am Rande Frankreichs, die unter der Last der großen Schüsseln zu schwanken begannen. Man winkte sie her. Aber sie waren auf große Folterbetten gebunden, und ihr Blut hatte das furchtbare Opium des Hungers betäubt und in schwarze Schlacke erstarrt. Sie wollten schreien: »Brot, Brot, nur einen Bissen, Erbarmen, Barmherzigkeit, nur einen Bissen, lieber Gott.« Aber sie konnten ihre Lippen nicht aufmachen, schrecklich, sie waren stumm. Schrecklich, sie konnten kein Glied rühren, sie waren gelähmt.

Und die schwarzen Träume flatterten über die Haufen, die zu Klumpen geballt beieinander standen und lagen wie ein Heer, verurteilt zum ewigen Tode, geschlagen mit ewiger Stummheit, verflucht, wieder in den Bauch von Paris unterzutauchen, zu leiden, zu hungern, geboren zu werden und zu sterben in einem Meer der schwarzen Finsternis, der Fronden, des Hungers und der Sklaverei, erdrückt von blutgierigen Steuerpächtern, ausgemergelt von der ewigen Auszehrung, entnervt von dem ewigen Rauch der Gassen, und wie ein altes Pergament verwelkt von der heizenden Luft ihrer niedrigen Höhlen, verdammt, einst zu erstarren im Schmutze ihrer Betten und in einem letzten Seufzer den Priester zu verfluchen, der gekommen war im Namen seines Gottes, im Namen des Staates und der Autorität, ihnen zum Dank für die Geduld ihres elenden Lebens die letzten Groschen zu Kirchenvermächtnissen abzupressen.

Niemals schien eine Sonne in ihre Gräber. Was kannten sie von ihr in ihren gräßlichen Löchern? Sie sahen sie manchmal mittags über die Stadt hinschweben, betäubt von ihrem Qualm, in dicke Wolken gehüllt, eine Stunde oder zwei. Und dann verschwand sie. Die Schatten kamen wieder unter den Häusern hervor und krochen an ihnen hoch, schwarze Polypen der Gasse mit ihrer kalten Umarmung.

Wie oft hatten sie an den Gärten der Grenadiere auf die weiten sonnigen Wiesen geschaut. Und sie hatten die Tänze der Hofdamen angeglotzt, die Hirtenstöcke der goldbetreßten Kavaliere, die Bücklinge der Mohren, die Tabletten voll Orangen, Biskuits, Konfekt, die goldene Karosse, in der die Königin langsam durch den Park fuhr wie eine syrische Göttin, eine ungeheure Astarte, starrend von weißer Seide und glitzernd wie eine Heilige von tausend Perlen.

O, wie oft hatten sie von dem Duft, der Würze des Moschus getrunken, wie oft waren sei beinahe erstickt von den Wohlgerüchen des Ambra, die aus dem Park des Luxembourg zogen wie aus einem geheimnisvollen Tempel. O, man hätte sie doch einmal hereinlassen können, einmal auf einem solchen Samtstuhl zu sitzen, einmal in einem solchen Wagen zu fahren. Sie hätten mit Vergnügen die ganze Nationalversammlung totgeschlagen, sie hätten dem König die Füße geküßt, wenn er sie einmal für eine Stunde ihren Hunger und die kahlen Felder verzweifelter Ernten hätte vergessen machen.

Und sie zerpreßten sich ihre Nasen an den Eisenstäben der Gitter, sie steckten ihre Hände hindurch, Scharen von Bettlern, Herden von Ausgestoßenen und Wimmernden. Und ihr schrecklicher Geruch zog in den Park wie eine Wolke düsteren Abendrotes, das einem schrecklichen Morgen voraufgeht. Sie hatten sich an das Gitter gehängt wie gräßliche Spinnen, und ihre Augen waren weit in den Park hinausgewandert, in seine abendlichen Wiesen, seine Hecken, seine Lorbeergänge, seine Marmorfiguren, die von ihrem Postament herab ihnen ihr süßliches Lächeln zukehrten. Kleine Liebesgötter, Putten, dick wie gemästete Gänse, mit Armen, die weißen ausgestopften Würsten glichen, zielten nach ihrem aufgerissenen Mund ihre Liebespfeile und winkten ihnen mit dem steinernen Köcher, während auf ihre Schultern wie ein Klotz die Arme der Gerichtsvollzieher fielen, die gekommen waren, sie in die Schuldtürme zu werfen.

