Die Sekunde des Ballspielers oder Der Gegenfüßler

Solang du Selbstgeworfnes fängst, ist alles
Geschicklichkeit und läßlicher Gewinn -;
erst wenn du plötzlich Fänger wirst des Balles,
den eine ewige Mit-Spielerin
dir zuwarf, deiner Mitte, in genau
gekonntem Schwung, in einem jener Bögen
aus Gottes großem Brücken-Bau:
erst dann ist Fangen-Können ein Vermögen, –
nicht deines, einer Welt.

Und wenn du gar
zurückzuwerfen Kraft und Mut besäßest,
nein, wunderbarer: Mut und Kraft vergäßest
und schon geworfen hättest….. (wie das Jahr
die Vögel wirft, die Wandervogelschwärme,
die eine ältre einer jungen Wärme
hinüberschleudert über Meere -) erst
in diesem Wagnis spielst du gültig mit……

R.M. Rilke 21.1.1922

Dies ist die kurze Geschichte einer lebenslangen Spur,

fixiert an einem beliebigen Peripheriepunkt des Gedächtnisses,

gespiegelt zum immer genau gegenüberliegenden Erinnerungsort der kreatürlichen Welt. 

Immer ist es die Spur, deren Herkunft sich aus Vergangenem nährt und formt.

Spur, die zu etwas anderem wird, heute in diese Geschichte geschickt.

Angestrahlt bleiben die vom heftigen Suchen gelöschter Spuren entstellten Kopien jener Personen, deren Originale in abgedunkelten Gelassen eingefroren,

vor schwer belastenden Erfahrungen und Erwartungen geschützt sind,

bis die von ihnen ausgelöste Löschung auch sie erreicht hat.

Dies ist die Ablichtung des Selbstbespiegelten, der das Gleichgewicht seiner Freiheiten ausbalanciert. 

Der ein  Ball schlagender Spieler deiner Geschichte, meiner Geschichte,  ohne Ende ist. Denn sein Ende ist so offen wie die Freiheit.

Ein in trockener Kälte zersplitternder Wintertag im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrtausends: Das Inbild des Ballspielers auf dem Hartplatz, dem Aschenplatz ist bestrahlt, umhüllt, durchflutet und geküsst von Morgensternen, Mittagsnebeln, Abendsonnen.

Auf dem roten Ziegelterrain trainiert er; misst mit seiner Sprungkraft den Platz aus: im isabellfarbenen Licht desfrühen Morgens. Federndes Leichtgewichtspiel in gut gepolstertem Schuhwerk.

Von ferne sieht man ihn tanzen mit seinem Ball. Der, noch von Zauderhand gegen den roten Grund geschlagen, ins Fangen einer Zauberhand zurückspringt. Liebebedürftiges Tierchen, das sich durch nur kurze Fühlungnahme der Nähe seines Menschen versichert. 

Der Spieler ist allein, er fragt nicht nach den Anderen. Schläfriges Funktionieren. Noch.

Bis jetzt hat er noch nicht sein Gefühl für den Stoff gefunden, dessen ledern gespannte Porung seiner Haut verwandt ist. Und noch keinen Herzschlag lang verbindet sich die Arbeit seiner Organe mit dem anschwellenden Puls dieses kompakten kleinen Tieres, das unter seinen schlagenden Händen höher und höher springt. Wenn der Spieler sich auch zunächst träge entfernt vom hörweiten Geflüster der Spielregeln, so läuft er dem Ding doch nach, das er so lange traktiert, bis er es ins Auffgefangenwerden zurückzwingt.

Er steht vornüber gebeugt; er hat den Ball im Vorpreschen noch greifen und gegen seine Brust pressen können.

Erst jetzt erwacht er wirklich. Ist ihm bewusst, dass er den Ball an sich herangezogen hat ähnlich einer langen, selbstbeobachtenden Bewegung auf „ein Geliebtes“ zu, das man begehrt?  Der Ballspieler wünscht nichts mehr, als diese Stellung zu halten, in der er –endlich –  erwacht ist:

„Da, wo meine Hände in meine Liebe hinein greifen, istWüste.“

Der Globus schmiegt sich mit seinen Eispolen kalt in die Höhlung destief gebeugten Leibes.

Irgendwo hinter ihm knirscht das Gitter des Tores zum Platz hin, der Trainer nähert sich.

Der Spieler vernimmt eine runde Bewegung, die er in der Vorstellung blitzartig zum Kreis komplettiert.  Er wünscht, der Trainer könne rund laufen mit dem Tor, immer und immer in den roten Grund des Ascheplatzes seinen Radius markierend.

Dies ist eine Fixierung der Leidenschaft, auch eine photosynthetische Geschichte vom Leiden an seiner Freiheitssehnsucht,die sich nicht entzündet an Gegenseitigkeit. Immer ist es das Eigene und Mächtige des Anderen, das fern von allem Fünkchenüberspringen vorzeitig in Selbstverzückung glüht.

