Frühstücksfernsehen

 

(An dieser Stelle muss es einfach mal gesagt werden, nicht der erste Satz ist das Problem, es ist das erste Wort. Selbst wenn die ganze Geschichte schon im Kopf beieinander ist, das erste Wort muss gefunden werden, damit alles einen Anfang nehmen kann. Gerne wird dann die List ergriffen, irgendetwas Zeitliches zu verwenden, aber auf Dauer langweilt das sicherlich, also doch sicher besser örtlich? So beginnt die Gedankenrotation und wer weiß, wie sich die Geschichte mit einem anderen Wort am Anfang entwickelt hätte. 9.24 Uhr)

Milch steht schon auf dem Tisch. (Das war ein unerwarteter Anfang und schon kann es losgehen. 9.34 Uhr.) Der Kaffee (Der musste jetzt einfach folgen.) wird gerade auf dem Herd in der edelstählernen Bialetti zubereitet. (Bis jetzt ist alles folgerichtig.) Die große Bialetti natürlich, ein Geschenk von zwei lieben Menschen, die von Zeit zu Zeit selber davon zu profitieren hofften (Erweiterung in den personalen Bereich). Was sie natürlich auch tun, immer dann nämlich, wenn sie aus ihrer Dachkemenate den Weg nach unten finden, um einen kurzen Besuch abzustatten (Wir erfahren hier, dass das Haus, in dem Herr Nipp wohnt, nicht von ihm allein bezogen ist und es gibt offenbar verschiedene Stockwerke). Seine Aluminiummaschine hat er irgendwann entsorgt, als er merkte, dass sich im Laufe der Jahre seltsame Mulden in das innere Material hineingefressen hatten. Bei dem Gedanken, über die Jahre so viel Alu konsumiert zu haben, war ihm mulmig geworden, wer weiß schon, welche Auswirkungen das hat. (Hier sieht man schon wieder, welche Auswirkungen das erste Wort hatte, denn über die Kaffeemaschine auf dem Herd sollte beileibe nicht geschrieben werden. Aber ein Wort ergibt in dieser Art des Schreibens das andere, wird zum Nukleus für eine Gedankenfrucht. Vielleicht kann das an späterer Stelle noch vertieft werden. Man lese dazu vielleicht auch den Essay von A.J. Weigoni zum Verfassen von Gedichten.) Die Toasts entfalteten ebenfalls schon diesen besonderen Sonntagmorgengeruch, der ihn immer an früher erinnert, als die gesamte Familie beisammen saß und ganz ohne Probleme zwei Toastbrote verkonsumiert wurden. Man bedenke, dass drei wachsende Jungs am Tisch saßen und mal ehrlich, was sind schon acht bis zehn Scheiben, wenn es frische selbstgemachte Marmelade gibt, die natürlich korrekt bezeichnet Konfitüre war. Und der Rest der Familie konnte schließlich auch essen, naja, vielleicht abgesehen von der Schwester, die eigentlich immer schon auf ihre Linie geachtet hatte. In diesem Moment betrachtet Herr Nipp seine eigene Marmelade, die eigentlich (Man beachte die Häufung des Wortes eigentlich.) Konfitüre ist, welche er selber letzte Woche aus süßen wilden Kirschen gezaubert hat. In jedem Glas befindet sich eine Zitronenspalte mit Schale, auf die er sich jedes Mal bei Leeren des Glases besonders freut, da diese immer noch ein Hauch der Bitterkeit und Säure bewahrt hat, die sie ausmacht. Aber, stellt sich ein Problem in den Weg, ist diese Konfitüre nicht doch Marmelade, da sie doch Zitrusfrucht enthält? Fragen über Fragen. (Bis hierher ergibt sich alles Geschriebene nur aus dem Wort Milch, die eigentlich zu erzählende Geschichte folgt noch. 9.51 Uhr)

Er nimmt sich die große und schwere Holzplatte aus Eichenholz, stellt alle benötigten Dinge darauf und trägt auf der Terrasse auf. Dort sitzt er dann eine ganze Weile und speist. An der Glasscheibe vorbei, die ein Freund (der Hase – das ist eine klare Insiderinformation) mit einem Hasen bezeichnet hat, blickt er in den Garten und kann sich gar nicht sattsehen, in der Nachbarschaft wird ein Mäher angeworfen, starke Maschine, da schreien auch früh aufgestandene Ferienkinder, die nicht in den Urlaub gefahren sind. Der obligatorische Hund der lauten Nachbarfamilie kläfft. (Was nicht stimmt, weder ist die Familie laut, noch kläfft der Hund, da alle im Urlaub sind. Das sind auch gar keine direkten Nachbarn, aber es hört sich doch etwas seltsam an, schriebe der Erzähler an dieser Stelle „Der lauten Familie aus dem nachbarschaftlichen Umfeld“) Nebenan führt jemand ziemlich erregt ein offenbar geschäftliches Telefonat. Die Vögel ziehen sich in die Heimlichkeit der dichteren Gebüsche zurück, weil sich die Elstern mal wieder anschicken, gemeinsam auf Jagd zu gehen und da rette sich, wer kann. So friedlich diese intelligenten Singvögel die ganze Wiese entmoosen können, auf der Suche nach Käfern und anderen Insekten, so ausgeklügelt und präzise sind die Jagdstrategien, und wer einmal entdeckt wurde, der hat keine Chance. Und wer sagt, das können doch keine Singvögel sein, wenn die so gemein jagen, dann beobachte er doch einmal so eine kleine, süße Meise den ganzen Tag über, die macht auch nichts anderes auf anderer Ebene. Fängt Raupe um Raupe, Spinne um Spinne. Und nach und nach versinkt er in seinen Morgengedanken über Vögel, Garten, Nachbarn und überhaupt alles. Er hat die ersten Telefonate hinter sich gebracht. Alles ist gut. Als er aufsteht, um noch Kaffee zu holen, merkt er, dass es bereits 10 Uhr ist (Man bemerke hier die inhaltliche Parallelität zum tatsächlichen zeitlichen Geschehen. 9.58 Uhr). Anderthalb Stunden vertrödelt, dabei hat er noch so viel zu tun an diesem Tag. Das ist mal wieder Beweis für ihn, dass das Frühstücksfernsehen einfach zu viel Zeit klaut. (So, das war es einfach, nichts Besonderes, das muss zugegeben werden, aber der eigentliche Gedanke ist immerhin festgehalten worden. Und mal ehrlich, von Herrn Nipp erwartet nun wirklich niemand Thrill und Spannung! Dabei unterbrochen von zwei realen Telefonaten. 10.08 Uhr)

 

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Guppy im Gin, weitere Geschichten von Herrn Nipp. Edition Das Labor 2020

Weiterführend → Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp. Begleitendes zur Veröffentlichung des Buches Fatale Wirkungen, von Herrn Nipp (Mit Fotos von Stephanie Neuhaus). Über die historische Aufgabe von Herrn Nipp aus Möppelheim.

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.

Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421