Das Rheinland als Projektionsraum

Zuhause bin ich, wo ich meinen Ärger habe.

Peter Bichsel

Obwohl A.J. Weigoni für diesen Roman das Arbeitsstipendium des Landes NRW erhalten hatte, sind die Lokalhelden in der lokalen Presse auffällig beschwiegen worden. Offensichtlich hat hier jemand einen Tabuzaun beschädigt. Der „rheinische Ungar“ hatte in der Landeshauptstadt keinen guten Ruf, er galt als „Nestbeschmutzer“, dies ist im Rheinland ein Begriff nicht für denjenigen, der das Nest beschmutzt, sondern vielmehr für den, der den Schmutz an die Öffentlichkeit bringt. Und außerdem, in diesem Roman beschreibt Weigoni den erkalteten Wohlstandsurbanismus, er sagt „wie et is“. Eigentlich sagte er immer „wie et is“.

Die Metropole definiert die Ränder als Orte des Unheimlichen. Aber wo beginnt das Rheinland und wo endet das Dorf an der Düssel?

Schaut man von außen auf diese Region, so könnte man annehmen, das ganze Jahr ist hier Karneval. So ganz falsch ist das nicht, auch außerhalb der Session stellen die Rheinländer urige Typen dar, nicht Personen. Ihre ganze Fröhlichkeit ist nur Fassade, hinter der sich Angst verbirgt. Weigoni untersucht diskontinuierliche Erzählmuster, die sich aus dem Hin-und-her-Zappen zwischen unterschiedlichen Narrationssträngen ergeben. Zwischen dem Sowohl und dem regionaltypischen Sowohl-als-auch nimmt das Vorgegebene, Vorausliegende als Gegenstand narrativer und dialogischer Erörterungen einen weiten Raum im Rheinland ein, diese Dialektik wird häufig gar zum beherrschenden Thema. Weigoni schildert dies in umwerfend komischen, häufig alkoholgetränkten Szenen, die alle dank ihrer klugen Selbstreflexion einen Nachhall erzeugen. Der Romancier zeichnet ein scharfes und psychologisch detailliertes Bild der sich in Selbstauflösung befindlichen BRD. Die Rheinländer, die er uns vorführt, verlieren sich in Alkoholismus, Gefühllosigkeit und inhaltlicher Leere. Es ist die Umgebung, die Normen, der gesellschaftliche Druck, die komplexer werdende Arbeitswelt und eine allumfassende Inhaltslosigkeit, mit der sich die Rheinländer konfrontiert sehen. Das Unglück ist absehbar, ein Entkommen ist von hier aus nicht möglich, zum Rheinland ist man lebenslänglich verurteilt. Der Roman Lokalhelden ist Literatur, die die Euphorie des Rausches und die Vorahnung eines schmerzhaften Katers gleichermaßen vermittelt.

Heimat beschriebt in Deutschland nie einen realen Ort, sondern die Sehnsucht nach einem romantischen Ideal

Üblicherweise behält im Rheinland die Macht der Gewohnheit die Oberhand, doch der Drang zum Aufbegehren wird meist schnell wieder vom Tresen gewischt. Das Leben der Rheinländer setzt sich aus Zukunftshoffnungen und Erinnerungen zusammen, in ihrer Gegenwart bleibt oft etwas Unerklärliches und Unwirkliches. Was die Rheinländer an vergangener, aber deshalb noch lange nicht begrabener Geschichte mit sich führt, erkennen wir beim Lesen erst nach und nach, und mit mindestens ebenso viel Zeitverzögerung wird uns klar, ob uns die Geschichte der alten „Bonner Republik“  in irgendeiner Weise berührt, im guten wie im schlechten Sinne. Es geht Weigoni in diesem Roman nicht um eine Wahrheit, die einen objektiven Anspruch erhebt, auch nicht um kollektive Erinnerungen, die er im Nachhinein anklagen, verteidigen oder erklären will. Er vertraut darauf, dass der Leser seine eigenen Schlüsse zieht, will lediglich darstellen und dafür findet dieser Romancier genau die richtige Sprache. Das alles ergibt ein intimes Porträt einer Zeit, eines Ortes und seiner vorbeiziehenden Menschen. Der rheinische Akzent gehört zum Soundsystem dieser Sprache, Weigoni spielt damit. Finale Gewissheiten existieren im Rheinland nicht, weder aus inhaltlicher noch aus ästhetischer oder psychologischer Perspektive. Man einigt sich hier meist auf ein: „Wahrscheinlich is et so gewesen.“

Die Lokalhelden stecken voller kulturhistorischer Allusionen aus der zeitgenössischen Kultur der Rheinländer

In diesem Roman geschieht sowohl eine Geschichtsschreibung als auch eine Geschichtserzählung. Die Realität wird in den Lokalhelden so beschreiben, als wäre sie nicht vorhanden. Weigoni erkundete die conditio humana der Wohlstandsgesellschaft BRD. Der Brotkrumenstruktur nach ist dieser Roman ein Stationendrama in Prosa, er reißt zahllose kulturelle Bezüge an. Er schickt seine Figuren durch ein schräges Wunderland voller Zeichen und Zitate. Dabei blitzt durch das karnevaleske Treiben immer wieder die gesellschaftliche Realität auf. Im Bramarbasieren der Rheinländer spiegelt sich der kalte Egozentrismus einer ganzen Gesellschaft. Die Globalisierung beginnt die Bonner Republik rabiat zu verändern, aber die Rheinländer sind sich auf ihre Weise treu geblieben. Man könnte daran verzweifeln, wenn man sich nicht entscheidet, vor allem das Karnevaleske darin zu sehen. So irrwitzig das einerseits sein mag, ist es doch andererseits toll für die Literatur. Aus der Unmöglichkeit heraus, ein wahres Buch zu schreiben, in dem es keine Hauptfigur gibt, sondern nur Nebenfiguren, ist zum guten Schluss ein wahrhaftiges Buch von wunderlicher Stringenz entstanden.

Die Überforderung erweist sich in diesem Roman als literarisches Qualitätskriterium.

 

 

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Lokalhelden, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2018 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover.

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Coverphoto: Jo Lurk

Lesenswert auch das Nachwort von Peter Meilchen sowie eine bundesdeutsche Sondierung von Enrik Lauer. Ein Lektoratsgutachten von Holger Benkel und ein Blick in das Pre-Master von Betty Davis. Die Brauereifachfrau Martina Haimerl liefert Hintergrundmaterial. Ein Kollegengespräch mit Ulrich Bergmann, bei dem Weigoni sein Recherchematerial ausbreitet. Constanze Schmidt über die Ethnographie des Rheinlands. René Desor mit einer Außensicht auf die untergegangene Bonner Republik. Jo Weiß über den Nachschlüsselroman. Margaretha Schnarhelt über die kulturelle Polyphonie des Rheinlands. Karl Feldkamp liest einen Heimatroman der tiefsinnigeren Art. Als Letztes, aber nicht als Geringstes, Denis Ullrichs Rezensionsessay.