Noch immer hält er den Ball an sich gepresst. Von ferne entzifferbar als Haltung kurz vor einem erneuten Ballwurf, wagt der Spieler nicht, seine Inständigkeit nur ein wenig zu verändern. Er will  nicht den Fluss seiner Sympathie, eine immer fixer werdende Größe, die dem Ball an seiner Brust entgegenströmt, nicht gefährden.

Angetastet von ersten vagen Sonnenstrahlen, hat für ihn das, was er an sich gedrückt hält, umfangend sein Rund und sein Warmes, jede vertraute Gegenständlichkeit verloren, die es allein einem deutlicher werdenden Gefühl gestattete, handgreiflich zu werden.

Von weitem nimmt man den Ballspieler als die konturenlose Aquarellzeichnung eines Schmerzgekrümmten wahr, sein Leib gebogen über ein seltsam elastisches, organisch anmutendes Rund.

Je unfasslicher, fremder die Melodie des Begehrens auf den straff gespannten Sehnen der Lust spielt, desto weniger gelten noch Minen- und Muskelspiel. Der Ballspieler ist Z u s t a n d , eine unaufhebbare Erinnerung, Augenblick endgültiger Ausstrahlung einer unkorrigierbaren Erinnerungskontur. Sie stellt den Wert der Fotografie eines erwartungsvollen (fast ein wenig lächerlich wirkenden) Bräutigams dar, der sich gelenkig fast bis zum Nabel beugt, um das Haar seiner schlafenden Braut vorsichtig zu küssen.

Er lässt seine Lippen bald über salzene Kristalle, bald über kleine, lächerlich kleine, Feuer verspritzende Vulkane, bald über sanft überschwemmte Flussufer, bald über schweigsame Schneegebirge, über unruhig angerissene Großstadtprofile gleiten. Alles ist Oberfläche, woran er rührt und womit er berührt ist, ergebene Oberfläche, gleichmäßig beleuchtet und ausgedehnt.

Das lässt er gewähren, das in ihm kurz aufscheinende, scharf umrissene Bild von sich, das, so ganz und gar unsportlich und demütig, gegen ihn verwendet werden kann.

Er vernimmt das profane Knurren seines Magens, eine Vibration, geleitet von Haut zu Haut.  Heute wird er, ein Verliebter, nichts essen, wird den später kaum erinnerbaren Rest des Tages in der Unerreichbarkeit seiner belanglosen privaten Sphäre zubringen.

Viele Morgen werden folgen, in denen die Atemluft, verdichtet, gepresst von Trainerkommandos und ohnmächtig gleitendem Zuschauerbeifall, exakt berechnet sein will, in zerdehnten Stunden der Anstrengung, zwischen denen er leichtfüßig von spielerischer Präsenz zu unkorrigierbarer Aufzeichnung wechselt, von der Ansage bis zum Abspiel all seiner Bewegungen, die einander logisch fortsetzen: modelliert und eingefroren sind sie nach jedem Spiel in der Zeit zur kompakt geschichteten Konserve des ewigen Ballspielers.

Das Herz des Ballspielers rast.  Er sehnt sich nach dem Gegendruck, der die überdehnte Spannung beruhigt, wenn sich Fremdes gegen Fremdes presst und es zu strömen beginnt zwischen beidem: jetzt ein Knistern zwischen zwei Freiheiten, das gleichmäßig wärmend, im augenblicklich einsetzenden Aufatmen der Erleichterung – licht und von vage flüsternden Stimmen getönt – um den (einen Fremdkörper umschließenden) Fremdkörper gezeichnet ist, ein knisterndes Eindringen in jene Leerzonen, die einmal Abstand bezeugten.

Das Gewicht seiner Zuneigung kennt kein Maß, der Ball selbst ist der Name für seine Zuneigung.

Ein kühler Windzug durchweht die verletzbare Transparenz des Ballspielers. Er verstrahlt  in seiner unverändert gekrümmten Haltung etwas von einem Wartenden, über den sein Trainer am Rande des Spielfeldes später sagen wird, sein Klient habe etwas vorläufig Modellhaftes verkörpert, das ihn zugleich angezogen und abgestoßen habe. Er sei ihm wie nackt vorgekommen, eben ein Modell, das zitternd im eisigen Raum seiner Abbildbarkeit, unmerklich der Wärme des grell eingeschalteten Scheinwerfers entgegengerückt sei.  Sein Schatten aber habe sich verkleinert, und dessen Aura habe sich aufgelöst: aus einer unentschiedenen Entgleisung in Mischfarben sei sie in die von Körpergerüchen übergegangen. Deutlich habe er den unverwechselbaren Schweißgeruch seines Klienten wahrgenommen, der ihn hätte infolge des großen Abstandes gar nicht erreichen können: „Mir schien es, als verdunstete dort drüben eine Qualifikation.“

Tatsächlich befindet sich jetzt der Ballspieler in einem Zustand der Übererregung: Plötzlich weiß er, er ist nicht allein, nie ist er allein gewesen! Ein Anderer hat immer mitgespielt, einer, der alle Bälle aufgefangen hat, die ihr Ziel bisher verfehlt hatten.

