Die Glut

 

Die Glut. Die Glut. „Der Tod pfeift immer noch nicht aus dem letzten Loch. Er schlägt härter zu, genauer und unberechenbarer als irgendein Konzern und singt seinen eigenen Blues“, sagte Stella. „Ich stoße meine Stirn in die Tastatur, unter meinen Fingern stirbt der Tod“, sagte ich. „Du willst den Tod überwinden“, sagte Stella, „das muss scheitern.“ „Wir haben nichts Besseres“, sagte ich, „wenn wir den Tod nicht in gelebten Bildern überwinden, was sollen wir sonst tun?“ „Du steigst aus der Wirklichkeit aus“, sagte Stella, „und schon ist der Tod besiegt? So einfach geht das nicht.“ „Ja“, sagte ich, „ich steige aus der Todeswirklichkeit aus und krieche in die Bilder und Symbole, in denen ich überlebe.“ „Komme ich da noch vor?“, fragte Stella. „Wenn du mit mir gehst, na klar!“, sagte ich. „Armer Romantiker!“, sagte sie. Stella lebt gern in meinen Bildern, sagte sie eben noch, aber sie meinte das bildlich und nicht so wörtlich wie ich. „Mit der Romantik hat das nichts zu tun.“ „Womit sonst?“ Sie schaute mich an, ihre Augen trafen mich nicht, ich hob den Kopf: „Ich erzähle dir eine Geschichte.“ „Du willst mich nur verführen“, sagte Stella. „Was sonst?“, sagte ich. „Ich erzähle dir eine wahre Geschichte“, sagte ich, „die Wirklichkeit verzaubert uns am stärksten.“ „Aber sie muss wahr sein“, sagte Stella. „Ich sage dir nur die Wahrheit“, sagte ich, „hör zu.“ Rücken an Rücken saßen wir auf dem Brunnenrand, das Wasser rauschte leise in unsere Worte. „Ich erzähle dir die Geschichte von der Gewitterfront. Grandmère Louise erzählte sie mir erst neulich wieder. Hörst du mich?“ „Ja“, sagte Stella, „verführ mich.“ „Grandmère Louise packte bei Gewitter immer ihren Koffer. Sie hatte Angst. Der Donner erinnerte sie an die Vertreibung aus Posen. Die sowjetische Front rückte näher, die Artillerie blitzte auf am Horizont, erst war es fernes Wetterleuchten, dann schlugen die Blitze ein. Da packte sie ihren Koffer. Sie war allein, als das Gewitter über sie hereinbrach. Grandpère war fast taub, er hörte nichts. Sie packte seine Habseligkeiten in eine Tasche und zerrte den gebrechlichen Mann aus dem Haus. Sie glaubte weder an Gott noch an andere Wunder. Aber Gewitterdämonen und Blitzgeister schwebten leibhaftig über ihr in der schwarzen Luft, die wie in der Bibel grell aufflackerte. Sie sang ein altes Kinderlied, mit dem sie sich tröstete, als sie ihren Geliebten verlor:

 

Ich stehe im Wasser

bis über die Knie,

 

mir wird ganz anders,

ich weiß nicht wie.

 

Ich muss in der Tiefe

des Wassers versinken

 

und bald in meinen

Tränen ertrinken.

 

Nun bin ich ein Fisch

und soll schwimmen. 

 

Mit mir will gar nichts,

gar nichts mehr stimmen.

 

Ich weiß aber nicht was,

bin nass, bin ganz nass,

 

will atmen, muss trinken,

will schweben, muss sinken.

 

Bis meine Tränen getrocknet sind

vom Wind, vom Wind,

 

von Liebe so rot,

bin ich tot, bin ich tot.

 

 

Nach dem Krieg stand der Koffer, mit dem sie vor der Roten Armee geflüchtet war, neben der großen Truhe im langen Flur zwischen Vorderwohnung und Hinterwohnung. Sobald schwere Gewitter heraufzogen, mussten wir uns alle im Salon versammeln. Keiner durfte laut reden, wir flüsterten nur das Wichtigste und durften auch nicht essen und nicht trinken. Im Winter wurde das Feuer im Küchenherd und im Kachelofen erstickt, die glimmende Asche gelöscht und zugedeckt. Wenn noch Zeit war, brachte sie die Glut runter zur Aschentonne. Im Winter stellte sie sich vors Fenster im Salon und beobachtete die Eisblumen. Ich stand neben ihr. Die Kristalle bewegen sich noch, sagte sie. Sie haben aber keine Wurzeln, sagte ich. Sie zog die Gardinen und die schweren dunkelroten Brokatvorhänge zu. Pschschsch! Dann holte sie den Koffer aus dem Flur und packte ihn. Die Eisblumen wachsen im Kältetau. Sie sprechen durchs Glas nach draußen, sie sind Zeichen des Todes. Das weiß jedes Kind. Ihre Wurzeln stecken im Himmel über den schwarzen Wolken, sagte Grandmère, als die Gewitterfront abgezogen war. Je weniger wir uns bewegen, je ruhiger und kälter das Haus ist, umso größer die Chance, dass uns der Himmel in Ruhe lässt. Als gäbe es einen energetischen Zusammenhang zwischen häuslichem Mikrokosmos und himmlischem Makrokosmos. Die Blitz- und Donnergeister sollen uns gar nicht erst sehen. Das hat sie nicht gesagt, und sie hat es vielleicht auch nicht einmal so gedacht, jedenfalls nicht in konkreten Bildern vor sich gesehen. Aber so muss es gewesen sein, ich kann es mir nicht anders erklären. Ihre Regeln haben sich bewährt. Der Blitz ist nie in unser Haus eingeschlagen, aber schräg gegenüber in die Reithalle und in die Klinik, auf der die Feuersirene stand, die noch heulte, als das Gebäude ausbrannte.“ Stella setzte sich wieder neben mich, schaute mich an und lachte: „Die Glut, die Glut ist nicht gut, ist nicht gut! Sind wir tot, sind wir tot, herrscht keine Not, herrscht keine Not!“

 

 

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Gionos Lächeln, ein Fortsetzungsroman von Ulrich Bergmann, KUNO 2022

Vieles bleibt in Gionos Lächeln offen und in der Schwebe, Lücken tun sich auf und Leerstellen, man mag darin einen lyrischen Gestus erkennen. Das Alltägliche wird bei Ulrich Bergmann zum poetischen Ereignis, immer wieder gibt es Passagen, die das Wiederlesen und Nochmallesen lohnen. Poesie ist gerade dann, wenn man sie als Sprache der Wirklichkeit ernst nimmt, kein animistisches, vitalistisches Medium, sondern eine Verlebendigungsmaschine.

Weiterführend →

Eine liebevoll spöttische Einführung zu Gionos Lächeln von Holger Benkel. Er schreib auch zu den Arthurgeschichten von Ulrich Bergmann einen Rezensionsessay. – Eine Einführung in Schlangegeschichten finden Sie hier.