Illusionen im Räderwerk der hypermodernen Gesellschaft

Der Rheinländer hängt amfürsich einem schlampigen Sprechnaturalismus nach.

Die Rheinländer sind gefangen in einer Gesellschaft der Singularitäten, als solche einem fundamentale Strukturwandel der Industriegesellschaft im Zuge von Globalisierung und Individualisierung unterlegen. Ihre zentralen Bezugsgrössen waren bisher die sozialen Klassen, Schichten und Milieus. In Internationalisierung, Bildungsexpansion, Wertewandel und Migration sieht A.J. Weigoni die trendbestimmenden Triebkräfte der grossen Transformation dieser Achsenzeit. Täglich stellt sich die Zugehörigkeitsfrage. Ihre Probleme werden kulturalisiert, außerdem werden individuelle und gruppenspezifische Besonderheiten beschreiben und auch die vielfältigen Animositäten zwischen Individuen und Gemeinschaft problematisieren.

Dekonstruktion der traditionellen Romanform

Die Lokalhelden atmen denselben drängenden Ton wie die Figuren in Abgeschlossenes Sammelgebiet. Aus den Suchbewegungen der frühen Prosa ist eine bravouröse Versuchsanordnung mit Figuren im Sog des Zeitgeistes geworden. Manches gerät zum Balanceakt zwischen kluger Parodie, Gesellschaftssatire und Pornografie. Gegen das Verschwinden der Wirklichkeit, dem Siegeszug des Vulgären und die Herrschaft des Technischen, schreibt Weigoni unermüdlich an. Sein Plädoyer für eine Organik des Daseins, für Präsenz und Dauer gewinnt im Rückzugsraum Rheinland an Plausibilität angesichts des rasenden Stillstands einer Gegenwart, die mittlerweile alle Sinnressourcen leerplündert. Die Freiheit, das eigene Leben zu wählen, ist universell. Fakt ist nur, daß man diese Freiheit niemandem aufzwingen kann. Die Rheinländer haben seit dem 2. Weltkrieg genügend Evidenz dafür gesammelt, daß diese Strategie nicht funktioniert. Es braucht  bei den Lokalhelden noch nicht einmal einen narrativen Vorwand, man erfreut sich an alltäglichen Phänomenen der Natur und des Grossstadtlebens. Mit einer entspannten Haltung zum Historischen widmet sich Weigoni detailverliebt der Kunst des Bierbrauens und den Rheinländern, die sich ihren Weg durch das urbane Gewusel bahnen. Weit ab davon ein Ideologe zu sein, kommt es diesem Romancier nicht auf das literarische Gelingen, sondern auf die Inszenierung der Sinngebung des Sinnlosen an. Aus der Offenheit seines Schreibens heraus, gewinnt das weltanschauliche Anliegen die Überzeugungskraft.

Prinzip der Nichtlinearität

Statt eine lineare Erzählung von Geschehnissen stellt der Roman ein flexibles Beziehungs- und Bildgewebe von Dingen, Geständen, Menschen und Erinnerungen dar. Die Möglichkeit der Gegenwart alles Vergangenen in allen Momenten ist das zentrale Thema dieses Assoziationssoges. Ihre Lebensentwürfe zielen auf materiellen Erfolg und individuelle Selbstverwirklichung, Autonomiegewinne und soziale Gleichheit, technische Perfektion und emotionale Empathie, berufliche Routine und expressive Selbstdarstellung. Die Mittelschicht in der Boner Republik bildet das Leitmilieu der Gesellschaft, radikalisierten Individualismus sowie des liberalen Kosmopolitismus. Deren wichtigste Bezugsebene sei nicht mehr der Nationalstaat, sondern der europäische Raum und die Weltgesellschaft.

