Theresienstädter Requiem

 

Die 1963 in Prag publizierte Novelle „Theresienstädter Requiem“ aus der Feder von Josef Bor wurde nach ihrer Veröffentlichung in zahlreiche europäische Sprachen übersetzt. Der Autor, 1906 in einer tschechisch-jüdischen Familie in Ostrava geboren, geriet 1942 mit seiner Familie in das Ghetto Theresienstadt, 50 km nördlich von Prag. Er wurde 1944 nach Auschwitz deportiert, überlebte einen Todesmarsch in das KZ Buchenwald im Frühjahr 1945, seine gesamte Familie jedoch wurde in Auschwitz-Birkenau ermordet. Nach seiner Rückkehr nach Prag arbeitete er bis 1948 im Tschechoslowakischen Justizministerium, wurde im Zusammenhang mit der antisemitischen Kampagne der kommunistischen Regierung entlassen. Neben wechselnden Tätigkeiten in unterschiedenen Branchen schrieb Josef Bor eine Reihe von Prosawerken, unter denen der autobiografische Roman „Die verlassene Puppe“ und die Novelle über das KZ und Ghetto Theresienstadt am bekanntesten sind. Die Neuauflage des vorliegenden Textes aus dem Reclam-Verlag mit dem renommierten Übersetzer Antonin Brousek und dem ausführlichen Nachwort des ausgewiesenen Antisemitismus-Forscher Wolfgang Benz gewinnt in mehrerer Hinsicht aufgrund der Einsicht in die Funktionsabläufe des von den Nazis 1941 eingerichteten Pseudo-Lagers für die verhaftete deutsch-jüdische Oberschicht. Benz nimmt in seinem ausführlichen Nachwort auf der Grundlage seiner eigenen Recherchen eine Reihe von Kommentaren und Erläuterungen zum Ausgangstext aus dem Jahr 1963 vor. Im Ergebnis vermag er den fiktionalen Text mit dessen literarisch verbürgten Textaussagen eingehender beleuchten und, ohne den hochkomplexen literarischen Text in Frage zustellen, einige wesentliche, angeblich auf Fakten beruhende Textaussagen zu revidieren.

Im Mittelpunkt der Novelle steht der Dirigent und Chorleiter des aus jüdischen Häftlingen bestehenden Ensembles, Rafael Schächter. Er ist Absolvent des Prager Konservatoriums, der seit November 1941 eine Reihe von Opern und Musikwerken im Ghetto Theresienstadt erfolgreich inszeniert hat. Nun bereitet er mit sorgfältig ausgewählten Musikern und Sängern eine Inszenierung von Verdis Requiem vor. Dabei muss er die äußerst schwierige Auswahl unter Dutzenden hochtalentierter Künstler*innen treffen. Außerdem kümmert er sich mithilfe einiger Mithäftlinge um die Ausstattung der Bühne, besorgt von irgendwoher alte Musikinstrumente. Die narrativen Textelemente wechselt dabei zwischen objektbezogenen Handlungsabläufen und der inneren Rede des Protagonisten Schächter, in dessen Verlauf die unermeßlichen Schwierigkeiten bei der Vorbereitung des Requiems aus der Sicht des Chorleiters und Dirigenten thematisiert werden. Dieser Wechsel zwischen der Beschreibung der Vorbereitung auf die Premiere und der inneren Rede des Chorleiters zeichnet die Novelle aus. Außerdem ist sie gekennzeichnet durch häufige Reflexionen über den Charakter des Werkes von Giuseppe Verdi.

 Ebenso spannungsgeladen und zugleich widersprüchlich ist die Figur des Adolf Eichmann in Bors Novelle. Seit 1941 war Eichmann der Reichskoordinator der Vertreibung und Deportation der jüdischstämmigen Bevölkerung in die Konzentrationslager. In dieser Funktion galt er auch als Ideengeber für ein Sammellager der jüdischen Intelligenz im Ghetto Theresienstadt. Gleich zu Beginn der Novelle wird er als Überzeugungstäter der nazideutschen Vernichtungsdiktatur genannt, als fiktionale Figur tritt er fast am Ende der Novelle wieder auf. Soeben hat die Premiere des Requiemunter großem Applaus stattgefunden, da kommt die Ankündigung des Lagerkommandanten von Theresienstadt , dass am nächsten Tag eine hochrangige Delegation aus Berlin Theresienstadt besichtigen will. Also muss ein Festprogramm in aller Eile auf die Beine gestellt werden: die Wiederholung der Requiem-Inszenierung. Die SS lässt für die Aufführung nun einen riesigen Krankensaal räumen, um der Nazi-Delegation eine auf 60 Minuten gekürzte Aufführung zu ermöglichen. Was sich dann abspielt, ist eine von Rafael Schächter unter verzweifeltem Zeitdruck und künstlerischer Qual geschaffene Not-Inszenierung, die trotz aller repressiver Begleitumstände glückt. In der Schlusssequenz schmettert „sein“

Chor das libera me so stimmgewaltig und überzeugend in den Saal, dass den gefühlsabstinenten Nazi-Bonzen, Eichmann eingenommen, ein Schauder der Verwunderung und Überraschung über ihre Körper jagt und sie zugleich zu zynischen Bemerkungen über das von Verdi geschaffene „katholische“ Werk aus den Kehlen jüdischer Sänger hinreißen lässt.

Es ist das besondere Verdienst dieser Neuauflage und Neu-Übersetzung des „Theresienstädter Requiem“, dass die transparente deutschsprachige Vorlage gemeinsam mit dem ausführlichen Nachwort der Novelle von Josef Bor eine noch höhere, intensivere Aussagekraft verleiht. Ein vorbildliches Verzeichnis der Anmerkungen mit vielen erhellenden Erläuterungen, vier Abbildungen, die die Auftritte des jüdischen Gefangenenchores im Herbst 1944 dokumentieren, und Hinweise auf Autor, Übersetzer und Kommentator stellen eine Publikation dar, die angesichts der sich gegenwärtig häufenden antisemitischen Anschläge in Deutschland auch zum Programm  öffentlicher Lesungen werden sollte.

 

 

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Theresienstädter Requiem, von Josef Bor. Übersetzt und kommentiert von Antonin Brousek. Mit einem Nachwort von Wolfgang Benz. Mit vier Abbildungen. Ditzingen (Reclam) 2021, 127 S., 18.-€. ISBN 978-3-15-011333-2.