Das Ende

 

Das Ende, dachte ich. Das Ende. Vielleicht beginnt es auf einem Parkplatz: Ich frage meine Freundin: „Wer sitzt in den Autos dort hinten?“ „Geh hin und sieh nach“, sagt Stella. Ich laufe in die Ecke zu den Autos und beuge mich über die Windschutzscheiben. Ich sehe darin nur den Himmel, der mich blendet, und Schatten. Da ist kein Platz für Farben. Kein Gesicht blickt mich an. Ich laufe zur Seite, gehe in die Knie und schaue zum Seitenfenster nach innen. Ich gehe von Auto zu Auto. Was sehe ich? Von Auto zu Auto. Was sehe ich? Die Sonne über mir. Dann fallen Tropfen. Sonnenregen. Ich gehe von Auto zu Auto. Was sehe ich? „Was siehst du?“, ruft die Freundin. Ich drehe mich um. „In jedem Auto sitzt dieselbe Person“, sage ich. „Dann ist alles in Ord-nung“, sagt sie, „komm, wir gehen in die Stadt.“ „Ich kenne die Leute in den Autos nicht“, sage ich. „Die Wolken“, sagt sie. „Immer dieselbe Person“, sage ich, „ich kenne sie nicht.“ „Ja“, sagt Stella, „wenn sie dir fremd ist.“ „In jedem Auto dasselbe Gesicht“, sage ich. „Kein Wunder“, sagt sie, „wir kennen ja kaum uns selbst.“

Psalm der Hyper-Hydra. „Ach, Stella“, sagte ich, „unter meinen Erfindungen gefalle ich mir selbst ganz besonders. Klar, rein subjektiv. Was mir aber andererseits völlig egal ist. Ich ruhe mich im schwülen Sommer der Südheide aus. In der Nacht jage ich Kaltfront gegen Warmfront, schicke Blitze übers Land und schütte das Wasser, das ich im Atlantik schöpfe, aus den Wolken. Dann schlafe ich. So nennen die Menschen ihre Reisen ins Unbewusste. Ich erhole mich vom gestrigen Schöpfungstag. Im Schlaf ordne ich die Große Menge Zufall. Wenn ich wach bin, greife ich mit beiden Händen hinein und lasse die Zufälle zwischen meinen Fingern auf die Erde rieseln, wo sie Wurzeln schlagen, wachsen und blühen. Das gefällt mir. Manchmal nur muss ich schnell zur Seite springen, wenn so eine Idee zu schnell wächst. Aber selten wehre ich mich mit einer Machete gegen wild wachsende Ungeheuerlichkeiten. Dann erschrecke ich gleichsam vor mir selber – eine höhere Schöpfungsebene erzeugend spiegele ich mich und staune über das Möbiusband, das ich soeben zerschnitt, mich selbst. Dann wieder aufwachen, weitergehen durch Raum und Zeit, die sich mit jedem Schritt vor mir bilden.“

„Du spinnst“, sagte Stella. Ich nickte.

Wanschecker. Der Kellner brachte die Pizza und stellte sie nebenan auf den Tisch. Aschenberg bekam Hunger. Kuschwelker, sagte er, bestellen wir uns auch so ein Loch! Pizza, meinen Sie, lächelte Wuschkelker. – Loch!, sagte Aschenbecher, das ist dasselbe. – Aha, meinte Wunschklecker.Sehen Sie, sagte Achenbecker, das Loch ist die Leerstelle an sich, die Pizza ist eine konkrete Metapher dafür. – Mein Gott, entfuhr es Wunschecker …Es ist so leicht zu verstehen, sagte Wachecker. – Herr Wanschecker, sagte Wanschecker, in mancher Hinsicht werden wir uns immer ähnlicher.

Stella las den Text, wandte sich lächelnd von mir ab und sagte: „Du spinnst.“

 

 

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Gionos Lächeln, ein Fortsetzungsroman von Ulrich Bergmann, KUNO 2022

Vieles bleibt in Gionos Lächeln offen und in der Schwebe, Lücken tun sich auf und Leerstellen, man mag darin einen lyrischen Gestus erkennen. Das Alltägliche wird bei Ulrich Bergmann zum poetischen Ereignis, immer wieder gibt es Passagen, die das Wiederlesen und Nochmallesen lohnen. Poesie ist gerade dann, wenn man sie als Sprache der Wirklichkeit ernst nimmt, kein animistisches, vitalistisches Medium, sondern eine Verlebendigungsmaschine.

Weiterführend →

Eine liebevoll spöttische Einführung zu Gionos Lächeln von Holger Benkel. Er schreib auch zu den Arthurgeschichten von Ulrich Bergmann einen Rezensionsessay. – Eine Einführung in Schlangegeschichten finden Sie hier.