Wie er steht der Andere im isabellfarbenen Licht eines winterlichen Morgens: bestrahlt, umhüllt, durchflutet und geküsst von Morgensternen, Mittagsnebeln, Abendsonnen.

Ein sehr schnell im Kreis bewegter Gegenstand, der im Stadium höchster Geschwindigkeit als unbewegt wahrgenommen wird. Die Überlagerung und Deckung eines in Übergeschwindigkeit vollführten Austausches von zwei, einander in allen Zusammensetzungen gleichenden Geschöpfen. Materiales Echo ihrer Spiegelbilder auf der stets entgegengesetzten Seite ihres Meridians. Zwei vollkommene Freiheiten.

Da steht der Andere, vornüber gebeugt, die Ellenbogen gegen die Hüfte gepresst, zum Rund die Arme geöffnet, in Auffangstellung die Hände gespreizt, lauernd den Blick nach oben gerichtet, schwankendes Ausbalancieren.

Einen Steinwurf entfernt vom Aschenplatz auf dem offenen Brachfeld, wagt ein großer Krähenvogel, – eine Dohle-?- das bin ich, seltsam ungelenk menschlich geformte Schritte. Bis er, aufblickend aus der Sinnlosigkeit ziellos gespreizten Gehens, die drohend gespannte Gestalt des Anderen wahrnimmt, vom Boden abfedernd im letzten Moment die Fänge ausbreitend, unaufhörlich flügelschlagend vergessen haben muss, dass er davonfliegen könne. Sein Flügelschlagen erinnert an das Knistern vor brennendem, trockenem Holz. Ein wiederkehrendes Geräusch von Verlassenheit in einer Landschaft ohne verlässliche Geometrie.

Dann stürzt sich der Vogel in die Höhe, stürzt, als reiße ihn etwas hoch in dieses unabschaltbare Grau des frühen Morgens, durch das nun schwaches Sonnenlicht gestreut ist.

Es spielt keine Rolle, wer, einer schützt den Ball mit seinem Körper; jeder verkürzt das Leben des Anderen um die Zugabe seiner eigenen Geschichte, die vielleicht immer ein Gegenüber besessen, umspannt, verursacht hat. Ich habe es aufgeschrieben.

Der Ballspieler richtet sich auf, reißt die Arme hoch über den Kopf. In Zeitlupe ließe sich recherchieren, dass dieser Ballspieler die Anstrengung des Sisyphos in den Triumph des Atlas hoch reißt, bevor er ihn mit einem leichten Federn des ganzen Körpers von sich schleudert.

Der Trainer am Spielfeldrand ist sich nicht sicher, ob der Ball überhaupt geflogen ist. Er hat nur die vollendete Kür des Abwurfs wahrgenommen und als Trainingserfolg für sich verbucht. Er schlendert zum beheizten Trainingsraum, um Handtücher und Mineralwasser bereitzustellen.

Im schmerzhaft kalten Morgen richtet der Gegenspieler sich auf, tänzelnd auf Zehenspitzen in winzigen Schritten; gestreckt reichen seine Fingerspitzen an die Grenzen des Lichtes.

Der Ballspieler auf dem Aschenplatz erinnert sich der künftigen Zeit, die unstillbar durch seinen Körper kreist.

Während der Ball unterwegs ist, verweilen sie, Werfer und Fänger, mit erhobenen Armen und die Finger auseinandergespreizt, ein wenig gekrümmt, ein wenig nach innen gedreht, schwankend, vibrierender Taumel hellwach.

Wenn sie jetzt den Halt verlieren, stürzen sie ineinander, geprellt vom Sog ihrer runden Welt, in ungefundener Umarmung, an der Peripherie ihres Gedächtnisses, ihrer Freiheit.

 

 

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Weiterführend →

Angelika Janz

Lesen Sie auch das Kollegengespräch, das A.J. Weigoni mit Angelika Janz über den Zyklus fern, fern geführt hat. Vertiefend ein Porträt über ihre interdisziplinäre Tätigkeit, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ebenfalls im KUNO-Archiv: Jan Kuhlbrodt mit einer Annäherung an die visuellen Arbeiten von Angelika Janz. Und nicht zuletzt, Michael Gratz über Angelika Janz‘ tEXt bILd

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