Ambrosia

Mit seinen beiden Wanderfreunden fährt Herr Nipp zwischen Ruhr und Autobahn den Ruhrradweg in Richtung Haus Füchten, traumhaftes, leider nie richtig renoviertes Anwesen. Immer schön ruhrabwärts. Manchmal schweigen sie, genießen die Landschaft, den Lärm der nebenan rasenden Motorräder, Personenkraftwagen und vielrädrigen Schwertransporte haben sie effektiv ausgeblendet. Selektive Wahrnehmung. So kann man Natur erleben, sich ganz der Freude an der Landschaft hingeben. Und irgendwann glaubt der Radfahrer wirklich, durch die unberührte Natur zu radeln, sieht man einmal vom asphaltierten Weg ab, der ein leises rumpelfreies Dahingleiten und elegante Ausweichmanöver ermöglicht, wenn sich einmal Wanderer oder ganz selten Spaziergänger hierhin verirrt haben. Schreckbare Wesen, die mit unzufriedenem Gemurmel an die Seite springen, ja manchmal sogar drohend ihre Spazierstöcke erheben, auch wenn die Radfahrer sich schon vorher freundlich entschuldigt haben und die Drohung gar nicht mehr sehen können. Die Radrückspiegel sind inzwischen völlig aus der Mode gekommen, die fanden sich gerade mal an den Bonanzarädern der späten siebziger Jahre. Nebst den obligatorischen Fuchsschwänzen, die sogar das Radfahren verwegen machten. Damals waren die zehnjährigen Jungs gefühlte Rocker und träumten von Hells-Angels-Jacken oder gefährlichen Aufnähern.

Erst dann, wenn irgendjemand auf den Lärm aufmerksam macht, ein Irgendjemand, der selektiv genervt eben nur die Motoren wahrnimmt, dann wird sich die entspannt erlebte Ruhe zu einem unangenehmen Lärmteppich ausweiten. Dann werden die Radfahrer vielleicht das Weite suchen wollen, indem sie ab Haus Füchten auf die andere Ruhrseite oder in Richtung der von Feldern gesäumten Berghöhe wechseln. Nur um fast ungesehen durch die kleinen Dörfer zu fahren und letztlich doch wieder ein Gleiches festzustellen. Dem automobilen Verkehr kann man in einem Staat, der sich etwas auf eine perfekt funktionierende Infrastruktur einbildet, ein dichtes Straßennetz, unterbrochen von Schienenstrecken und viel zu seltenen Wanderwegen, nicht entkommen. Eine Infrastruktur, die wohl maßgeblich für den wirtschaftlichen Erfolg des Landes verantwortlich ist. Das soll kein Herummosern sein, aber wer es nicht schafft, den überall anwesenden Dauerlärm auszublenden, der ist hier verloren. Der wird wohl an seinem unvermeidbar zu erleidenden Tinnitus erkranken. Wer dieses Selektieren allerdings ganz aktiv angeht, der wird die wundervolle Parklandschaft Deutschlands und besonders des Sauerlandes genießen können. (An dieser Stelle, lieber C.M.-L., wirst du wahrscheinlich die Augen nach oben verdrehen und denken, nein, das muss ich auf jeder Fahrt nach Weimar hören.) Und manchmal kann man dann sogar im Frühling echte Unkenrufe vernehmen und die sind gar nicht schlimm.

Die Pflanzen in der renaturierten Flusslandschaft haben es ihnen angetan, diese wiederentstandene Vielfalt, auch wenn im Herbst das Meiste schon verblüht ist oder in einen gelblichen Absterbeprozess übergeht. Neben den vielen ihnen bekannten Kräutern, die auf diesen neu entstandenen Magerböden existieren können, werden die drei Radfahrer auf die Unmengen an Neueinwanderern der Pflanzenwelt aufmerksam. (Exkurs; Wissen für Schlaumeisen: Von den derzeit 1007 katalogisierten zu uns eingewanderten Arten (auch Neophyten genannt) sind aber wohl lediglich 30 problematisch, weil schnell ausbreitend und daher auch als invasiv bezeichnet. Jaja, das Zwischennetz kann einem so manche wertvolle Information liefern, wenn man selber keine Ahnung hat. – Glauben Sie ja nicht, lieber Leser, der Schreiber dieser Zeilen wüsste auch nur irgendetwas über das, was er hier beschreibt, selber. Nein, er hat noch nicht einmal ansatzweise ein entferntes Interesse daran. Wir wissen ja gemeinsam, dass solche Themen nur äußerst selten auch nur am Rande seiner Texte Erwähnung finden. Natur an sich oder gar die Umwelt ist für ihn ein großes Fremdes, ein Mysterium, dem er sich auch niemals öffnen würde, eben weil es fremd ist. Und was der Bauer nicht kennt, das isst er nicht. Und alles, was mit Umwelt zu tun hat – mal ehrlich, das sollte man doch besser den Ökologen, Aktivisten und der Politik überlassen.)

