Der Feind

(Eine Tirade)

Die Massen sind unterwegs, um Gott zu suchen. Da sie verlernt haben zu glauben, müssen sie erkennen. Die Lüfte sind erfüllt von dunkler Qual und einem Geschrei von Angst. Etwas Dumpfes ist um jeden Lebendigen. Etwas das zuviel fragt und zuviel antwortet, anklagt und trauert. Was verwirfst du und was gibst du dafür?

Goethe, schon ein heiter unermüdlich Lebendiger, einer der immer wußte, weil er an jedem Vesper von neuem empfand, durfte klagen: Gefährlich ist’s, den Tag dem Tag zu zeigen. Welch eine unerhört schmerzhafte Geste in der Lehrhaftigkeit dieses Greises, der von der Sonne schreiben konnte:

»Ihr Anblick gibt den Engeln Stärke,
Wenn keiner sie ergründen mag.«

Was war das für ihn ein Ereignis, die Romantik, diese geschäftigen Schlegels, die Sanskritisten und Ideologen der Liebe. Warum nannte der Dichter Buddha fratzenhaft, der den Mephisto schuf? Warum lernte der Spottvogel, der einst Wanzen und Knoblauch und Kreuz zusammen genannt hatte, plötzlich Hebräisch?

Und warum ist dem Heiden, dem Olympier in Wilhelm Meisters Wanderjahren, das Neue Testament die höchste Andeutung des Göttlichen? Welch trostloses Wort: »Doch Homeride zu sein, wenn auch als letzter, ist schön.« Und er, der früher der Skandal aller biederen Deutschen gewesen war, wenn er auf dem Marktplatz von Jena mit der Peitsche knallte, nahm den Backel in die Hand, um die vorlauten jungen Leute skandieren zu lehren.

Wer sind diese Indier, die seit dem vorigen Jahrhundert unsere Sprachwissenschaften verpestet haben, dieser Auswurf des arischen Europa, die Menschenmörder und Pferdeopferer? Diese Weisen, die den Begriff Gottes solange zu zerdenken wußten, bis er die Wirklichkeit aufhob? Und die die menschliche Sprache so zu zerstören wußten, daß sie zu Zauberformeln erstarrte.

Sind wir die letzten, die Gott spüren dürfen? Welch eine Verwünschung murmelte sich aus Rußland hinein in die Träume unserer Jugend aus den Romanen eines Dostojewsky und der Romantik eines Leo Tolstoi. Was sprach der Dänenprinz Hermann Bang von hoffnungslosen Geschlechtern.

Der Nihilismus wird positiv und will Thesen haben. Die Gott hassen, werden Gläubige. Die Akademien, denen ihr Gründer Leibniz, der geistige Revolutionär Europas, den Anspruch auf die Regierung des Erdteils zuschrieb, züchten Staatsbeamte und liberale Familienväter.

Doch warum ist jenen das zärtliche Nein unserer Morgenträume, da eine wilde Liebe zu ihnen verstört hat, ein Dolchstoß tödlicher als der Neid ihrer Konkurrenten? Ihr Professoren, die ihr euer Brot Systemen verdankt, ihr aufgeklärten Hunde, die ihr nicht gehen dürft, bevor ihr euch klar seid, ob sich die Erde um die Sonne dreht oder die Sonne um die Erde, ihr verheirateten Mönche und verbuhlten Ehemänner, ihr Transportarbeiter, die ihr ein Himmelreich auf Erden zu gründen euch vermaßet, nachdem ihr den Glauben an den wahren Himmel verrietet, weil euch der Katechismus am Streiken hindert, ihr verkaterten Gestalten, die ihr die Welt nur verachten dürft, wenn ihr sie für Schwindel haltet, ihr Narrentorkel, die ihr die Welt verachten dürft, wenn ihr sie für Schwindel haltet, ihr Weißbärte, die ihr aus dem Wissen vom Menschen eine Wissenschaft zu machen euch erkühnt, ihr glaubt wirklich, Sokrates Abstinenz predigen zu dürfen, vom Wein, vom Weh und vom Weib?

 

 

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Jakob van Hoddis (GeburtsnameHans Davidsohn; * 16. Mai 1887 in Berlin; † 1942 in Sobibór, „Generalgouvernement“) war ein deutscher Dichter des literarischen Expressionismus. Er ist besonders bekannt für das Gedicht Weltende, ein Werk aus der Anfangszeit des Expressionismus. KUNO möchte den Lyriker nicht auf dieses OneHitWonder reduziert wissen, die Redaktion entdeckt in seiner Kurzprosa einen Vorläufer der neuen Literaturrichtung Twitteratur und macht es sich zur Aufgabe an diesen Sprachwitzigen Autor zu erinnern.

Weiterführend

In 2022 widmet sich KUNO der Kunstform Novelle. Diese Gattung lebt von der Schilderung der Realität im Bruchstück. Dieser Ausschnitt verzichtet bewußt auf die Breite des Epischen, es genügten dem Novellisten ein Modell, eine Miniatur oder eine Vignette. Wir gehen davon aus, daß es sich bei dieser literarischen Kunstform um eine kürzere Erzählung in Prosaform handelt, sie hat eine mittlere Länge, was sich darin zeigt, daß sie in einem Zug zu lesen sei. Und schon kommen wir ins Schwimmen. Als Gattung läßt sie sich nur schwer definieren und oft nur ex negativo von anderen Textsorten abgrenzen. KUNO postuliert, daß viele dieser Nebenarbeiten bedeutende Hauptwerke der deutschsprachigen Literatur sind, wir belegen diese mit dem Rückgriff auf die Klassiker dieses Genres und stellen in diesem Jahr alte und neue Texte vor um die Entwicklung der Gattung aufzuhellen.