Die Schläfer stöhnten, und die Wachenden beneideten sie um ihren Schlaf.

Sie sahen vor sich hin, voraus, die Straße hinab nach den Brotkarren, die ausgestorbene Straße, die die Schrecken der Revolution verödet hatten und die wie ein toter Darm keine Zufuhren mehr in den Bauch Frankreichs hineinwarf. Sie war weiß und lief endlos in einen tauben Himmel, der, fett wie ein Pfaffengesicht, feist wie eine Bischofsbacke und ohne Runzeln wie ein gemästeter Bettelmönch, seine fahle Stirn am Horizont zeigte. Er war friedlich wie eine Dorfmesse, er war von kleinen, grauen Nachmittagswolken sanft eingerahmt wie ein alter Abbé, der nach dem Mittagessen in seiner Sakristei, im Lehnstuhl sanft versargt, schlummert, während ihm die Locken seiner Perücke in die Stirn fallen.

Die Lumpen der Menschenherden verbreiteten einen entsetzlichen Gestank. Ihre schmutzigen Halsbinden flatterten um ihre grauen Gesichter. Ersticktes Weinen verflog durch das entsetzliche Schweigen. Soweit man sah, stachen ihre durchlöcherten Dreispitze in die Luft, auf denen manchmal schmutzige Straußfedern tanzten. Die zerstreuten schwarzen Figuren der Massen glichen den erstarrten Pas eines düsteren Menuetts, einem Tanze des Todes, den er mit einem Male hinter sich hatte erstarren lassen, verwandelt in einen riesigen, schwarzen Steinhaufen, gebannt und erfroren von den Qualen, Säulen des Schweigens. Unzählige Lots, die die Flamme eines höllischen Gomorra in ewige Starre geschmolzen hatte.

Hoch über ihnen in dem kalten Oktoberhimmel ging der eiserne Pflug der Zeit, der seine Felder ackerte mit Kummer, besäte mit Not, auf daß daraus eines Tages die Flamme der Rache aufginge, auf daß eines Tages die Arme dieser Tausende leicht würden, beschwingt und fröhlich wie leichte Tauben beim Schnitterdienste der Guillotinenmesser, auf daß eines Tages sie wie Götter der Zukunft unter den Himmel treten könnten, barhäuptig, in dem ewigen Pfingsten einer unendlichen Morgenröte.

Aus dem weißlichen Himmel am fernen Ende der Landstraße löste sich ein schwarzer Punkt.

Die Vordersten sahen ihn, sie machten einander aufmerksam. Die Schläfer erwachten und sprangen auf. Alle sahen die Straße hinab. War dieser schwarze Punkt das Mekka ihrer Hoffnung, war das ihre Erlösung?

Für einige Augenblicke glaubten sie alle daran, sie zwangen sich, daran zu glauben.

Aber der Punkt wuchs zu schnell. Jetzt sahen es alle, das war nicht der langsame Zug vieler Karren, das war keine Mehlkarawane. Und die Hoffnung verlor sich im Winde und verließ ihre Stirnen.

Aber was war das? Wer ritt so toll? Wer hatte in dieser toten Zeit einen Grund, so zu reiten?

Ein paar Männer kletterten auf die dicken Weiden und spähten über die Köpfe der Massen.

Jetzt sahen sie ihn und schrien seinen Namen herab. Es war Maillard. Maillard von der Bastille. Maillard vom 14. Juli.

Und da kam er heran, mitten unter die Volkshaufen. Er hielt an, und dann bekam er nur ein Wort heraus. »Verrat!« schrie er.

Da brach der Orkan los. »Verrat, Verrat!« Einige zehn Mann faßten ihn an und hoben ihn auf ihre Schultern. Er stand oben, mit der einen Hand sich an einen Baum stützend, ohnmächtig vor Anstrengung, fast blind vom Schweiß, der ihm aus seinem schwarzen Haar um die Augen lief.