Zoologie des Menschen und – ganz speziell – die des Rheinländers

Die Rheinländer erleben das Leben als Zusammenprall konkurrierender Fiktionen, sie stolpern irgendwie bemüht durch ihre Zeit. Diese Lokalhelden erzählen ihr Leben als eine Kette von Pleiten, weil sie glauben, das humanisiert eher als die Einsamkeit der Triumphe, an die sie sich kaum erinnern können. Sinn ist nicht per se gegeben. Wirklichkeit ist eine Konstruktion. Jede Erzählung, mit der man sich selbst in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft positioniert, ist eine Fiktion. Das Spiel mit historischer Faktizität und Fiktion verweist auf Grundfragen des Erzählens: Wie das Erzählte inmitten einer vermeintlichen Realität seinen eigenen Wahrheitsraum schaffen kann, wie Erfundenes das verborgene Wirkliche ans Licht bringt, wie Weigoni seine Figuren in in kaleidoskopischer Vereinzelung eingefangen hat und im Text agieren läßt – und sich diese Typen auf verschiedenen Ebenen überlagern und verbinden. Es ist eine Poesie, die nicht Wissen und Zeit rafft, um daraus narrative Spannungsbögen zu schlagen; sondern eine Literatur, die sich alle Zeit nimmt, die sich eine eigene Zeit schafft, in der sich die historischen Zeichen und Spuren verdichten und dann wieder verlaufen.

„Was ist das für eine Welt, in der wir leben? Und wer ist überhaupt „wir“? Und wie kann davon erzählt werden?

Zur guten Schluß eine Rückblende. Auch Weigonis erster Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet spielt in einer Zeit des Übergangs. Die Rheinländer zerbrechen fast an der Widersprüchlichkeit ihrer Gefühle und ihrer Ideale. In der Bonner Republik haben sie gewagt von einer besseren Welt zu träumen, nun müssen sie aus ihrem Traum erwachen. Das Rheinland wurde zu einem anti-genealogisches Experiment, in dem die wachsende Asymmetrie zwischen Herkunft und Zukunft eine Legitimitätskrise in sämtlichen Lebensverhältnissen geschaffen hat. Improvisation dringt ein in alles, was vormals ständisch und stehend zu sein schien: von den Geschäftsbeziehungen zu den erotischen Transaktionen, von den kulturellen Ereignissen zu den biografischen Mustern, vom Karneval zu den religiösen Praktiken. Die zeitgenössischen Selfmade-Existenzen, die nicht mehr zurück, sondern nur noch nach vorne schauen, nehmen dabei, wie die pervers normalisierte Praxis der Schuldenumwälzung, einen Kredit auf die Zukunft, den sie durch kein Bestehendes mehr decken können. Ansonsten gibt es kaum Gewißheiten. Man schaut gleichsam mit einem Brennglas zu, wie die Spezies Mensch ihrem metaphysischen Leid preisgegeben ist. Diese Romane eröffnen Möglichkeitesräume und dieser Raum hat in beiden Fällen ein Hinterland. Am schönsten ist das Rheinland als Versprechen, weit weg – mit Idylle und Harmonie will sich Weigoni in den Lokalhelden nicht aufhalten. Er leistet sich im Absturzmilieu des Rheinlands nur so viel Einfühlung, wie nötig ist, um zu erkennen:

Wegschauen ist zwecklos!

 

 

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Lokalhelden, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2018 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover.

Coverphoto: Jo Lurk

Weiterführend →

Lesenswert das Nachwort von Peter Meilchen sowie eine bundesdeutsche Sondierung von Enrik Lauer. Ein Lektoratsgutachten von Holger Benkel und ein Blick in das Pre-Master von Betty Davis. Die Brauereifachfrau Martina Haimerl liefert Hintergrundmaterial. Ein Kollegengespräch mit Ulrich Bergmann, bei dem Weigoni sein Recherchematerial ausbreitet. Constanze Schmidt über die Ethnographie des Rheinlands. René Desor mit einer Außensicht auf die untergegangene Bonner Republik. Jo Weiß über den Nachschlüsselroman. Margaretha Schnarhelt über die kulturelle Polyphonie des Rheinlands. Karl Feldkamp liest einen Heimatroman der tiefsinnigeren Art. Walther Stonet erkundet Altbierperspektiven. Zuletzt, ein fulminanter  Rezensionsessay von Denis Ullrich.