Istanbul

Bei Peter Valentin im Möglinger Pflegeheim „Kleeblatt“ am 25.2.2011

Endlich hatte ich die Kraft, ihn zu besuchen! Ich schob es vor mir her, und ich zögerte noch, als ich mit dem Auto Ludwigsburg erreichte, ob ich lieber Traian Pop, meinen Verleger, besuche. Aber ich dachte dann: wenn ich jetzt, so nah vorm Ziel, nicht hingehe, gehe ich nie zu ihm hin.

Dann war alles leichter als gedacht. Eine junge, sehr freundliche Schwester brachte mich zu ihm, und ich stand ungefähr 15:05 Uhr an seinem Bett. Er musterte mich, leicht genant, dann nahm ich den Stuhl, setzte mich an seine linke Seite ihm gegenüber und gab ihm die linke Hand.

Der Fernseher lief. Bilder von Istanbul. Er konzentrierte sich in den ersten 30 Minuten ganz auf mich. Die Konzentration schien ausgezeichnet. Seine Verlegenheit löste sich. Ich nahm meinen Zettel und ging die notierten Themen durch. Permanent fragte ich ihn, ob er mich versteht, ob er X oder Y kennt, jedes Mal nickte er oder verneinte, hob manchmal die Hand und gestikulierte ziemlich differenziert ein „Vielleicht“ oder „Weder noch“ oder „Ungefähr“ oder „Sowohl als auch“, teils mimisch begleitet.

Ich sagte, du wohnst ja ganz dicht an deinem Haus in der Brühlstraße, ich kam eben dort vorbei. Er schaute resignativ-indigniert. Dann berichtete ich von Frau Signe Brunner, dass sie meine Post brachte und mir mitteilte, wie Peter darauf reagierte. Er nickte. Mein Brief lag noch auf dem Tisch. Hinten an der Wand steht Wein. Im Regal alle Eremitagen, auch Nr. 16, nur Nr. 1 fehlte. Dann Bücher seines Verlags – nicht vollständig.

Dann erzählte ich von Otto Eberhardt, Schüler von HAP Grieshaber, den ich in Schwetzingen besuchte, und von meinen beiden Brüdern, die ich am Abend in der Aula des Bietigheimer Ellertal-Gymnasiums treffe, dort ist eine Schüleraufführung von Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“, im Stück spielt die Tochter einer Freundin meines älteren Bruders mit.

Ich bestellte Grüße von Holger Benkel, Francisca Ricinski und vom Bonner „Dichtungsring“.

Nun erzählte ich von meiner Pensionierung und meinem Leben als Pensionär. Nur das Schülertheater fehlt mir, sagte ich, und die Klassen- und Studienfahrten. Ich sagte, du hattest dich so auf deine Pensionierung gefreut, Peter, und er nickte traurig.

Ich sprach vom Club Forum Literatur (CFL), der nun umgewandelt wird in Literatur Forum Ludwigsburg (LFL). Ich sage, ich bleibe bzw. werde dort Mitglied. Ich erinnerte an die Eremitagen und die Archivierung in Marbach, rede von E16 und würdige Peters Œuvre.

Ich spreche vom Dichtungsring, der 30 Jahre alt wird – und dies und das in Sachen Literatur. Es scheint ihn zu interessieren.

Du hast so gern Wein getrunken, sage ich, bleibt dir der wenigstens?

Ja, nickt er. Ich erzähle von unseren Treffen in den Weinbergen, vom Grafen Bentzel und seinem Weingut, wo wir zwei Mal waren, einmal gab es eine Kunstausstellung, ein anderes Mal hatte ich eine Lesung, und immer gab es Wein, soviel wir wollten. Peter muss zwei Mal lachen, er will antworten, aber er kann nicht artikulieren. Ich sage, du hast die Worte auf der Zunge, er nickt.

Seine linke Seite ist intakt, die rechte gelähmt. Spürst du rechts was – ja, sagt er. Rechts will er ein kleines Kissen auf der Hand haben.

Ich rede von meinem Roman, der bald fertig ist. Er zeigt Interesse. Ich erzähle mehr. Ich sehe Bücher auf dem Tisch, die ihm Besucher brachten, mit Widmung. Ich frage ihn, kannst du lesen? Nein. Kannst du die Bilder im Fernseher erkennen? Ja.

Ich frage, meinst du, du wirst wieder sprechen können? Er nickt: Ja.  

Die Pflegeschwester bringt zwei Getränke und einen cremigen Kuchen. Sehr ruhig und freundlich. Ich sage, hast du keinen Rollstuhl? Nein. Die Schwester sagt, er will nicht. Er isst mit der linken Hand, aber der rechts hängende Mund kann nicht ohne zu kleckern essen. Ich wische den Mund sauber und entferne ein paar Brocken vom Kuchen auf dem T-shirt und auf der Decke. Während er aß, betrachtete ich alle Bilder im Raum, seine Enkelkinder, seinen Vater und seine Mutter kurz nach dem Krieg, ein Schwarzweiß-Foto.

Nach dem Kaffee spreche ich mit ihm über die Bilder und erwähne versehentlich seinen Bruder – aber er nickt, er ist nicht mehr so konzentriert und schaut hin und wieder zum Fernseher. Ich sage, du hast ja eine Schwester, er nickt. Da ahne ich, er ist nicht immer konzentriert. Ich frage noch einmal, kannst du lesen? Er nickt. Kannst du jedes Wort lesen? Er dreht die Hand, will damit sagen: Nicht ganz oder so. Rollstuhl wär doch gut, sage ich. Er reagiert darauf kaum. Du willst nicht, sage ich. Er bejaht. Strengt dich das Gespräch an? Ja. Er schaut mich fest an.

Ich sage, ich gehe jetzt. Ist gut, nickt er. Ich komme bald wieder. Ja. Ich gebe ihm die Hand, er schaut etwas traurig. Als ich die Tür des Zimmers schließe, sehe ich noch, wie er unverwandt zum Fernseher schaut, auf die Kuppel der Hagia Sophia.

Es ist 15:55 Uhr.

 

 

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Weiterführend →

KUNO dokumentierte eine Korrespondenz von Ulrich Bergmann mit Peter Valentin.

Es herrscht die Annahme, das Netzwerk sei erst mit dem Internet erfunden worden, es gab jedoch eine Zusammenarbeit von Individuen bereits auf analoger Ebene. KUNO dokumentierte den Grenzverkehr im Dreiländereck.

Ein Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit Bruno Kartheuser finden Sie hier.