Maillard will reden, hieß es. Da trat eine furchtbare Ruhe ein. Alle warteten, warteten mit dem furchtbaren Warten der Massen vor dem Aufruhr, in den furchtbaren Sekunden, in denen die Zukunft Frankreichs gewogen ward, bis die Schale voll Fesseln, Kerkern, Kreuzen, Bibeln, Rosenkränzen, Kronen, Zeptern, Reichsäpfeln, gebettet in die falsche Sanftmut bourbonischer Lilien, voll hohler Worte, Versprechungen, Tafeln voll königlicher Eidbrüche, ungerechter Urteile, harmloser Privilegien, dieser ungeheure Berg alles dessen, mit dem die Jahrtausende Europa betrogen hatten, langsam zu sinken begann.

Maillard schwang sich in den Baum herauf.

Aus seiner kahlen Kanzel herab warf er seine furchtbaren Worte über die Menschen dahin, über die kahlen Felder, die düsteren Wälle, die schwarzen Zugbrücken, überladen von Menschen, in die Tunnels der Tore, über die Dächer von Paris, in die Höfe und Gäßchen der düsteren Faubourgs, in alle die Burgen des Elends weit hinaus, wo unter der Erde in den Kanälen bei den Quartieren der Ratten noch ein verdammtes Ohr war, das seine Worte vernahm.

»An die Nation! Ihr Armen, ihr Verfluchten, ihr Ausgestoßenen! Man verrät euch. Man preßt euch aus. Ihr werdet bald nackt herumlaufen, auf den Treppen werdet ihr sterben, und aus euren starren Händen werden die Steuerpächter, die Schergen des Capets, Bluthunde des Bluthundes, Spinnen der Spinne, eure letzten Groschen reißen.

Wir sind verlassen, wir sind verstoßen, und es geht mit uns zu Ende. Sie werden uns bald den letzten Rock vom Leibe reißen. Aus unseren Hemden werden sie uns Stricke drehen. Wir werden mit unserem Leibe die kotigen Straßen pflastern, damit die Wagen der Henker trocken darüber fahren. Warum sollten wir auch nicht sterben? Denn wir verpesten mit unsern Leibern die Luft, wir stinken, man faßt uns nicht an, nicht wahr? Warum sollten wir nicht sterben? Was können wir auch tun? Wir können uns ja nicht wehren? Wir sind mürbe gemacht, wir sind stumm gemacht.

Man hat künstliche Teuerungen erzielt, man hat uns ausgehungert, der Hunger hat uns tot gemacht.«

Jedes Wort fiel wie ein schwerer Stein in das Volk. Bei jeder Silbe warf er seine Arme nach vorn, als wollte er mit dem Bombardement seiner Worte den Horizont selber ins Wanken bringen.

»Wißt ihr, was diese Nacht geschehen ist?

Die Königin –«

»Ha, die Königin«, und die Massen wurden noch stiller, als sie den verhaßten Namen hörten.

»Die Königin, wißt ihr, was die alte Hure getan hat? Drei Regimenter Dragoner hat sie nach Versailles kommen lassen. Die liegen in allen Häusern, und die Leute der Versammlung wagen kaum noch zu reden. Mirabeau ist klein geworden wie ein Zwerg, und die anderen alle können sich kaum noch zu einem dürftigen Räuspern aufschwingen. Es ist eine Schande, das zu sehen. Wofür haben sie im Ballhause geschworen, diese Komödianten der Freiheit? Wofür habt ihr euer Blut bei der Bastille gelassen? Es war alles umsonst, hört ihr, umsonst.

Ihr müßt wieder in eure Höhlen kriechen, die Freiheitsfackel ist ein kleines Nachtlicht geworden, eine kleine Tranfunzel. Gut genug, um euch wieder in eure Löcher zu leuchten.

In drei Tagen wird Broglie mit seinen Truppen hier sein. Die Versammlung wird nach Hause geschickt, die Folter wird wieder aufgerichtet. Die Bastille wird wieder aufgebaut. Die Abgaben werden wieder gezahlt. Alle Kerker sperren schon ihre Mäuler auf.

Euer Hunger wird nicht gestillt werden, verzweifelt getrost. Der König hat die Brotkarren noch vor Orleans anhalten lassen und sie wieder nach Hause geschickt.«

Seine Worte gingen unter in dem Schrei der Wut. Ein ungeheurer Sturm geballter Fäuste schüttelte sich in der Luft. Die Massen begannen zu schwanken, wie ein ungeheurer Malstrom, rund um seinen Baum.

