Heißzeit

 

Voss ist aufgefallen, dass auf den Treffen der populären Klimasekte Extinction Rebellion gar nicht oder nur selten diskutiert wird; vielmehr weint man gemeinsam oder meditiert, lockt mit allerlei Theatralik das Gespenst des Klimawandels aus seinem Versteck, um es dann an einem Verkehrsknotenpunkt auf großer Bühne zu schlachten. Biobauern aus Wales finden es vernünftig, dass auch Menschen mit rassistischen und sexistischen Orientierungen mitarbeiten. Trittbrettfahrer fragen in die Runde: Wie schmeckt ein veganes Steak aus dem 3D-Drucker? Reporter drängen zu erfahren, wie man sich am besten mit chemischem Spezialkleber an öffentlichen Gebäudefassaden anbringt. Wie man eine Blockierparty organisiert, und warum die Geldgeber der Organisation eigentlich alle im Ausland sitzen, wo es doch auch um heimische Arbeitsplätze gehe. Eine Teilnehmerin aus Pakistan lässt sich zu einem verbalen Rachefeldzug gegen ihre nicht-pigmentierte Umwelt hinreißen, die ihr viel Hallo einbringt. Ihren Job als Influencerin im Eskalationstreiben beherrscht sie perfekt, sie hat einen B. A. in Opfer-Kompa­ra­tistik und rechnet sich für die Zukunft einen festen Platz im Aufsichtsrat einer international anerkannten NRO aus. Voss hätte nicht gedacht, dass die Menschheit noch einmal so jung sein kann. Ganz allmählich wird ihm seine eigene Ahnungslosigkeit bewusst, sein Nichtwissenkönnen, und dass auch er ein Endab­nehmer von Unglück geworden ist, jemand, der mit dem Rücken zur Welt steht. In seinem Kopf brennt apokalyptisches Feuerwerk ab. Seine Diagramme und Berichte verhärten sich zu einer Jeremiade, die keinen Gottesbeweis mehr verlangt und sich an den harten Gegengründen nicht länger stößt. Die unvollendeten Entwürfe verraten einen Mangel, doch Voss hat vergessen sich zu fragen, an was.

 

 

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Heißzeit, von Ralph Pordzik. École Noire (Würzburg, 2020)

Heißzeit ist ein Stück experimenteller deutscher Endzeitliteratur im Stil von Jörg Steiners Schnee bis in die Niederungen (1973) oder Max Frischs Der Mensch erscheint im Holozän (1979) und schließt selbstbewusst an diese Tradition an. Sein Protagonist Ludwig Voss ist ein thymotischer pharmazeutischer Kleingeist, engherzig und hasenfüßig, der zu viel Zeit über alternativen Fakten verbringt und sich am Ende in einer paranoischen Deutung der Welt verrennt (die im Text selbst allerdings in sehr differenzierter und satirisch abgezogener Form materialisiert). Möglicherweise ist er für das Attentat auf eine populäre Klimarebellin verantwortlich; vielleicht ist es seinen Anhängern aber auch gelungen, seine Interventionen rückwirkend so umzudeuten, dass er in der Nachzukunft als moralischer Sieger dasteht und sich profitabler für ihre politische Agenda vereinnahmen lässt. Unter Umständen hat er sich die Ereignisse rund um seine Verfolgung eingebildet, und sie sind nur Ausdruck einer Psychose als Spätfolge eines nicht verarbeiteten Trennungsschocks. Voss ist offensichtlich labil.

Die Erzählung verfährt in der Art einer Montage: experimentell, multiperspektivisch, szenisch, auf der Basis von Berichten, (authentischen) Zeitungsmeldungen, Photographien, Depeschen, inneren Monologen und Tagebucheinträgen. In der Art einer Brennlinse fasst ein Ausstellungskatalog in der Zukunft alle Ereignisse unter einem Titel zusammen und fungiert dabei als äußerster Erzählrahmen, der den Vorgängen einen scheinbaren Zusammenhang andichtet. Statt einer objektiv-summarischen Wiedergabe von Wirklichkeit verzichten die darunter wirksamen Erzählstränge jedoch ganz auf die Realität, sammeln vielmehr Zwänge und Phobien, Redensarten, Merkmale und Phantasien anstelle ihres Helden ein: Voss ist nur ein Name, eine Chiffre, für die gefühlte Ambiguitätsintoleranz und Meinungsanfälligkeit unserer Zeit. Die verrätselte Figur wird in ein Labyrinth gesteckt, glaubwürdige Angaben über Raum, Zeit und die Ereignisse selbst finden sich auf Spuren reduziert oder fehlen ganz. Das Beschriebene erklärt sich nicht selbst, der Leser soll scheinbar keinen festen Boden unter den Füßen bekommen. Schließlich geht es ja um nichts Geringeres als die Alternative Wahrheit! Wo der Text Zusammenhänge oder gar Anzeichen einer Fabel zulässt, sind sie mikroskopisch kurz und bitter. Diese Zerstückelung hat allerdings System: Der Protagonist erfährt die Welt mit der ganzen Wucht ihrer Hässlichkeit, Brutalität und Kälte, mehr noch: er ist ihr vollkommenes Symptom. Neben den zwanghaften Gedanken, den Wiederholungen und Ritualen, den Reisen und Fahrten rund um den Globus, ist es die Bewusstheit, mit der sich hier einer einrichtet, inmitten der globalen Erwärmung in der Kälte zu leben, die schockiert. Eine Lösung ist nicht in Sicht, und der Beobachter oder Chronist der Ereignisse hält sich bedeckt: Die Erzählung gibt sich äußerlich die Form eines Begleittextes zu einer Ausstellung, die Projektunterlagen und Notizen des „Pioniers“ Voss mit Fakten zum Klimawandel vermischt (die dabei zunehmend in einem fragwürdigen Licht erscheinen) und nur vereinzelt einen Ich-Erzähler dazwischenschaltet, dessen Autorität aus dem Strang der laufenden Erzählung weder glaubwürdig begründet wird noch an und für sich Anzeichen der Zuverlässigkeit an den Tag legt. Heißzeit verweigert seiner zynisch-lakonischen Berichterstattung und Anlage der Ereignisse damit jede Unterstützung durch Kommentar, Bekenntnis, Erklärung, möchte provozieren und beunruhigen, denn Voss’ Gedanken sind natürlich auch unsere eigenen: eine Melange aus ungerichteter Wut, Angst, Trauer und Vergeblichkeit. Die Erzählung weist ihnen einen wilden und unsortierten Platz in besprochenem, gesinnungsethisch und haltungsjournalistisch überreguliertem Gelände zu. Vielleicht sind Ungewissheit und Ambivalenz, Aggressivität und Mutlosigkeit nie entschiedener in Sätzen formuliert worden, die – ein jeder für sich – wie Seufzer oder Nachrufe klingen und sich gerade deshalb besser einprägen als jede zusammenhängende Geschichte.