Großes oder drüsiges Springkraut erkennen sie, welches wunderschöne rosafarbene Blüten trägt und sehr dekorative Stiele ihr Eigen nennt. Welches allerdings auch einen unerträglich süßlichen, vor allem unangenehm aufdringlichen Duft und die Samen in die Welt schleudert. Es erscheint einem Vorbeiwanderer fast, als sei eine schöne Frau, die Pflanze, in ein Parfümfass gefallen, das die Mindesthaltbarkeit längst überschritten hat. (Angeblich kann man aus den roh leicht giftigen Blüten sogar eine köstliche Marmelade kochen, ein Rezept hierzu findet sich auf der Seite blütenmarmelade.de, die natürlich ganz anders heißt.) Dann finden sich neben diesen mädchenfarbenen Blütenteppichen immer wieder solitäre Herkulesstauden, die mancherorts auch Riesenbärenklau genannt werden, ich möchte den Leser mit dem fast unaussprechlichen lateinischen Namen (Heracleum mategazzianum oder Heracleum giganteum) verschonen, mit ihren riesigen Blättern und tellerartigen, doppeldoldigen Blüten (hier merkt man wieder einmal, dass es gut ist, wenn ausreichend Bücher vorhanden sind und vor allem jene lexikalische Seite zur Verfügung stehen, die von abertausenden Schreiberlingen in den letzten Jahren aufgebaut wurde und dazu beigetragen hat, dass Brockhaus keine Lexika mehr auf Papier druckt und damit ein kleiner Beitrag gegen die Abholzung des amerikanischen oder sonstwelchen Regenwaldes geleistet wurde. Auch wenn dort manchmal neben der vielbeschworenen und noch mehr gepriesenen Schwarmintelligenz der Eindruck von Schwarmdummheit entsteht, immer dann nämlich, wenn in den Diskussionen einige Trolle glauben, man müsse bei jeder Kleinigkeit auf festgelegte Mechanismen verweisen und bei Nichteinhaltung Einträge löschen, obwohl sie inhaltlich relevant sind. Schreiber, die wirklich daran glauben, dass einmal entstandene Regeln sich nicht weiterentwickeln können. Entschuldigen Sie bitte, ich komme mal wieder ganz vom Thema ab. Dabei sollte dieser Text laut Skizze wirklich nicht länger als zwanzig Zeilen werden. Na immerhin habe ich es bereits bis zur zehnten Zeile gebracht, er neigt sich also fest versprochen dem Ende zu.), die immer wieder Menschen mit gemeinem Gift attackieren, das photoaktiv ist. (Nein, so kann es wirklich nicht weitergehen, da werden einem die Texte durch Einfügungen auseinander gerissen, demnächst müssen Fußnoten eingefügt werden, auch dies sei fest versprochen, ich muss nur noch herausfinden, wie das mit dieser Blogtechnik möglich sein könnte. Gerade lese ich so ein Buch, bei dem die Fußnoten einen größeren Raum einnehmen, als der eigentliche Text. Dabei ist es tatsächlich beizeiten spannender nur den Metatext zu lesen, denn hier erfährt man doch mehr als erwartet. Und eines steht ja wohl fest: nur wirklich Gebildete, Universalgelehrte brauchen solche weiterführenden Unterweisungen und Verweise nicht.)

…an dieser Stelle sei die Geschichte abgebrochen, denn das eigentliche Ende hatte irgendwas mit der hübschen Ambrosia und mal wieder mit einem Reifenplatten zu tun und ich weiß einfach nicht, wie das jetzt noch mit Herrn Nipp, seinen Mitfahrern und den anderen Ausführungen zu verbinden ist, denn der hat definitiv keine Allergie gegen Pollen. (…vielleicht sollte ich die Leser dazu aufrufen, ihre eigenen Versionen zu verfassen?) Im Gegenteil, er kann sich auch an Neophyten erfreuen (er mag den dekorativen violetten oder weißen Sommerflieder mit seinen Blüten Schmetterlingen Nahrung gibt, der aber wird behördlich an der Ruhr entfernt), denn er glaubt auch nicht daran, dass die Natur sich nicht weiter entwickelt. Er liebt zum Beispiel Äpfel, Pflaumen und Birnen, die definitiv nicht einheimisch sind, sondern von den Römern eingeführt wurden, wenn auch vor 2000 Jahren, aber das ist ein ganz eigenes Thema oder wie Michael Ende schreiben würde, ein andere Geschichte, die später noch erzählt werden muss. Er glaubt an das Verdrängen von Pflanzen und Tieren, ähnlich wie er bei jenem Lexikon an neue Regeln lexikalischen Arbeitens glaubt.

 

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Ab November 2020, neues aus Möppelheim: Guppy im Gin, weitere Geschichten von Herrn Nipp. Edition Das Labor 2020. Sie können jetzt schon die Vorzugsausgabe bestellen – unter: 0173 7276421

Weiterführend → Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp. Begleitendes zur Veröffentlichung des Buches Fatale Wirkungen, von Herrn Nipp (Mit Fotos von Stephanie Neuhaus).

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.

Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421