Und der Baum ragte heraus aus dem Meere der Schreie, aus den kreisenden Flüchen der verzerrten Gesichter, aus dem Echo des Zornes, das wie ein schwarzer, riesiger Wirbelwind vom Himmel zurückkam und ihn im Kreise zu erschüttern begann, daß er dröhnte wie der Klöppel einer ehernen Glocke.

Der Baum ragte heraus wie von düsteren Flammen angezündet, eine kalte Lohe, die ein Dämon aus dem Abgrund hatte aufschießen lassen.

Hoch oben in seinem fahlen Geäst hing Maillard wie ein riesiger schwarzer Vogel und warf seine Arme im Kreise hin und her, als wollte er sich zum Fluge über die Menschenmassen anschicken in den Abend hinaus, ein Dämon der Verzweiflung, ein schwarzer Belial, der Gott der Masse, der düstres Feuer aus seinen Händen warf.

Aber in seiner Stirn, die das dunkle Licht wie mit überirdischer Weiße übergoß, spiegelte ein goldener Strahl, der durch die Wolken kam, hoch über dem Chaos aus dem Zenit des Himmels.

Nur ein kleiner Streifen am Westhimmel war hell geworden, dort war der Himmel über die Felder gespannt wie ein Teppich von seidener Bläue, der noch von den Erinnerungen eines verschwiegenen Schäferspiels träumte.

Aus dem Toben der Massen heraus schallte plötzlich zweimal von einer lauten Stimme gerufen im Paroxismus eines geltenden Diskantes der Ruf: »Nach Versailles, nach Versailles!« Es war, als hätte es die riesige Masse selber gerufen, als hätte ein Wille das ausgesprochen, was in den Tausenden der Köpfe sich wälzte. Da war ein Ziel. Das war kein Chaos mehr, die Menschenmassen waren mit einem Schlage ein furchtbares Heer. Wie ein riesiger Magnet riß der Westhimmel ihre Köpfe herum, wo Versailles ihrer harrte. Diese Straße würden sie jetzt gehen, sie würden nicht mehr warten. Die Kräfte, die der Sturm der Verzweiflung in ihnen aufgewühlt hatte, hatten einen Willen, einen Weg. Der Damm war gebrochen.

Die ersten Reihen setzten sich spontan in Marsch. In Reihen zu vieren, zu fünfen, so weit die Breite der Straße es erlaubte.

Maillard sah das. Er kletterte, so schnell er konnte, von seinem Baum herab, rief drei Mann, die er kannte, zu sich und rannte mit ihnen über die Felder an den Massen entlang, bis er ihre Spitze erreichte. Da stellte er sich mit seinen Leuten dem Strome entgegen und versuchte, auf sie einzureden, sie sollten einen Führer wählen, Waffen holen. Aber er wurde nicht gehört. Jetzt war seine Stimme wie die eines jeden anderen, der diese eisernen Bataillone hätte aufhalten wollen. Die Massen stießen ihn zur Seite, sie überschwemmten die kleine Mauer der vier Mann und rissen Maillard und seine Leute mit sich die Straße hinab.

Ein unsichtbarer Führer führte sie, eine unsichtbare Fahne wehte vor ihnen her, ein riesiges Panier wallte im Winde, das ein ungeheurer Fahnenträger vor ihnen hertrug. Ein blutrotes Banner war entfaltet. Eine gewaltige Oriflamme der Freiheit, die mit einem purpurnen Fahnentuche im Abendhimmel ihnen vorausflackerte wie eine Morgenröte.

Sie alle waren unzählige Brüder geworden, die Stunde der Begeisterung hatte sie aneinandergeschweißt.

Männer und Weiber durcheinander, Arbeiter, Studenten, Advokaten. Weiße Perücken, Kniestrümpfe und Sansculotten, Damen der Halle, Fischweiber, Frauen mit Kindern auf dem Arm, Stadtsoldaten, die ihre Spieße wie Generale über der Masse schwangen, Schuster mit Lederschürzen und Holzpantoffeln, Schneider, Gastwirte, Bettler, Strolche, Vorstädter, zerlumpt und zerrissen, ein unzähliger Zug.

Barhäuptig zogen sie die Straße hinab, Marschlieder erschallten. Und an Spazierstöcken trugen sie rote Taschentücher wie Standarten.

Ihre Leiden waren geadelt, ihre Qualen waren vergessen, der Mensch war in ihnen erwacht.

