STEHBIERHALLE

 

Matrosen kommen selten an Land; der Dienst auf hoher See ist Sonntagurlaub verglichen mit der Arbeit in Häfen, wo oft bei Tag und Nacht muß ein- und ausgeladen werden. Wenn dann der Landurlaub für einen Trupp auf ein paar Stunden kommt, ist es schon dunkel. Im besten Falle steht die Kathedrale als finsteres Massiv am Weg zur Wirtschaft. Das Bierhaus ist der Schlüssel jeder Stadt; zu wissen, wo es deutsches Bier zu trinken gibt, Länder- und Völkerkunde genug. Die deutsche Seemannskneipe rollt den nächtlichen Stadtplan auf: von dort bis zum Bordell, bis in die anderen Kneipen durchzufinden ist nicht schwer. Ihr Name kreuzt seit Tagen in den Tischgesprächen. Denn wenn man einen Hafen verlassen hat, hißt einer nach dem anderen wie kleine Wimpel Spitznamen von Lokalen und von Tanzböden, von schönen Weibern und von Nationalgerichten aus dem nächsten. Aber wer weiß, ob man diesmal an Land kommt. Drum sind schon, wenn das Schiff kaum eben deklariert und angelaufen hat, Händler mit Andenken an Bord gekommen: Ketten und Ansichtskarten, Ölbilder, Messer und Marmorfigürchen. Die Stadt wird nicht besichtigt sondern eingekauft. Im Koffer des Matrosen liegt der Ledergurt aus Hongkong neben dem Panorama von Palermo und einem Mädchenphoto aus Stettin. Genau so ist ihr wirkliches Zuhause. Sie wissen nichts von einer Nebelferne, in der dem Bürger fremde Welten liegen. Was sich in jeder Stadt am ersten durchsetzt, ist der Dienst an Bord und dann das deutsche Bier, die englische Rasierseife und der holländische Tabak. Bis in die Knochen ist die internationale Norm der Industrie für sie präsent, sie sind nicht dupe der Palmen und Eisberge. Der Seemann hat die Nähe ‚gefressen‘, und zu ihm reden nur exakteste Nuancen. Er kann die Länder besser nach der Zubereitung ihrer Fische als nach dem Hausbau und Dekor der Landschaft unterscheiden. Er ist dermaßen im Detail zu Hause, daß ihm im Ozean die Routen, wo er andere Schiffe schneidet (und mit Sirenengeheul, die seiner eigenen Firma begrüßt), lärmende Fahrstraßen werden, auf denen man ausweichen muß. Er wohnt auf offenem Meer in einer Stadt, wo auf der marseillaiser Cannebière eine Kneipe aus Port Said schräg gegenüber einem hamburger Freudenhaus und das napoletanische Castel del Ovo auf der Plaza Cataluña Barcelonas sich befindet. Bei Offizieren hat die Heimatstadt noch den Primat. Dem Leichtmatrosen aber, oder dem Heizer, den Leuten, deren transportierte Arbeitskraft im Schiffsrumpf Fühlung mit der Ware hält, sind die verschränkten Häfen nicht einmal mehr Heimat sondern Wiege. Und wenn man ihnen zuhört, wird man inne, welche Verlogenheit im Reisen steckt.

 

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Lokalhelden, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2018 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover

Coverphoto: Jo Lurk

Weiterführend → Lesenswert auch das Nachwort von Peter Meilchen sowie eine bundesdeutsche Sondierung von Enrik Lauer. Ein Lektoratsgutachten von Holger Benkel und ein Blick in das Pre-Master von Betty Davis. Die Brauereifachfrau Martina Haimerl liefert Hintergrundmaterial. Ein Kollegengespräch mit Ulrich Bergmann, bei dem Weigoni sein Recherchematerial ausbreitet. Constanze Schmidt über die Ethnographie des Rheinlands. René Desor mit einer Außensicht auf die untergegangene Bonner Republik. Jo Weiß über den Nachschlüsselroman. Margaretha Schnarhelt über die kulturelle Polyphonie des Rheinlands. Karl Feldkamp liest einen Heimatroman der tiefsinnigeren Art. Als Letztes, aber nicht als Geringstes, Denis Ullrichs Rezensionsessay.