Das war der Abend, wo der Sklave, der Knecht der Jahrtausende seine Ketten abwarf und sein Haupt in die Abendsonne erhob, ein Prometheus, der ein neues Feuer in seinen Händen trug.

Sie waren waffenlos, was schadete das, sie waren ohne Kommandanten, was tat das? Wo war nun der Hunger, wo waren die Qualen?

Und das Abendrot lief über sie hin, über ihre Gesichter und brannte auf ihre Stirnen einen ewigen Traum von Größe. Die ganze meilenweite Straße brannten tausend Köpfe in seinem Lichte wie ein Meer, ein urewiges Meer.

Ihre Herzen, die in der trüben Flut der Jahre, in der Asche der Mühsal erstickt waren, fingen wieder an zu brennen, sie entzündeten sich an diesem Abendrot.

Sie gaben sich die Hände auf dem Marsche, sie umarmten sich. Sie hatten nicht umsonst gelitten. Sie wußten alle, daß die Jahre der Leiden vorbei waren, und ihre Herzen zitterten leise.

Eine ewige Melodie erfüllte den Himmel und seine purpurne Bläue, eine ewige Fackel brannte. Und die Sonne zog ihnen voraus, den Abend herab, sie entzündete die Wälder, sie verbrannte den Himmel. Und wie göttliche Schiffe, bemannt mit den Geistern der Freiheit, segelten große Wolken in schnellem Winde vor ihnen her.

Aber die gewaltigen Pappeln der Straße leuchteten wie große Kandelaber, jeder Baum eine goldene Flamme, die weite Straße ihres Ruhmes hinab.

 

 

***

Der Dieb. Ein Novellenbuch von Georg Heym. (postum hg. 1913)

Bei Georg Heyms „Der Dieb, ein Novellenbuch“ handelt es sich um einen Buch mit expressionistischen Kurznovellen: „Der fünfte Oktober“, „Der Irre“, „Die Sektion“, „Jonathan“, „Das Schiff“, „Ein Nachmittag“ und „Der Dieb“. Wir lesen Porträts von Außenseitertypen, deren aufgestauter Lebenshass entweder in physische Gewalt umschlägt oder die an der psychischen Gewalt einer kalten Umwelt zugrunde gehen. Was der Mensch nicht dahinrafft, erledigt schließlich die Natur. Doch alle, ob nun verroht oder sensibel, scheinen sie eins zu suchen: Halt, Verständnis, Liebe. Der Irre sehnt sich auf seinem Rachefeldzug, in Momenten, in denen ihm seine Schreckenstaten bewusst werden, nach dem verhassten Arzt. Jonathan muss die Sehnsucht nach Wärme und Zuneigung mit seinen zwei Beinen bezahlen. Am abstraktesten wird die Sehnsucht nach Beachtung in der Liebe des Diebes zu da Vincis „Mona Lisa“, die ihre ablehnende Haltung und Arroganz gegen ihn mit der Vernichtung büßen muss. Dem Leser bleibt die Erkenntnis: „Wir alle sind Jäger und Gejagte, Täter und Opfer. Das Glück lässt sich ohne Leid nicht erfahren.“ Uns bleibt die Ungewissheit, ob man Heyms einziges Prosawerk großartig oder abscheulich finden soll.

Weiterführend

In 2022 widmet sich KUNO der Kunstform Novelle. Diese Gattung lebt von der Schilderung der Realität im Bruchstück. Dieser Ausschnitt verzichtet bewußt auf die Breite des Epischen, es genügten dem Novellisten ein Modell, eine Miniatur oder eine Vignette. Wir gehen davon aus, daß es sich bei dieser literarischen Kunstform um eine kürzere Erzählung in Prosaform handelt, sie hat eine mittlere Länge, was sich darin zeigt, daß sie in einem Zug zu lesen sei. Und schon kommen wir ins Schwimmen. Als Gattung läßt sie sich nur schwer definieren und oft nur ex negativo von anderen Textsorten abgrenzen. KUNO postuliert, daß viele dieser Nebenarbeiten bedeutende Hauptwerke der deutschsprachigen Literatur sind, wir belegen diese mit dem Rückgriff auf die Klassiker dieses Genres und stellen in diesem Jahr alte und neue Texte vor um die Entwicklung der Gattung aufzuhellen.

Post navigation